von Gerhard Lob

Nach der Romandie nun auch im Tessin: SRG schafft das klassische Kulturradio ab

Das Radio der italienischen Schweiz RSI will seinen Kultursender «Rete Due» in einen Musikkanal umbauen. Das hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Wortbeiträge plant RSI künftig vermehrt als Podcast und Online zu bringen. Durchdacht wirkt der Strategiewechsel noch nicht. Das erinnert an ähnliche Pläne wie beim Deutschschweizer Radio SRF.

Ein prozentuales Verhältnis sorgt momentan für rote Köpfe in der Kulturwelt der italienischen Schweiz: 90 zu 10. Gemeint ist das Verhältnis zwischen Musik- und Wortbeiträgen auf dem Kultursender «Rete Due» des Radios und Fernsehens der italienischen Schweiz RSI. Es ist das italienischsprachige Pendant zum Deutschschweizer Radiosender «SRF 2 Kultur».

Im Moment umfassen die Wortbeiträge ungefähr 40 Prozent der Sendezeit, bestehend aus Hintergrundberichten, Reportagen, Analysen, Kulturnachrichten, Konzertgesprächen und vielem mehr. In Zukunft könnte der Wortanteil auf 10 Prozent schmelzen. In den verbleibenden 90 Prozent würde Musik gesendet, klassische Musik vor allem, aber auch Jazz – die beiden Musiksparten, die schon jetzt die musikalische Identität von «Rete Due» ausmachen.

Das Szenario erinnert stark an die Neukonzeption von «Espace 2», dem Kultursender des Westschweizer Radios RTS. Seit Ende März 2020 bringt der «Espace 2» ein Musikprogramm. Audio- und Videobeiträge finden sich dafür vermehrt Online. Auch SRF in der Deutschschweiz organisiert die Kulturberichterstattung neu.

Die Perspektive eines weitgehenden Verschwindens des gesprochenen Wortes auf «Rete Due» hat die italienischsprachige Schweizer Kulturwelt aufgeschreckt. Wird nun das Ende von «Rete Due» eingeläutet? Oder gar das Ende der Kultur am italienischsprachigen Schweizer Radio? Als eine der ersten Intellektuellen erhob die an der Uni Lausanne lehrende Historikerin Nelly Valsangiacomo ihre Stimme. Viele andere folgten, vom Schriftsteller Fabio Pusterla über den Komponisten Francesco Hoch bis zu Staatsrat und Kulturminister Manuele Bertoli. SP-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti hat eine Interpellation eingereicht. Darin ortet sie bei den «Rete Due»-Plänen eine mögliche Verletzung der SRG-Konzession und fordert sie ein Einschreiten des Bundesrats – gerade, weil dieser Sender in Bezug auf den Schutz der Kultur und Sprache der italienischsprachigen Minderheit besonders wichtig sei.

Dass nun ausgerechnet der Sender «Rete Due» in seiner jetzigen Form geopfert werden soll, empfinden viele als Affront.

Der Tenor der meisten Stellungnahmen: Es brauche ein klares Gefäss, eine echte Radio-Heimat für die italienischsprachige Kultur in der Schweiz. Viele Kulturschaffende fühlen sich zudem hintergangen, weil sie sich 2018 stark gegen die «No Billag»-Initiative engagierten. Die Ablehnung der Initiative wurde als Sieg des Service public gefeiert. Dass nun ausgerechnet der Sender «Rete Due» in seiner jetzigen Form geopfert werden soll, empfinden viele als Affront. Mittlerweile haben fast 10’000 Personen eine Online-Petition unterschrieben.

Wenig überzeugend in dieser Geschichte ist die Kommunikationsstrategie von RSI. Erst einige Tage, nachdem die Tageszeitung «La Regione» die Pläne für «Rete Due» publik gemacht hatte und die Debatte schon entbrannt war, wandte sich RSI abends um 18.42 Uhr mit einer offiziellen Medienmitteilung an die Öffentlichkeit. Der noch amtierende RSI-Direktor Maurizio Canetta stand gleichentags in der Sendung «Diderot» just auf «Rete Due» einem RSI-Redaktor eine halbe Stunde lang persönlich Red und Antwort. Dabei wies er den Vorwurf, RSI wolle Rete Due auflösen und in einem Kahlschlag die Kultur abbauen, entschieden zurück.

«Die kulturellen Wortbeiträge müssen aus ihrem Käfig in einem exklusiven Radiokanal herausfinden.»
Medienmitteilung RSI

In der angedachten Revision des Radioprogramms – es trägt den klingenden Namen «Lyra» – gehe es generell um den künftigen Platz von Wortbeiträgen, und dies auf allen drei Radiokanälen. Die Kultur solle neu gemeinsam mit Information und Sport auf «Rete Uno» platziert werden, die Unterhaltung auf «Rete Tre», während «Rete Due» tatsächlich mehr ein Sender mit klassischer Musik werden solle. Das Projekt brächte eine Aufwertung der Kultur und sei im Übrigen noch nicht definitiv, sagte der RSI-Chef. Doch Anpassungen drängten sich auf, da sich das Konsumverhalten der Hörerinnen und Hörer verändere, sich auf Podcast und Online verlagere und immer weniger dem linearen Programm festgelegter Sendezeiten folge. Es gehe darum, dass die Kultur über «Rete Due» nicht nur einem spezialisierten Publikum nähergebracht werde, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Hörergruppen, insbesondere auch jüngeren Hörerinnen und Hörer, die durch neue Formen angesprochen werden müssten. In der Medienmitteilung schrieb RSI: «Die kulturellen Wortbeiträge müssen aus ihrem Käfig in einem exklusiven Radiokanal herausfinden, um in angepasster Form das gesamte Radioprogramm von RSI zu durchtränken und ihren Platz auch im digitalen Angebot zu finden.»

Die beschwichtigenden Worte von Canetta vermochten die Gemüter nicht zu beruhigen. Vor allem die Tageszeitung «La Regione» druckt fast täglich Meinungsbeiträge, die sich kritisch mit den RSI-Plänen auseinandersetzen. Kaum zu überzeugen vermochte Canetta mit dem Argument, die Kultur-Wortbeiträge würden ein breiteres Publikum erreichen, wenn sie im ersten Sender liefen. Es wird befürchtet, dass die Kultur auf «Rete Uno» irgendwo zwischen Sport und News verloren geht. Und da die meisten Sendeplätze schon besetzt sind, wird erwartet, dass quantitativ stark abgespeckt werden muss. Zudem sehen viele in den Plänen für «Rete Due» eine Doppelung von «Radio Swiss Classic» beziehungsweise «Radio Swiss Jazz», auch wenn die RSI-Kulturverantwortliche Cathy Flaviano diese Option deutlich zurückgewiesen hat. «Es werden zum Beispiel ganze Symphonien zu hören sein, was auf ‹Radio Swiss Classic› nicht der Fall ist», sagte sie im Rahmen der RSI-Sendung «Millevoci».

Für Giovanni Cossi, den früheren Finanzchef von RSI, ist «Rete Due» ein «Superluxus-Produkt».

Etwas aus der Reihe tanzt in der Diskussion der emeritierte Literaturprofessor Renato Martinoni, der dafür plädiert, die Wortbeiträge auf «Rete Due» einem Qualitätscheck zu unterziehen. De facto seien nicht alle Wortbeiträge auf «Rete Due» hochstehend. Vollkommen gegen den Meinungs-Strom äusserte sich Giovanni Cossi, der einstige Finanzchef von RSI. «Rete Due» ist seiner Meinung nach ein «Superluxus-Produkt». Er habe schon vor zehn Jahren vorgeschlagen, RSI nur mit zwei statt drei Radiokanälen zu fahren.

Tatsächlich ist der 1985 gegründete Kulturkanal «Rete Due» schon lange ein Sorgenkind bei RSI. Der Höreranteil beträgt nur 3,8 Prozent, was im Vergleich zu den Schwestersendern von RTS und SRF zwar gut ist, doch auch die Produktionskosten sind relativ hoch. Zum Vergleich: «Rete Uno», das erste Programm, weist einen Höreranteil von 35 Prozent auf. Allerdings wurde immer betont, dass es im Rahmen der Konzession einen Sendeauftrag für einen Kultursender des öffentlichen Radios gibt. Das hielt jüngst auch der Publikumsrat von RSI fest, der sich kritisch äusserte zu den Plänen für «Rete Due».

«Das gesprochene Wort bleibt auf ‹Radio SRF 2 Kultur› ein wichtiger Bestandteil des Senders.»
Mediensprecherin Radio SRF

Nachdem in der Westschweiz RTS sein Kulturradio bereits umgebaut hat und RSI dabei ist, stellt sich die Frage, ob Radio SRF bei seinem Kulturkanal bald nachzieht. Tatsächlich will auch SRF im Rahmen des Transformationsprojekts «SRF 2024» die Kulturberichterstattung stärker an der digitalen Nutzung ausrichten und so zusätzliches kulturinteressiertes Publikum erreichen. «Und so wird es auch im linearen Radio Veränderungen geben», sagt SRF-Mediensprecherin Silja Hänggi. Die Fachredaktionen Musik, Literatur, Kultur und Philosophie blieben aber starke Säulen für die publizistische Kompetenz. «Das gesprochene Wort bleibt auf ‹Radio SRF 2 Kultur› ein wichtiger Bestandteil des Senders, wir befassen uns aktuell und im Verlauf des Jahres mit diversen Neu- und Weiterentwicklungen im Programm», so Hänggi auf Anfrage.

Bei RSI ist die Debatte noch längst nicht beendet. Am 14. Januar gibt es eine Video-Sitzung der gesamten «Rete Due»-Redaktion, die im Moment stark verunsichert ist. Und während Maurizio Canetta dabei ist, seine Koffer zu packen, da er in Pension geht, darf sich der neue RSI-Direktor Mario Timbal darauf vorbereiten, die heisse Kartoffel bald in seinen Händen zu halten. Viele Kulturschaffende, genauso wie RSI-Redaktorinnen und -Redaktoren, hoffen auf den neuen Mann an der RSI-Spitze. «Die Kultur ist eine meiner Prioritäten», sagte er im ersten Interview im «Corriere del Ticino» nach seiner Wahl am 11. Dezember 2020. Zu den «Rete-Due»-Plänen äusserte er sich allerdings nicht im Detail.

Leserbeiträge

Alex Schneider 12. Januar 2021, 09:15

Kultursendungen der SRG
Sind Kultursendungen für kleinste interessierte Minderheiten zu verantworten? Warum überlässt man das nicht einfach den auf Kultur spezialisierten Medien? Gibt es Umfragen, inwieweit die Volksschulen es schaffen, die Leute so für Kultur zu motivieren, dass sie sich auch im Erwachsenenalter für  die „Hochkultur“ interessieren?