von Vera Katzenberger

Mehr (Selbst)kontrolle dank Relotius: Die Auswirkungen des Fälschungsskandals auf den deutschen Journalismus

Vor einem Jahr hat «Der Spiegel» seinen Abschlussbericht über die Fälschungen seines frühere Reporters Claas Relotius vorgelegt. Zahlreiche Redaktionen haben seitdem Qualitäts- und Transparenz-Initiativen auf den Weg gebracht. Und auch die Fehlerkultur wurde gestärkt.

Der Skandal um die Relotius-Fälschungen im «Spiegel» war ein heilsamer Schock, wie sich im Rückblick zeigt. Seit dem Auffliegen des Hochstaplers haben viele Redaktionen strengere Regeln eingeführt und weitere Fälscher konnten überführt werden.

Die Nachricht vom ehemaligen «Spiegel»-Reporter Relotius, der über mehrere Jahre hinweg in seinen Reportagen Protagonisten frei erfunden, Handlungen gefälscht und Dialoge oder Zitate manipuliert hatte, platzte Ende 2018 mitten in die Debatten um «Fake News» und die Glaubwürdigkeit der «Mainstream-Medien». Zur Aufklärung des Betrugsfalls richtete der «Spiegel» eine Kommission ein. Ins Visier nahm sie unter anderem das Gesellschaftsressort und die Dokumentationsabteilung, deren Kontrollmechanismen offensichtlich versagt hatten.

Die Ergebnisse liegen mittlerweile seit genau einem Jahr in Form eines Abschlussberichts vor. Doch was hat sich seit dieser Bestandsaufnahme im deutschen Journalismus verändert? Immerhin hatte der Fälscher nicht nur für den «Spiegel», sondern auch für zahlreiche andere Medien geschrieben, so etwa für «Cicero», «taz», «SZ-Magazin», «Reportagen», «Weltwoche», oder «NZZ am Sonntag».

Um die Folgen der «Causa Relotius» für den Journalismus zu verstehen, lohnt es sich noch einmal einen Blick auf das tatsächliche Ausmass der Betrügereien zu werfen: Das Medienmagazin «ZAPP» wertete die Prüfberichte der verschiedenen Medienhäuser aus, für die Relotius gearbeitet hatte.

Rund die Hälfte aller untersuchten 111 Reportagen und Interviews enthielten entweder Manipulationen oder waren umfassende Fälschungen. Inwiefern Relotius bereits während seiner Ausbildung an der Hamburg Media School, beziehungsweise kurz nach seinem Abschluss, betrogen hatte, überprüfte Professor Volker Lilienthal gemeinsam mit Studierenden der Universität Hamburg. Dazu zogen sie Relotius‘ Beiträge aus der mittlerweile eingestellten «Financial Times Deutschland» heran, die noch nicht untersucht worden waren.

Das Fazit: «Schon der frühe Relotius entwickelte schädliche Neigungen, er recherchierte seine Fakten nicht immer sorgfältig, er kupferte manchmal bei anderen ab, und er hübschte seine Storys gelegentlich auf, indem er Vor-Ort-Sein suggerierte und mutmasslich auch Zudichtungen vornahm» (Volker Lilienthal, 2019).

Besonders hart ins Gericht gingen viele Journalistinnen und Journalisten mit der Stilform der Reportage: Diese sei für Fälschungen besonders anfällig.

Nicht selten wird dem Fall Relotius eine historische Dimension zugestanden und in einem Atemzug mit anderen Medienskandalen wie den gefälschten Hitler-Tagebüchern im «Stern» aus dem Jahr 1983 genannt. Die Aufarbeitung des tatsächlichen Ausmasses wird also wohl noch weiter andauern.

Seit Bekanntwerden des Skandals beschäftigen sich Praktiker und Forscherinnen mit den Ursachen des Fehlverhaltens und den Folgen für den Journalismus. So zeigte etwa eine Inhaltsanalyse der deutschen Print- und Onlineberichterstattung, worin Medienschaffende begünstigende Faktoren für Relotius‘ Manipulationen sahen (Katzenberger und Wense, 2020). Die von ihnen identifizierten Faktoren finden sich im gesamten Kommunikationsprozess: Sie betreffen sowohl das journalistische System, die Medienorganisationen als auch einzelne Individuen. Einigkeit herrschte darüber, dass Journalistenpreise systematische Fehlanreize setzen und damit einen hohen Erfolgs- und Leistungsdruck erzeugten. Zudem fehle es in vielen Medienhäusern an einer offenen Kritik- und Fehlerkultur. Die Dokumentationsprozesse vieler Häuser seien darüber hinaus nicht engmaschig genug und viel zu häufig vom Wohlwollen oder der Willkür Einzelner bestimmt. Besonders hart ins Gericht gingen viele Journalistinnen und Journalisten mit der Stilform der Reportage: Diese sei für Fälschungen besonders anfällig. Gemäss dieser Analyse gelten die Fälschungen von Relotius als kritisch und disruptiv für den gesamten Journalismus. Die Medienschaffenden gehen zudem davon aus, dass der Skandal zu verschiedensten Veränderungen führen würde. Das zeigte kürzlich auch eine andere Inhaltsanalyse der Berichterstattung über den Fall (Menke und Serong, 2020).

Tatsächlich ist seither viel in Bewegung geraten. Viele Medienhäuser haben Produktionsbedingungen und professionelle Routinen kritisch überprüft. In vielen Redaktionen wurde die Qualitätssicherung noch einmal deutlich hochgefahren. So gelten heute vielerorts strengere Belegpflichten und Kontrollen als noch vor einigen Jahren: Neben Fotografien und Tonmitschnitten der Treffen mit Protagonisten werden mittlerweile häufig sogenannte «Dok-Fassungen» angefordert, mit denen die Reporterinnen und Reporter ihre Recherchen mit Quellen und Originaldokumenten belegen müssen.

Viele Redaktionen haben zudem Transparenz-Initiativen ins Leben gerufen oder bestehende Bemühungen forciert. Sie verfolgen das Ziel, Bedingungen der Berichterstattung zu thematisieren, Quellen und deren Eigeninteressen zu diskutieren und eigene Fehler offenzulegen sowie zu korrigieren (Klaus Meier, 2014).

Formate wie «Blog.Tagesschau», «taz Hausblog» oder der «Glashaus-Blog» von «Zeit Online» dienen nicht erst seit Relotius als redaktionelle Transparenz-Plattformen. Den Rezipienten bieten sich dort Innenansichten des Journalismus, die weit über klassische Bekanntgaben «in eigener Sache» hinausreichen.

Auf Social-Media-Plattformen erklärten Journalisten unter dem Hashtag #Journarrator ihre Arbeit und liefern Hintergründe zur Entstehung eigener Stories, um verspieltes oder verlorenes Vertrauen wiederaufzubauen. Gestartet hat das Journarrator-Projekt die MDR-Redakteurin Johanna Daher: In kurzen Tweets, Instagram-Posts oder Podcast-Folgen erzählen sie und viele ihrer Kollegen seitdem von eigenen Recherchen oder zeichnen den Weg von der Idee zum fertigen Text nach.

Den Deutschen Reporterpreis darf man künftig nur noch einmal gewinnen. Relotius wurde mit Auszeichnungen regelrecht überschüttet.

Und auch ausserhalb von Medienhäusern mit ihren Redaktionen hat sich viel getan. So erlegte sich auch der Deutsche Reporterpreis neue Regeln auf. Zu den wichtigsten Änderungen gehört, dass Einreicher nun ihre Recherchen möglichst weitgehend offenlegen und die Telefonnummern ihrer wichtigsten Protagonisten angeben müssen. Wo Fragen offen bleiben, darf die Jury nun Beiträge von Dokumentaren überprüfen lassen. Und: Den Deutschen Reporterpreis darf man künftig nur noch einmal gewinnen. Relotius war mit Preisen regelrecht überschüttet worden, allein den Reporterpreis hatte er vier Mal gewonnen, zuletzt im Dezember 2018 und damit kurz vor den Enthüllungen.

Intensive Selbstkritik, mehr Qualitätssicherung und neue Transparenz-Initiativen allerorts machen deutlich: Kein Medienhaus will einen zweiten Relotius riskieren. Und doch gibt es sie: Erst im vergangenen Jahr musste RTL-Chefredakteur Michael Wulf bekanntgeben, dass ein langjähriger Mitarbeiter des Regionalsenders RTL Nord TV-Beiträge für ein Mittagsjournal manipuliert hatte.

Ähnliche Fälle wurden auch beim WDR oder Deutschlandfunk bekannt. Aufgedeckt hatten die Mängel, wie auch die Betrügereien von Relotius, Kollegen in den jeweiligen Häusern. Und das lässt doch immerhin hoffen.

Die Kommunikationswissenschaft hat auch einen gesellschaftlichen Auftrag: Den Medienwandel nicht nur zu beobachten, sondern ihre Analysen auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Dieser Artikel ist Teil einer Serie zu aktueller kommunikationswissenschaftlicher Forschung.

Leserbeiträge

ceeschow 06. Mai 2020, 15:07

Na, dann ist ja alles wieder in bester Butter dank „Fehlerkultur“ und so.

Relotiusse werden neue nachwachsen, weil einer bestimmten Weltsicht bzw. Welterziehung verpflichtete Blätter wie „Der Spiegel“, ihre Autoren geradezu dazu auffordern, nicht zu „schreiben, was ist“, sondern „wie es sein sollte“ (z.B. Middle West of USA grottendoof, rückständig, rassistisch usw.), denn das braucht die Redaktion wie der Fisch das Wasser.

Jedes Medium arrangiert sich mit dem Druck aus der Politik möglichst als handzahmes Tierchen, das in die richtige Richtung mit richtiger „Haltung“ („Sag mir, wo du stehst!“) claquiert und in die entgegengesetzte spiegelgerecht unkt.

I. Irgendeiner 07. Mai 2020, 09:11

Nebst dem Druck der Politik sollte man den Druck der Wirtschaft und anderer Interessenverbände nicht vergessen.

Und dann ganz entscheidend: Den Erfolg beim Leser, welcher entweder Klicks und/oder Knete generiert