Ost-West-Streit um öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland
Der Streit um zusätzliche 86 Cent pro Monat und Haushalt für ARD, ZDF und Deutschlandradio hat sich längst zur Grundsatzdebatte ausgewachsen. Der Konflikt zeigt auch: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die Spaltung zwischen Ost und West noch immer nicht überwunden.
Vor wenigen Tagen veröffentlichte die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission «30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit» ihren Abschlussbericht. Über weite Strecken liest sich der Bericht wie eine dröge Programmschrift, doch an manchen Stellen fördert er interessante Erkenntnisse zutage. Beispielsweise die Einstellungen der Bürger zur Politik oder deren Vertrauen in die Institutionen. So stimmen in einer repräsentativen Erhebung über 60 Prozent der Befragten im Osten dem Satz zu: «Ostdeutsche werden häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt.» Im Westen liegt die Zustimmung unter 40 Prozent. Auch das Vertrauen in Institutionen variiert – es ist im Osten durchgängig niedriger. Während im Westen knapp 60 Prozent den öffentlich-rechtlichen Medien vertrauen, ist es im Osten nur jeder Zweite.
Angesichts dieses Misstrauens verwundert es, dass das Thema Medien in dem 224 Seiten langen Bericht kaum eine Rolle spielt. Nur unter dem Punkt «Sichtbarkeit Ostdeutschlands erhöhen» heisst es: «Die Kommission fordert die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Medienanstalten in Deutschland auf, die Berichterstattung aus den neuen Ländern in ihren vielschichtigen Programmen besser sichtbar werden zu lassen sowie sich selbst zu verpflichten, innerhalb der kommenden Jahre eine deutlich höhere Zahl von Führungskräften mit ostdeutscher Biografie heranzuziehen – solange, bis ihr Anteil dem Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen in der Bundesrepublik entspricht.»
Man muss diesen Bericht im Hinterkopf haben, wenn man sich den Rundfunkstreit in Sachsen-Anhalt anschaut: Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hatte im Juni den Rundfunk-Staatsvertrag unterschrieben, der eine Anhebung der Gebühren um 86 Cent auf 18,36 Euro pro Haushalt und Monat vorsieht. Danach zog er den Gesetzentwurf im Landtag zusammen mit seinen Koalitionspartnern, der SPD und den Grünen, zurück. Zuvor entliess Haseloff seinen Innenminister und Parteikollegen Holger Stahlknecht, nachdem dieser in einem Interview offen mit dem Koalitionsbruch gedroht hatte.
Beitragserhöhung vor Bundesverfassungsgericht
In Deutschland kalkuliert die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) nach den Grundsätzen von «Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit» den Finanzierungsbedarf der Landesrundfunkanstalten. Aufgrund ihrer Berechnungen gibt die KEF eine Empfehlung ab, auf deren Grundlage die Ministerpräsidenten der Bundesländer die Gebührenhöhe in einem Staatsvertrag festsetzen. Dieser muss von allen 16 Länderparlamenten angenommen werden.
Weil die CDU-geführte Regierung in Sachsen-Anhalt das Gesetz auf Drängen der eigenen Fraktion erst gar nicht in den Landtag einbrachte, liegt der gesamte Vertrag auf Eis – und damit auch die geplante Erhöhung. Dagegen haben ARD, ZDF und Deutschlandfunk nun vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage eingereicht. Denn wenn die Gebührenerhöhung nicht kommt, fehlen den Sendern im kommenden Jahr 400 Millionen Euro. Vor allem für die kleineren Rundfunkhäuser wie den Saarländischen Rundfunk (SR) oder Radio Bremen, die vom ARD-internen Finanzausgleich abhängig sind, ist das ein Problem. Ihnen droht im schlimmsten Fall die Pleite. Der Ball liegt jetzt im Spielfeld der Justiz.
Es geht bei dem Streit nicht um die 86 Cent, sondern um die medienpolitische Frage, wie Macht und Einfluss im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteilt sind. Wer bekommt welche Mittel? Wer welche Posten? Wer bestimmt das Programm?
Die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt kritisiert immer wieder, dass der Osten in den öffentlich-rechtlichen Sendern unterrepräsentiert sei. Das Leben der Menschen würde zu wenig abgebildet, die Rundfunkanstalten berichteten «gelegentlich nicht auf Augenhöhe, sondern mit dem erhobenen Zeigefinger der Moralisierung», so auch der Vorwurf Stahlknechts. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gebe es von den 50 sogenannte Gemeinschaftseinrichtungen der ARD – gemeinsamen Angeboten der Landesrundfunkanstalten –, mit dem Kinderkanal KiKa lediglich eine im Osten. «Wann findet Sachsen-Anhalt mal in der ARD statt? Wenn irgendein Mob etwas anzündet. Ansonsten?», empörte sich der CDU-Landtagsabgeordnete Frank Scheurell in der «Zeit». Das traf einen Nerv.
Weiter Öl ins Feuer goss Nikolaus Blome, RTL-Politikchef und Provokateur vom Dienst, der auf Twitter schrieb: «Könnte es sein, dass es zum ganzen Gebühren-Stress in #SachsenAnhalt gar nicht gekommen wäre, wenn die ARD ein paar Mal die ‹Goldene Henne› im Hauptprogramm gezeigt hätte? So als eine Art Reverenzerweis an Ostdeutschland? #86cent.» Bei der «Goldenen Henne» handelt es sich um einen ostdeutschen Publikumspreis.
Doch hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ein grundsätzliches Repräsentationsproblem im Osten?
Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Leonard Dobusch, der an der Universität Innsbruck unter anderem zum Management digitaler Gemeinschaften forscht und im ZDF-Fernsehrat sitzt, widerspricht dieser These. Für ihn besteht das Problem nicht in der tatsächlichen oder vermeintlichen Unterrepräsentiertheit des Ostens, «sondern in der fehlenden Berücksichtigung anderer sozio-ökonomischer Spaltungen, jene zwischen Arm und Reich, zwischen prosperierenden und abgehängten Regionen», wie er auf Anfrage der MEDIENWOCHE mitteilt. «Ich würde deshalb eher die umgekehrte These aufstellen: Probleme wachsender sozio-ökonomischer Ungleichheit sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterrepräsentiert und werden bisweilen sogar dadurch verschleiert, weil sie oft primär als Ost-West-Gegensatz dargestellt werden.»
Dementsprechend würde eine bessere Sichtbarkeit des Ostens wenig dabei helfen, die Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Osten zu steigern. Entscheidend für das Institutionenvertrauen sei, «ob Menschen für sich und ihr Umfeld positive Zukunftserwartungen haben». Im Zuge des digitalen Medienwandels gäbe es die Chance, «mit Förderung dezentral-lokaler, gemeinnütziger Medieninnovation strukturschwachen Regionen überhaupt wieder öffentliche Räume für kollektive Identitätsfindung und wechselseitige Sichtbarkeit zu eröffnen». Ein erster Schritt wäre deshalb nach Meinung von Dobusch, öffentlich-rechtliche Plattformen stärker für regionale Nutzerbeiträge zu öffnen – von Institutionen bis hin zu Einzelpersonen.
«Natürlich ist mit so einer Öffnung ein grosser Moderationsaufwand verbunden. Man braucht dafür neue Formate und auch neue (Software-)Infrastruktur», räumt Dobusch ein. «Aber derzeit spielt sich dieser regionale öffentliche Diskurs ausschliesslich auf kommerziellen Plattformen wie Facebook, YouTube und Telegram ab.» Der Ökonom fordert daher eine «staatsferne, öffentlich-rechtliche Alternative» – nicht als Ersatz für die kommerziellen Plattformen, aber als Ergänzung.
Die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird umso wichtiger mit Blick auf die privaten Medien, die in einer schweren Krise stecken, insbesondere die Zeitungen.
Der einstige Zeitschriftenverlag Bauer, dem bereits die Magdeburger Tageszeitung «Volksstimme» gehört, hat in diesem Jahr auch die «Mitteldeutsche Zeitung» von DuMont übernommen. Seitdem geht die Angst um, dass beide Redaktionen zusammengelegt werden könnten. Die Medienkonzentration wird in jedem Fall zunehmen. Nicht besser sieht es in Thüringen aus: In der Funke Mediengruppe gab es Überlegungen, die gedruckte Ausgabe der Regionalblätter «Thüringer Allgemeine», «Ostthüringer Zeitung» und «Thüringische Landeszeitung» ganz einzustellen. Ob die von der Bundesregierung zugesagten Fördergelder für Zeitungsverlage im Umfang von 200 Millionen Euro dabei helfen werden, die Zustellprobleme im ländlichen Raum zu beheben, ist fraglich.
Wie in den USA drohen insbesondere in Ostdeutschland Zeitungswüsten zu entstehen. In die Bresche springen Plattformen wie Facebook, das seit einer Änderung des Newsfeed-Algorithmus lokale Nachrichten priorisiert. Dass der Tech-Gigant nicht primär an sachlichen Diskursen interessiert ist, sondern an Werbeeinnahmen, die durch eine Polarisierung der Gesellschaft mutmasslich noch stärker fliessen, ist offenkundig. Umso wichtiger ist es, dass Lokalthemen aus den Ost-Bundesländern angemessen in den öffentlich-rechtlichen Medien vorkommen.
Der Politikwissenschaftler Steven Schäller, der an der TU Dresden unter anderem zu Pegida und dem Rundfunksystem forscht, bemängelt, dass in der Berichterstattung, aber auch in fiktionalen Sendeformaten die differenzierten ostdeutschen Erfahrungen kaum widergespiegelt werden: «Wenn die kulturellen, historischen und biographischen Prägungen ostdeutscher Lebenswelten Eingang in die mediale Berichterstattung finden, dann zu häufig aus einer westdeutschen Perspektive», teilt er auf Anfrage der MEDIENWOCHE mit.
Die Berichterstattung über «den Osten» sei für viele Ostdeutsche eine Berichterstattung über «das Andere», über «das Abweichende von einer faktisch längst vergangenen altbundesrepublikanischen Norm», die ihrerseits als Selbstverständlichkeit gesetzt werde. Der Osten werde häufig zum «Sündenbock für gesamtdeutsche Problemlagen» wie etwa den Rechtsextremismus gemacht.
Hinzu kommt ein institutionelles Problem: In den Führungsetagen von ARD und ZDF zeige sich ein «eklatanter Mangel an ostdeutschen Biographien», kritisiert Schäller – und nicht nur dort: «Es ist für viele schwer nachzuvollziehen, dass sich die Funktionseliten 30 Jahre nach dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes überdurchschnittlich aus Westdeutschen zusammensetzen und das vor allem auch in den im Osten angesiedelten kulturellen, politisch-administrativen, wissenschaftlichen und medialen Institutionen.» Dieses Defizit erzeuge wiederum Rückkopplungseffekte auf die journalistische Berichterstattung, «die dann eben nur das Andere sehen kann, weil dies durch eigene biographische Prägung eben als das Fremde erscheint», so die Einschätzung des Politologen.
Wenn Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff die Erhöhung des Rundfunkbeitrags blockiert, dann schwingt darin auch die Botschaft mit: Wir zahlen nur dann mehr, wenn wir auch mehr berücksichtigt werden!
Ob die Landesregierung in Sachsen-Anhalt den Interessen Ostdeutschlands mit ihrer Obstruktionspolitik einen Gefallen tut, bleibt zu bezweifeln. Innenpolitisch ist die Regierung Haseloff komplett isoliert: Der «Spiegel» schrieb vom «Magdeburger Störsender», Malu Dreyer (SPD), die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und Chefin der Rundfunkkommission, sprach von einem «schwarzen Tag für die Medienpolitik».
Die AfD, die schon seit längerem gegen den «Staatsfunk» agitiert und die Abschaffung der Gebührengelder fordert, jubiliert – und feixt. Ihr spielt das Gezerre um den Rundfunkbeitrag in die Hände. Denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht jetzt in der Öffentlichkeit als das da, wozu ihn die AfD immerzu karikiert: als zerstrittener Selbstbedienungsladen, wo jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Aus diesem Misstrauen saugen die Populisten ihren Honig. Dass ihnen die öffentlich-rechtlichen Sender regelmässig eine prominente Plattform bieten, vergessen sie natürlich.
Vor einigen Monaten hat die AfD ihr Konzept des «Grundfunks» vorgestellt, eines radikal verschlankten Basisangebots, in dem die Kosten um 90 Prozent reduziert werden sollen. Die Motivation ist klar: Die AfD will die öffentlich-rechtlichen Medien schwächen, weil diese ihre leeren Versprechungen entlarven. Die Behauptung vom «Staatsfunk» und der angeblichen «Westprägung» ist letztlich nur ein Popanz, um die Öffentlich-Rechtlichen zu diskreditieren.
Auch in der Schweiz hat die «No Billag»-Initiative, mit der die AfD sympathisierte, Zwietracht gesät und die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Frage gestellt. Doch der Streit konnte durch die Volksabstimmung einigermassen befriedet werden. In Deutschland, wo es auf Bundesebene keine Referenden und nur die Abstimmung mit Fernbedienung und Smartphone-Tastatur gibt, schwelt der Konflikt weiter. Je mehr ihn die Populisten schüren, desto mehr schwindet das, was in einer funktionierenden Öffentlichkeit noch viel wichtiger ist als Gebührengelder: das Vertrauen in Institutionen.