von Anne-Sophie Scholl

The Good, The Bad & The Ugly XX

SRF Kultur, Tamedia, CH Media

The Good – Smarter Start beim digitalen Marathon von SRF

Sie sind quasi das Aushängeschild des digitalen Wandels, den SRF dieses Jahr anpacken will: die Videoclips «Bleisch & Bossart», seit November auf dem SRF-Youtube-Channel. Ein wöchentliches Zehn-Minuten-Häppchen Philosophie mit dem Moderatorenduo der SRF-Sendung «Sternstunden»: Alltagsnah und persönlich diskutieren Barbara Bleisch und Yves Bossart Lebensfragen wie den Nutzen von Ritualen, den Sinn der Ehe oder die Gründe fürs Strafen.

Das Setting ist Backstage, das Gespräch als interessierter Austausch inszeniert und immer wieder schlagen die beiden den Bogen vom privaten Alltag zu grossen Denkerinnen und Denkern. Persönliche Nähe und philosophische Tiefe, das Ganze flankiert vom intensiven Dialog mit dem Publikum, auch auf Instagram und Facebook: Das funktioniert.

Und wie. Schon beim ersten Clip sei die Zahl der erwarteten Aufrufe ums Dreifache übertroffen worden. Die Zahl der Kommentare gar fast ums Zehnfache, sagt Kathrin Ruther, Bereichsleiterin Online & Distribution von SRF Kultur und verantwortlich für das neue Format. Allein auf Youtube finden sich im Schnitt rund 180 Kommentare unter einem Clip.

Aber: Wird es auch gelingen, das Publikum auf die SRF-Plattformen zu ziehen, wie es die Distributionsstrategie vorsieht? Daten dazu gibt es zurzeit noch keine. Die Clips sollen ein Tor zur Themenwelt Philosophie und den langen Gesprächen auf den SRF-Plattformen auftun. Gelingen soll dies via Links, den Markenaufbau von SRF und die Persönlichkeit der Moderatoren. «Das ist kein Sprint, es ist ein Marathon», sagt Kathrin Ruther. Die anvisierte Zielgruppe sei jedenfalls erreicht: ein SRF-ferneres Publikum unter 45 Jahren, das zeigen die Daten.

Was man sagen kann: Ein fulminanter Start.

The Bad – Erstickungsgefahr bei Tamedia

Es war eine kleine Notiz: «Kultur ist nicht systemrelevant. Zum Glück, weil damit eine Last an Verantwortung einherginge, die alles ersticken würde, was Kultur sonst so gross macht: die Lust am Spiel, das ästhetische Experiment, das Risiko.» Das schrieb Tamedia im Kulturbund der Sonntagszeitung über das klobige Wort des Jahres. Die neue SRF-Kulturchefin Susanne Wille hingegen liess unlängst in einem Interview verlauten: «Kultur ist der Sauerstoff, den wir alle brauchen.» Entgegengesetzter könnten die beiden Aussagen nicht sein.

Systemtheorie sagt: Jedes System braucht Reflexionsräume, damit das System sich weiterentwickeln kann und – nun ja, nicht erstickt. Man mag an die Narrenfiguren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit denken. Und an den abtretenden NZZ-Medienredaktor Rainer Stadler, der in seinem denkwürdigen Abschiedsinterview gesagt hat, in heutigen Zeiten schwinde in der Medienwelt die Toleranz gegenüber Hofnarren. Die Tamedia-Notiz ist eine Absage an die gesellschaftliche Relevanz des Spiels, des ästhetischen Experiments, des Risikos. Sie ist eine Entmündigung der Kultur.

Sauerstoff oder Nice-to-have: Das ist keine Aussage über die Kultur, sondern über den Kulturbegriff – und damit über das jeweilige Unternehmen.

The Ugly – Pinkwashing* bei CH Media

Dieses Jahr feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht. Und auf den Online-Seiten von CH Media prangt noch immer ein Artikel von mir — als Mahnmal quasi einer mutmasslich frauenverachtenden Haltung der publizistischen Leitung. Es ist mein persönlicher Essay zum Frauenstreik im Juni 2019. Bei der Erstpublikation erzielte der Essay höchste Zugriffswerte. In der Folge wurde der Artikel von weiteren Online-Plattformen des Konzerns übernommen, notabene dem St. Galler Tagblatt — als verstümmelte Trophäe: Ohne Rücksprache zensierten die Verantwortlichen Passagen, bei denen sie sich selbst in der Kritik sahen. Ein St. Galler Politiker qualifizierte das Vorgehen als Realsatire. Der Essay einschliesslich Kommentar zur Publikationsgeschichte wurde für den Schweizer Reporterpreis nominiert.

Ein vielbeachtetes Buch hat jüngst festgehalten: CH Media seien Frauen offenbar egal. Was man in dem Buch auch nachlesen kann: Die bekannte Wirtschaftsjournalistin Patrizia Laeri musste sich mit Hilfe einer Anwältin gegen eine sexistische Darstellung ihrer Person in Aarau zur Wehr setzen. Und: Journalistische Nachfragen der Autorinnen zu dem Fall hat der Chefredaktor ignoriert.

Unterdessen hat man jedoch auch in Aarau gemerkt: Es braucht eine Frau in der Teppichetage, das muss heute sein. Seit Jahresanfang gibt es eine stellvertretende Chefredaktorin in der CH Media Redaktion. Die Frau ist eine ausgewiesene, sehr fähige Journalistin, keine Frage. Doch: Der bestehenden Chefredaktion mit zwei Stellvertretern wird neu einfach eine zusätzliche Frau hinzugestellt. Wandelt sich die Redaktion mit der weitaus grössten Reichweite in der Deutschschweiz damit in Sachen Diversität wirklich vom Saulus zum Paulus?

Solange CH Media nicht einsieht, dass sie dieses Memento misogynen Machtmissbrauchs von ihren Portalen nehmen müssen und sich eine Entschuldigung bei der Autorin aufdrängt, zwingt CH Media dazu, jeglichen vermeintlich gleichstellungspolitischen Schachzug zu qualifizieren als: Pinkwashing*.

* Unter dem Begriff «Pinkwashing» wurde an der Corona Session #5 des Reporter-Forums die Instrumentalisierung von Frauen in den Medien diskutiert, namentlich von Patrizia Laeri. Mitglieder der LGBT+-Community haben eine solche Verwendung des Begriffs auch in dieser Kolumne auf Facebook scharf kritisiert: Pinkwashing bezeichne die Instrumentalisierung von LGBT+. Tatsache ist: In aktueller feministischer Literatur, die sich für umfassende Diversity einsetzt ist, die Farbe Pink sehr präsent. Möglicherweise findet derzeit gerade eine Erweiterung und/oder Aneignung des Begriffs statt.

Leserbeiträge

Michel Benedetti 09. Januar 2021, 18:01

Zum Thema „Gleichstellung“ ist mir kürzlich etwas ins Ohr geraten, was mich noch Tage langer beschäftigt hat. Was war das? Ganz harmlos: Eine SRF-Sendung über das Projekt „Open Street Map“ – jeder darf sich an diesem spannenden Projekt beteiligen. Und das tun offenbar einige. Doch, so der Kommentator am Schluss. Dies sei eine Männerdomäne! Wie übrigens auch das vergleichbare Projekt Wikipedia? Was bedeutet dies? Müssen sich Männer schuldig fühlen? Sollen sich mehr Frauen auf die Socken machen beim Kartografieren? Oder schrecken Männerdomänen Frauen ab, obwohl die Arbeit sehr individuell ist und die Männer gar nicht sichtbar? Wer kann mir hier weiterhelfen? Was tun? Was lassen? Läuft hier etwas ganz verkehrt? Wer kann mir helfen mit guten Ratschlägen?

Andres Frey 09. Januar 2021, 18:08

Ist diese Darstellung als Kommentar über die Medienereignisse zu lesen. So noch mein Kommentar zu: „Die Kultur ist nicht systemrelevant…“. Stimmt, für mich ist die Kultur das System. Viele Grüsse und ein gutes Wochenende Andres Frey

Donat Blum 11. Januar 2021, 21:51

Pinkwashing wird hier – wie auf Facebook ausführlich dskutiert– falsch verwendet. Laut Wikipedia bedeutet Pinkwashing „Strategien, durch das Vorgeben einer Identifizierung mit der LGBT-Bewegung … tolerant zu wirken.“ Indem in diesem Artikel Pinkwashing für die Anbiederung der AZ-Medien an ein sehr berechtigtes feministische Anliegen verwendet wird, werden zwar die Anliegen von Frauen sichtbar gemacht, dafür aber die Anliegen von uns Queers / LGBTs UNSICHTBAR. Eine der hierzulande am weitesten verbreiteten Homphobien.
Insofern haben Sascha Rijkeboer, Corinne Rufli, Simone Meier und ich Anne-Sophie Scholl bereits auf Facebook um eine Änderung des Begriffes zu bspw. Purplewashing, Lilawashing oder gar einer Formulierung ganz ohne Waschmaschine gebeten… Mit besten Grüssen und Dank, Donat Blum