von Sarah Kohler

Kampagne statt Kritik: Was bei «Bild» vs. Drosten schief lief

Die Kampagne der «Bild»-Zeitung gegen Christian Drosten ist keine neue Form des medialen Gelehrtenstreits. Vielmehr zeigt sie, wie Medienschaffende das wissenschaftliche System nicht verstehen (wollen) – und entsprechend die Forschungsergebnisse auch nicht angemessen vermitteln (können).

Wissenschaft ist «work in progress». Das bringt es mit sich, dass auch vorläufige Forschungsergebnisse veröffentlicht werden. Sachkundige Forscherinnen und Forscher können diese dann begutachten und bewerten. Im modernen Wissenschaftssystem werden Vorabveröffentlichungen (sogenannte Preprints) im Internet auf allgemein zugänglichen Plattformen (sogenannten Preprint-Servern) abgelegt und mit dem unmissverständlichen Hinweis versehen: «Vorsicht: Vorabdrucke sind vorläufige Arbeitsberichte, die nicht durch Peer Review geprüft wurden. Sie sollten nicht als Richtschnur für die klinische Praxis oder gesundheitsbezogenes Verhalten dienen und sollten nicht als etablierte Information in den Nachrichtenmedien veröffentlicht werden.»

Mit der Forschung zu Covid-19 ist die Zahl der Preprints massiv gestiegen: Seit Januar sind über 23’000 Artikel zu Covid-19 veröffentlicht worden. Das «Science Magazine» bezeichnete diese Entwicklung als «die grösste Explosion wissenschaftlicher Literatur».

Für diese Entwicklung gibt es vor allem zwei Gründe, die miteinander zusammenhängen: Zum einen dauert der Begutachtungsprozess durch andere wissenschaftliche Fachpersonen einige Wochen oder Monate. Zum anderen werden Erkenntnisse zu Covid-19 dringend benötigt, denn diese dienen als Grundlage für politische Entscheidungen und weitere Forschung. Vorabveröffentlichungen bieten zudem den Vorteil, dass sie sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Forschungsprozess bereits der Kritik anderer Fachleute stellen und damit die Verbesserung von Manuskripten ermöglichen.

Die «Bild»-Zeitung riss diese vereinzelten kritischen Kommentare aus dem Kontext und behauptete, die Studie sei «grob falsch».

Die «Bild»-Zeitung hat nun eine solche Vorabveröffentlichung von Christian Drosten zur Corona-Ansteckung von Kindern herausgepickt und die Kritik daran skandalisiert. Das Boulevardblatt nimmt den prominenten Virologen ins Visier, will aber vor allem Angela Merkel treffen, die auf Drosten hört.

In seiner Vorabveröffentlichung vom 29. April kam Drosten zum Schluss, dass Kinder genauso ansteckend sein könnten wie andere Altersgruppen. Statistiker monierten daraufhin die Art und Weise, wie Drosten die Zahlen ausgewertet hatte. Die «Bild»-Zeitung riss diese vereinzelten kritischen Kommentare aus dem Kontext und behauptete, die Studie sei «grob falsch» und hätte zur Schliessung von Kindergärten und Schulen geführt. Diese waren jedoch zum Zeitpunkt der Vorabveröffentlichung bereits seit Wochen geschlossen. Zudem distanzierten sich die zitierten Kritiker von der «Bild»-Kampagne und betonten, wie ihre Hinweise im Kontext zu lesen seien.

Die Kampagne der Boulevardzeitung basierte auf einer verzerrten Sichtweise auf das moderne Wissenschaftssystem. Diskussion und Kritik sind eine Notwendigkeit für die Wissenschaft. Deswegen ist Kritik an wissenschaftlichen Studien, zumal an deklarierten Vorabveröffentlichungen, nicht die Zurschaustellung eines Mangels. Sie dient vielmehr dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Die «Bild»-Zeitung stellt also einen normalen Vorgang als Problem dar, indem sie die Kritik an einem vorläufigen Befund als absolut hinstellt.

Man stelle sich vor, politische Entscheidungen würden heute auf Basis der Erkenntnisse von Anfang Januar getroffen.

Die fortwährende Arbeit an neuen Erkenntnissen, die jeweils als vorläufig gelten, ist unverzichtbar für den wissenschaftlichen Fortschritt. Sie passt aber denkbar schlecht zum Bedürfnis vieler Menschen nach Sicherheit und Eindeutigkeit in Zeiten der Unsicherheit.

Dennoch: Gerade in einer Krise wäre das Verharren auf alten Erkenntnissen problematisch und möglicherweise gefährlich. Man stelle sich vor, politische Entscheidungen würden heute auf Basis der Erkenntnisse von Anfang Januar getroffen. Damals wurde das Coronavirus noch nicht als bedrohlich für das Gesundheitssystem eingestuft.

Deswegen wäre es widersinnig, wissenschaftliche Studien aufgrund eines starken öffentlichen Drucks nicht mehr vorab zu veröffentlichen. Wissenschaft muss ihrer grundständigen Aufgabe nachkommen können, Erkenntnisse zu produzieren, zu kritisieren und neu zu bewerten. Die Rolle des Journalismus ist in diesem Kontext zentral. Es ist seine Aufgabe, den wissenschaftlichen Prozess einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und die Erkenntnisse kritisch zu beleuchten. Das ist heute nur noch beschränkt möglich. Wissenschaftsjournalismus hat in den Redaktionen einen schweren Stand und ist in den letzten Jahren vielerorts gänzlich verschwunden.

Angesichts der grossen Zahl an wissenschaftlichen Publikationen und Fachleuten zu Covid-19 fokussierten viele Medien auf ein paar wenige Studien und Personen. Entsprechend unvollständig ist das Bild, das sie von der realen Forschung zeichnen.

Wissenschaft und Journalismus müssen enger zusammenarbeiten. Nur so können beide Systeme ihre Funktionen und Leistungen in der Öffentlichkeit erbringen.

Der Journalismus muss Wissenschaft kritisieren. Dazu benötigen die Medienschaffenden aber Informationen zum Kontext von Studien und verschiedene, auch voneinander abweichende, Stimmen aus der Forschung. So wie die Wissenschaft auf den Journalismus angewiesen ist, um ihre Erkenntnisse und Ergebnisse öffentlich zu vermitteln, braucht auch der Journalismus die Wissenschaft, um diese Erkenntnisse und Ergebnisse zu verstehen. Darum müssen Wissenschaft und Journalismus enger zusammenarbeiten. Nur so können die beiden Systeme ihre Funktionen und Leistungen in der Öffentlichkeit erbringen.

Das gelingt aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss die Wissenschaft die Vorläufigkeit der Forschungsergebnisse stärker betonen, damit Medienschaffende die Aussagekraft richtig einschätzen können und wissen, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen – und welche sicher nicht. Das bedeutet: Forschende müssen offenlegen, welches die Einschränkungen einer Studie, der Methode oder der Auswertung sind. Diskutieren, inwieweit Ergebnisse übertragbar sind und für welche Bereiche sie gelten. Zum anderen müssen Vorabveröffentlichungen klar erkennbar als solche ausgewiesen werden, sowohl auf den Servern als auch in den Artikeln selbst.

Was ebenfalls hilft, sind zügige Begutachtungsverfahren. Im Fall der zahlreichen Corona-Studien in den Fachzeitschriften scheint sich dieser Prozess bereits beschleunigt zu haben, um dem dringenden Bedarf nach gesichertem Wissen nachzukommen.

Einen Brückenschlag für eine engere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Journalismus bieten die sogenannten Wissenschaftszentren. Das Science Media Center für Medienschaffende in der Schweiz, Österreich und Deutschland bietet beispielsweise Einschätzungen zu Studienergebnissen und untermauert diese mit Statements von anderen Forschenden. Das funktioniert aber nur, wenn auf der anderen Seite Journalistinnen und Journalisten arbeiten, die ein Verständnis für die Grundbegriffe von Wissenschaft und Forschung haben – was leider nicht auf alle zutrifft, die über Wissenschaft und Forschung berichten.

Update: In einer ersten Fassung stand geschrieben: «In seiner Vorabveröffentlichung vom 29. April kam Drosten zum Schluss, dass Kinder genauso ansteckend sein können wie andere Altersgruppen.» Das stimmt nicht. Korrekt muss es heissen: «…genauso ansteckend sein könnten wie andere Altersgruppen.» Im Original: «Children may be as infectious as adults…»

Die Kommunikationswissenschaft hat auch einen gesellschaftlichen Auftrag: Den Medienwandel nicht nur zu beobachten, sondern ihre Analysen auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Dieser Artikel ist Teil einer Serie zu aktueller kommunikationswissenschaftlicher Forschung.

Leserbeiträge

con2art 05. Juni 2020, 12:00

Der typische „journalistische Artikel, welcher jede Verantwortung von sich schiebt. Was Wissenschaft alles so muss, damit selbsternannte Journalisten ja nicht ihre Arbeitsweisen ändern müssen.

Recherchieren was PrePrint bedeutet? Sollen die Wissenschaftler eben drüber schreiben, dass es nur vorläufig ist. Studien lesen? Viel zu aufwendig, bitte eine Zusammenfassung was da jetzt drin steht. Ach ja, Begutachtung bitte schneller. Die Artikelschreiber werden dadurch gemachte Fehler gerne in der Luft zerreissen. Und so weiter…

Was werden denn die Artikelschreiber machen (Zum Beispiel der, welcher diesen Artikel hier geschrieben)? Vielleicht nicht mehr die BILD in Schutz nehmen, sondern klar benennen, dass das absolute Hetze mit politischer Gesinnung war? Vielleicht öfters darauf hinweisen, dass Wissenschaft Zeit braucht, falls man daran nicht sterben möchte? Dass diese PrePrints gar nicht für aktuelle Berichterstattung geeignet sind?

Nein, natürlich nicht. Dann wären das ja Journalisten. Also Menschen mit Verantwortung an der Gesellschaft. Und die gibt es heute nicht mehr.

Übrigens, einen solchen arroganten „Wir-machen-alle-richtig-die-Wissenschaft-muss-sich-unserer-Veröffentlichungspolitik-anpassen“-Artikel gab es letztes Jahr auch schon. Nachdem die Zeitungen Professor Köhler hochgeschrieben hatten, statt nur eine Gegenmeinung abzuwarten. Keine drei Tage später „Ja, ich habe mich verrechnet.“

Da hieß es auch schon: Ja, Wissenschaft muss schneller werden. Wir wollen Klicks machen. Es war sogar (laut eigener Aussage) ein Mitglied der Medienwoche, mit dem ich in einem Blog darüber diskutiert habe. Besser gesagt mir an den Kopf gefasst, wie man so arrogant sein kann, dass man nicht merkt, wie gesellschaftsschädigend man ist.

Korh35 07. Juni 2020, 10:34

Die Aussage der Preprint-Studie ist, dass Kinder genauso ansteckend sein könnten, nicht können – in deutlicher Unterschied in der Aussage  („ Children may be as infectious as adults).

Nick Lüthi 07. Juni 2020, 22:13

Besten Dank für den wichtigen Hinweis. Wir haben den Text an der entsprechenden Stelle korrigiert und unter dem Artikel auf die Anpassung hingewiesen.