von Miriam Suter

«Wenn ich dich Steine werfen sehe, kannst du das hier alleine machen»

Wie berichtet man angemessen aus einem Krisengebiet mitten in einer Revolution? Die beiden Zürcher Videojournalisten Alex Spoerndli und Sven Paulin waren in den letzten Wochen im Libanon unterwegs. Im Interview mit der MEDIENWOCHE sprechen sie über die Grenze zwischen Aktivismus und Journalismus, sowie über Strategien gegen den Versuch, instrumentalisiert zu werden als Medienschaffende.

Alex Spoerndli, 26, und Sven Paulin, 25, sind zwei befreundete freie Videojournalisten aus Zürich. Genau zwei Wochen nach der Explosion in Beiruts lebendigstem Viertel im Hafen der Stadt kamen die beiden an, insgesamt blieben sie drei Wochen..Zum Zeitpunkt unseres Interviews waren sie zweieinhalb Wochen dort.

Die beiden sitzen auf einem Sofa in der Wohnung eines Freundes von Alex in der libanesischen Hauptstadt, zwischen uns Skype auf dem Bildschirm, im Hintergrund immer wieder Polizeisirenen. Beide arbeiteten zuvor beim «Izzy Magazine» aus dem Hause Ringier, danach machten sie sich als Videoproduzenten selbstständig. Alex studierte an der Abteilung Cast/Audiovisual Media an der ZHdK. Seinen Kollegen Sven beschreibt er als «Self-tought-Genius und Wunderkind».

MEDIENWOCHE:

Wann habt ihr euch entschieden, nach Beirut zu gehen?

Alex Spoerndli:

Ich habe 2017 hier ein Austauschsemester gemacht, der Libanon und Beirut im Speziellen waren seither immer wieder ein Thema für mich. Dann fing im Oktober die Revolution an, damals war ich aber noch nicht sicher, ob ich gehen soll. Nach der Explosion, welche die Unfähigkeit der Regierung definitiv offengelegt hat, war für mich aber klar, dass ich die Revolution unterstützen möchte – mit dem, was ich am besten kann. Dann habe ich mir Sven geschnappt und gefragt, ob er mitkommen und sich das antun möchte.

MEDIENWOCHE:

Was meinst du mit «die Revolution unterstützen»?

Alex Spoerndli:

Ich war nach der Explosion sehr wütend und wusste aber, es gibt diese revolutionäre Bewegung. Am Anfang ging ich sehr aktivistisch an unser Vorhaben heran, das hat sich aber ziemlich schnell eher in Richtung Journalismus gewandelt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir vor unserer Abreise eine Sitzung hatten mit der NZZ-Redaktion, allerdings zu einem anderen Thema. Die haben uns dann gefragt, ob wir etwas für sie aus Beirut liefern können. Wir sind jetzt also nicht als Aktivisten hier, sondern mache eine kritische Berichterstattung.

Sven Paulin:

Für mich war es von Anfang an ein journalistisches Ding, ich habe Alex gleich zu Beginn gesagt: Wenn ich dich Steine werfen sehe, kannst du das hier alleine machen. Mir war immer wichtig, die Revolution kritisch zu hinterfragen. Das war dann aber gar nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe.

MEDIENWOCHE:

Warum?

Sven Paulin:

Ich habe mich zu Beginn ziemlich einlullen lassen davon, was mir die Aktivistinnen und Aktivisten hier erzählt haben. Klar, das klingt alles verdammt gut, was sie planen und was sie über sich selber sagen. Bis du da mal durchblickst, dauert es ein Weilchen. Dann merkst du: Die widersprechen sich untereinander ganz schön oft und nicht alles, was sie dir erzählen, ergibt wirklich Sinn. Natürlich geht es grundsätzlich um «gut» gegen «böse», das Volk gegen die Regierung. Aber das ist eine so vielschichtige Diskussionen, da gehts noch um so vieles mehr, um Klasse, um eigene Interessen und so weiter. Da mussten wir uns zuerst einen Überblick verschaffen.

MEDIENWOCHE:

Wie ist euch das gelungen?

Alex Spoerndli:

Vor allem an den vier, fünf Tagen nach unserer Ankunft haben wir uns mit denjenigen Aktivisten getroffen, die wir über Social Media und meine persönlichen Beziehungen gefunden haben. Also quasi die mit der lautesten Stimme. Es war überraschend einfach, an die entsprechenden Drahtzieher heranzukommen – die meisten wollten sofort mit uns sprechen. Die Treffen glichen aber jeweils einer PR-Veranstaltung: Jeder will dich auf seine Seite ziehen.

Sven Paulin:

Jeder versucht eigentlich, dich für sein eigenes Anliegen zu instrumentalisieren. Wir haben gemerkt, dass wir diesbezüglich eine dicke Haut aufbauen mussten und irgendwann bei bestimmten Stichwörtern automatisch die Kamera ausgeschaltet haben.

MEDIENWOCHE:

Welche verschiedenen Gruppierungen sind eigentlich Teil dieser Revolution?

Alex Spoerndli:

Ich glaube, die Revolution wirkt von aussen um einiges organisierter, als sie im Endeffekt wirklich ist. Es gibt gut 20 Gruppierungen, welche die Opposition zur Regierung bilden.

Sven Paulin:

Vor allem seit der Explosion fliesst das humanitäre und das revolutionäre Treiben ziemlich stark ineinander über. Viele Aktivisten sind «on the ground», helfen beim Wiederaufbau. Und am Abend gehen sie auf die Strasse.

Alex Spoerndli:

Die verschiedenen Gruppen sind untereinander überraschend schlecht abgesprochen. Erst letzte Woche waren sie an dem Punkt, dass sie ein gemeinsames Manifest geschrieben und ihre politischen Ziele miteinander definiert haben, die an einer Pressekonferenz vorgestellt wurden. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Revolution bisher führerlos ist, aber es gibt ein paar starke Stimmen, die herausstechen. Eigentlich noch lustig, das funktioniert hier ähnlich wie bei den Influencern.

MEDIENWOCHE:

Inwiefern?

Alex Spoerndli:

Auch in der Revolution heisst es: Follower equal Power. Wir haben uns daher an diese stimmführenden Menschen gehalten, die das von sich selber zwar nicht behaupten würden, aber von allen anderen so wahrgenommen werden.

MEDIENWOCHE:

Mit wem habt ihr bisher gesprochen?

Alex Spoerndli:

Wir waren vor allem in den Basecamps unterwegs und haben mit Leuten von der Organisation «Minteshreen» gesprochen. Der Name bedeutet auch «verteilt» auf arabisch: Die Revolution will die Macht unabhängig der Religionen aufteilen. Das bestehende System bindet Macht an Religion und ist somit sektiererisch. Das ist einer der wenigen gemeinsamen Nenner aller Oppositionsparteien.

MEDIENWOCHE:

Wie nehmt ihr die Stimmung dieser Partei wahr?

Sven Paulin:

Das war interessant, einer der Anführer, Samer El Khoury, wirkte auf uns zuerst sehr friedlich, fast schon in Richtung Ghandi, ein klassischer Friedenskämpfer. Aber auch er sprach im Laufe unserer Recherche irgendwann davon, dass bei der Regierung Köpfe rollen müssen. Er war Anfang September einer derjenigen, der die Gewalt auf der Strasse angestachelt hat und massgeblich dafür mitverantwortlich war, dass die Situation derart eskalierte. Wir wissen, dass er parteiintern dafür gerügt wurde – aber anscheinend brannte bei ihm da eine Sicherung durch.

MEDIENWOCHE:

Neben dem Auftrag für die NZZ, was geschieht mit eurem Filmmaterial?

Alex Spoerndli:

Aktuell planen wir, daraus einen Dokumentarfilm zu machen. Wir lassen uns mehrheitlich treiben vom Geschehen auf der Strasse und halten die Kamera auf alles drauf, was uns interessiert, sprechen mit so vielen verschiedenen Leuten wie möglich.

Sven Paulin:

Dazu gehört auch, an den Fassaden der Menschen zu kratzen. Das kommt nicht immer gut an, im Gegenteil. Samer El Khoury ist zum Beispiel so ein Fall. Der spricht total gern mit uns, so lange er seine politische Agenda bewerben kann. Aber wenn wir ihn damit konfrontieren, dass sein friedliches Image irgendwie nicht mit seinem Verhalten zusammen passt, fühlt er sich angegriffen. Wir haben uns da schon ein paarmal gefragt, ob sich die Leute hier bewusst sind, was unser Job als Journalisten ist.

MEDIENWOCHE:

Ihr habt ja auf Instagram fast täglich live berichtet. Warum?

Sven Paulin:

Das war vor allem am Anfang ein guter Kanal, um den eigenen Kopf zu leeren. Ich glaube, man sieht anhand unserer Instagram-Stories auch ganz gut, wo wir jeweils standen: Alex hat zu Beginn viel emotionaler beschrieben als ich. Er war noch eher auf der aktivistischen Seite, während ich mich bemüht habe, möglichst neutral zu berichten. Aber ganz ehrlich, das war bei uns beiden von Tag zu Tag unterschiedlich. Es gab Zeiten, in denen wir uns sicher waren, dass wir gecheckt haben, wie die Revolution funktioniert, wer die «Guten» sind und wer nicht. Und einen Tag später haben wir etwas Neues erfahren, das alles über den Haufen geworfen hat. Ich glaube, wir sind hier beide auch intellektuell sehr gewachsen.

MEDIENWOCHE:

Man liest immer wieder, die Revolution sei weiblich geprägt, wie seht ihr das?

Sven Paulin:

Auf jeden Fall. Wir sind auch in Kontakt mit Aktivistinnen, die früher mal Teil einer Oppositionspartei waren, aber jetzt die Schnauze voll haben. Du merkst patriarchale Prägungen auch hier: Das sind alles testosterongeladene Dudes, die ihre Fassade hochhalten müssen, und sobald du eine kleine Schwäche implizierst, ist es vorbei. Einer hatte beispielsweise total Mühe damit, von seiner Angst zu erzählen, unter seinem Auto nach Bomben zu suchen. Das bedeutet für ihn einen Angriff auf seine Männlichkeit. Interessanterweise wird dieses Männlichkeitsbild aber auch genutzt.

MEDIENWOCHE:

Inwiefern?

Sven Paulin:

Den Frauen wird gesagt, sie sollen während den Auseinandersetzungen auf der Strasse möglichst zuvorderst mitlaufen. Weil die Polizei hier auch mehrheitlich aus Männern besteht und mit dem Bild aufgewachsen sind, dass man eine Frau beschützen muss und nicht angreifen darf. Die Hemmschwelle, eine Frau zu verprügeln, ist viel höher als bei einem Mann. Diese Behandlung stinkt den Frauen hier extrem, dass sie quasi als Schutzschild eingesetzt werden.

Alex Spoerndli:

Man muss betonen, dass die wirkliche Arbeit dieser Revolution nicht von den Anführern gemacht wird – sondern von Frauen. Gerade bei «Minteshreen» gibt es eine Gruppe extrem starker Frauen, die eigentlich die Fäden ziehen. Es war im Übrigen auch eine Frau, die mitten in der Nacht einen Kran organisierte, um jemanden zu bergen, der einen Monat nach der Explosion in den Trümmern eventuell überlebte. Gegen aussen präsentieren sich aber die Männer als Führer dieser Revolution. Es ist immer das gleiche, das mag nicht mal eine Revolution aufbrechen! Spannenderweise scheinen genau die Männer, die sich nach aussen als stark präsentieren, Angst zu haben vor diesen Frauen. Wir wurden auch mehrmals vor ihnen gewarnt, weil die halt kein Blatt vor den Mund nehmen – obwohl das für uns beide natürlich ganz normal ist.

MEDIENWOCHE:

Wie schätzt ihr die Zukunft der Revolution ein?

Alex Spoerndli:

Für uns ist klar, dass sie so, wie sie aktuell ist, nicht funktioniert. Es braucht mehr Struktur, einen besseren Plan. Die Verantwortlichen müssen sich die Frage stellen, wie es nach den Revolten weitergehen soll: Es braucht Leute, die politische Ämter übernehmen wollen und die integer sind. Zum anderen braucht es die Mehrheit der Bevölkerung, die hinter der Revolution steht. Das ist noch unklar. Das wollen wir auch in unserem Film thematisieren, hier sind wir wieder bei der feinen Linie zwischen Aktivismus und Journalismus: Natürlich wollen wir, dass unsere Arbeit einen Einfluss hat. Wir haben für uns eine gute Balance gefunden – ich glaube, was wir machen, nennt man «Impact Journalism» und mit dieser Position fühlen wir uns ziemlich wohl.