Alles automatisch: über die Tücken eines Journalismus ohne Menschen
Algorithmen schreiben nicht nur Nachrichten, sondern wählen diese vermehrt auch aus. So entliess Microsoft unlängst seine MSN-Redaktion und lässt das News-Portal automatisch bespielen. Doch Menschen und Computer setzen bei der Selektion von Nachrichten ganz unterschiedliche Prioritäten. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung von Apple News.
Mit 840 Millionen Seitenaufrufen im Monat ist die Nachrichtenplattform msn.com von Microsoft eine der meistbesuchten Nachrichtenseiten der Welt. Nachrichten, Videos, Unterhaltung, Sport, Gesundheit – der Nutzer findet dort einen bunten Strauss an Themen.
Doch im Juni hat sich etwas Grundlegendes geändert, das aber kaum jemand bemerkt haben dürfte, der msn.com nutzt: Es sind nicht mehr Menschen, welche die Nachrichten auswählen und auf der Seite platzieren. Die Arbeit der Redaktion erfolgt nun algorithmisch und automatisiert. 27 Journalisten, die für msn.com arbeiteten, hat Microsoft entlassen.
Damit folgt Microsoft dem Vorbild Google News. Der beliebte Nachrichten-Aggregator war von Anfang an automatisiert und beschäftigte nie eine Redaktion. Allerdings evaluieren 10’000 Personen, sogenannte «Rater», auf der ganzen Welt die Ergebnisse des Ranking-Algorithmus.
Der Algorithmus macht bei msn.com in Zukunft das, was ein Journalist im Newsroom tut: Er wählt aus einer Flut von Informationen diejenigen Nachrichten aus, die relevant sind – und entscheidet damit, was wichtig ist. Doch nach welchen Kriterien selektieren die Algorithmen Nachrichten? Welche Quellen werden berücksichtigt? Was wird ins Schaufenster gestellt? Auf eine Anfrage der MEDIENWOCHE wollte Microsoft nicht antworten.
Der Einsatz von intelligenter Software im Redaktionsalltag birgt Risiken.
Schaut man sich auf msn.com um, sieht man dort aggregierte Artikel aus den verschiedensten Quellen – von ABC News über CNN bis hin zu USA Today. Auch einige Regionalzeitungen wie der «Houston Chronicle» oder «Kansas City Star» sind der Nachrichtenlese vertreten.
Auffällig: Artikel des rechtskonservativen Senders Fox News sind deutlich unterrepräsentiert. Der Schweizer Ableger wird überwiegend mit Zeitungsberichten (NZZ, Tages-Anzeiger, Bilanz) und Agenturmaterial (Keystone-SDA) bespielt. Die Nachfrage, ob auch dieses Nachrichtentableau automatisiert erstellt wird, liess Microsoft ebenfalls unbeantwortet.
In den letzten Jahren wurde viel über den sogenannten «Roboterjournalismus» diskutiert. Damit ist vor allem die automatisierte Textproduktion gemeint: Algorithmen bauen strukturierte Daten zu einem logisch kohärenten Text zusammen. Zahlreiche Nachrichtenagenturen und Redaktionen greifen mittlerweile auf Computerprogramme zurück, die automatisiert standardisierte Finanz-, Sport- oder Wetterberichte generieren.
Doch Computer schreiben nicht nur Artikel, sondern wählen auch aus. Wenn bei msn.com ein Algorithmus einen automatisiert erstellten Finanzbericht auswählt und auf die Seite stellt, ist quasi die gesamte journalistische Verwertungskette automatisiert. So mancher Verleger mag da mit den Ohren schlackern, weil sich dadurch beträchtliche Kosten einsparen lassen. Doch der Einsatz von intelligenter Software im Redaktionsalltag birgt Risiken.
Kaum hatten bei msn.com die Algorithmen übernommen, unterlief ihnen auch schon der erste Fehler: Sie verwechselten die Sängerin der Popgruppe «Little Mix», Jade Thirlwall, mit ihrer Bandkollegin Leigh-Anne Pinnock. Die Sängerin, die unter anderem jemenitische Wurzeln hat, erhob daraufhin schwere Vorwürfe gegen Microsoft: «Es beleidigt mich, dass ihr in einer Gruppe mit vier Mitgliedern die zwei Women of Color nicht auseinanderhalten könnt. Macht es besser.»
Gewiss, auch Menschen unterlaufen solche Fehler. Doch es ist bekannt, dass Algorithmen bei der Erkennung afroamerikanischer Gesichter, beziehungsweise von People of Color, eine extrem hohe Fehlerrate aufweisen.
«Doch jetzt, in einer Zeit, in der man Kontext am meisten braucht, übergibt MSN den Stab von Redaktoren an Ingenieure.»
Bryan Joiner, ehemaliger MSN-Redaktor
Der Journalist Bryan Joiner, der bis zu seiner Entlassung bei msn.com Finanzmeldungen auswählte, schrieb in einem Artikel für das Magazin «Vice»: «MSN ist nie in die Bredouille wegen einer verpatzten Überschrift oder Story gekommen, was ein kleines Wunder, aber zumindest das Ziel war. Doch jetzt, in einer Zeit, in der man Kontext am meisten braucht, übergibt MSN den Stab von Redaktoren an Ingenieure.» Für die Zukunft des Journalismus verheisse das nichts Gutes, so Joiner.
Die Sorgen sind nicht ganz unbegründet. Denn wenn Programmierern Fehler unterlaufen, sind die Folgen meist systemisch. So haben Instagrams Algorithmen kürzlich wegen eines Bugs systematisch negative Hashtags über Trump blockiert – und damit unfreiwillig Wahlkampfhilfe für die Republikaner geleistet.
Immer wieder haben Algorithmen in der Vergangenheit auch Falschmeldungen gepusht. So hat Quakebot, ein «Roboterjournalist» der LA Times, eine veraltete Meldung über ein Erdbeben aus dem Jahr 1926 generiert, weil Wissenschaftlern des California Institute of Technology beim Versuch, historische Erdbebendaten zu aktualisieren, ein Fehler unterlaufen war. Zwar hat die Zeitung die Meldung nach wenigen Minuten gelöscht. Trotzdem wurden auf Twitter Vorwürfe laut, der Bot würde Fake-News produzieren.
Es war nicht der einzige Fall: Nachdem Facebook im August 2016, in der Hochphase des US-Präsidentschaftswahlkampfs, die gesamte Redaktion des Trending-Topics-Teams rauswarf und durch Computer ersetzte, haben die Maschinen 72 Stunden später Fake News in das Modul eingespeist. Was auch zeigt, dass Algorithmen mit der Kuratierung von Nachrichten häufig überfordert sind.
Die Forscher fanden heraus, dass Algorithmen verstärkt auf «Soft News» setzen.
Die US-Journalismusforscher Jack Bandy und Nicholas Diakopoulos zeigen in einer aktuellen Untersuchung am Beispiel von Apple News auf, dass Menschen und Computer bei der Selektion von Nachrichten ganz unterschiedliche Prioritäten setzen. Apple News eignet sich als Untersuchungsgegenstand, weil die «Trending Stories» algorithmisch und die Top Stories von Menschen kuratiert werden.
Die Analyse ergab, dass menschliche Redakteure deutlich mehr Quellen auswählen. So gab es bei den algorithmisch kuratierten News eine starke Medienkonzentration zugunsten CNN und Fox News , bei den von Menschen ausgewählten Quellen dagegen eine grössere Vielfalt und Ausgewogenheit. Zeitungen wie die «New York Times» und «USA Today» waren mit rund fünf Prozent in der Presseschau fast gleich vertreten. Zudem fanden die Forscher heraus, dass Algorithmen verstärkt auf «Soft News» setzen.
So war in den maschinell selektierten Trending Stories Donald Trump überdurchschnittlich häufig vertreten, gefolgt von «Celebrities» wie Kate Middleton, Justin Bieber und Kim Kardashian. Dagegen waren bei den von der Redaktion ausgewählten Nachrichten vor allem Themen wie «Masernfälle» oder «bezahlbares Gesundheitswesen» vorherrschend. Natürlich liegt die Priorisierung von «weichen» Themen nicht an einer spezifischen algorithmischen Vorliebe, sondern an den Handlungsanweisungen für den Computer. Die Softwareentwickler haben den Algorithmus vermutlich so programmiert, dass er vor allem Artikel selektiert, die Klicks und Likes erzeugen.
Algorithmen können die Wahrnehmung verzerren und Randthemen hochjazzen – und so die Struktur des Journalismus insgesamt verändern.
Der frühere FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher berichtete im Rahmen seiner Tübinger Mediendozentur (die Rede ist in dem Sammelband «Die Idee des Mediums» abgedruckt) von einer Anekdote des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt, der eines Tages zu einem Programmierer ging und von ihm wissen wollte, ob der Google-News-Roboter politische Präferenzen habe. Darauf der Entwickler: «Ja, ich gestehe, er liebt Hockey, weil ich ihn so programmiert habe.» – «Wenn man drei Wochen durch Google News surfte», referierte Schirrmacher, «hatte man das Gefühl, Hockey sei der wichtigste Sport der Welt, in allen Ländern.» Gewiss, es sind «nur» Sportmeldungen. Doch Algorithmen können die Wahrnehmung verzerren und Randthemen hochjazzen – und so die Struktur des Journalismus insgesamt verändern.
Wenn es wirklich ein Strukturmerkmal algorithmischer Auswahl ist, eher weiche Themen zu selektieren, könnte es für Medienunternehmen grössere Anreize geben, solche Inhalte zu produzieren, um eine entsprechende Reichweite zu erzielen. Die Algorithmisierung der Nachrichtendistribution könnte also langfristig auch zu einer Boulevardisierung führen. Gut möglich also, dass man in Zukunft auf msn.com häufiger News über Stars und Sternchen lesen wird. Ob ein rein algorithmisch kuratierter Newsfeed allerdings die Zukunft des Journalismus ist, darf bezweifelt werden. Denn wo es an Redakteuren fehlt, fehlt es auch einer Kontrollinstanz, was Eingang in die Nachrichtenselektion findet.
Andreas Mühlbauer 03. September 2020, 23:26
Das funktioniert ja bereits auf Empfängerseite nicht – Stichwort Filterblase. Ich frage mich wie man aufgrund dessen überhaupt nur daran denken kann Journalisten durch Computer zu ersetzen…