von Adrian Lobe

Was passiert, wenn Facebook eines Tages vom Netz gehen würde?

Facebooks Nutzerbasis bröckelt: Nachdem Whatsapp neue Nutzungsbedingungen veröffentlicht hat, sind Millionen Nutzer zu Signal und Threema abgewandert. Des Weiteren sterben jeden Tag 8000 Nutzerinnen und Nutzer. Eine Welt ohne Facebook – was hiesse das? Mit der Frage hat sich die Wissenschaft schon mehrfach befasst. Auch kürzlich wieder.

Erinnert sich noch jemand an MySpace? Das soziale Netzwerk war von 2006 bis 2008 die meistbesuchte Website in den USA. Man teilte Status, Videos, Musik, Spiele und vernetzte sich mit Freunden. Rupert Murdochs News Corporation kaufte MySpace 2005 für 580 Millionen Dollar (und verramschte die Plattform sechs Jahre später für 35 Millionen). 2007 hatte MySpace noch 300 Millionen registrierte Nutzer und einen Marktwert von 12 Milliarden Dollar. Doch dann kam Facebook – und damit der Niedergang von MySpace. Zwar ist die Seite nach wie vor abrufbar, es gibt noch einen harten Kern der Community. Doch das soziale Netzwerk ist praktisch tot. Begraben auf dem Internetfriedhof. Wie so viele soziale Netzwerke, die den Aufstieg von Facebook nicht überlebt haben.

Das 2002 gegründete Friendster, das 2003 ein Übernahmeangebot von Google in Höhe von 30 Millionen Dollar ausschlug, wurde 2015 verkauft und zu einem Online-Game umgewandelt. Das soziale Netzwerk Google+, das der Suchmaschinenkonzern als Konkurrenz zu Facebook aufbauen wollte, wurde 2019 eingestellt. Und auch die Tage von StudiVZ, das 2007 die deutsche Holtzbrinck-Verlagsgruppe für 85 Millionen Euro kaufte, sind gezählt – das Netzwerk wurde im vergangenen Jahr abgeschaltet und auf die neue Plattform VZ.net überführt (die kleine Schwester SchülerVZ gibt es schon seit 2007 nicht mehr). Yahoos Webhosting-Dienst GeoCities, auf dem Websites nach thematischen Nachbarschaften organisiert waren, wurde 2009 geschlossen. Friendster, MySpace und Co. sind die Adressen versunkener Städte im Cyberspace.

Wer weiss, wie sich das Internet entwickelt hätte, wenn MySpace weitergewachsen wäre und die Facebook-Konkurrenz niedergerungen hätte.

Die Wissenschaftler David Garcia, Pavlin Mavrodiev und Frank Schweitzer von der ETH Zürich haben 2013 den Zerfall sozialer Netzwerke in einer Studie analysiert («Social Resilience in Online Communities: The Autopsy of Friendster»). Demnach hängt die Stabilität, beziehungsweise Resilienz sozialer Netzwerke von zwei Faktoren ab: Zum einen vom Aufwand-Nutzen-Faktor, zum anderen vom Grad der Vernetzung. Wenn mehrere Nutzer eines Knotens das Netzwerk verlassen und ein ganzes Subnetzwerk zusammenbricht, kann das eine Abwanderungskaskade in Gang setzen. Im Fall von Friendster war es ein Redesign, das eine Austrittswelle verursachte und dem sozialen Netzwerk das Genick brach.

Wer weiss, wie sich das Internet entwickelt hätte, wenn MySpace weitergewachsen wäre und die Facebook-Konkurrenz niedergerungen hätte. Vielleicht hätte es dann keinen Brexit und keine Wahl Trumps zum US-Präsidenten gegeben. Gewiss, das ist spekulativ, aber es lohnt sich, sich solche Kausalitätsbeziehungen einmal durch den Kopf gehen zu lassen.

Die Frage ist: Könnte Facebook dasselbe Schicksal wie Friendster ereilen? Die ETH-Forscher wollen sich in ihrer Studie nicht festlegen, weil verschiedene Faktoren eine Rolle spielen und sich die einzelnen Dynamiken nur schwer vorhersagen lassen. Zwar hat Facebook in den USA zwischen 2017 und 2019 15 Millionen Nutzer verloren. Gemessen an der globalen Nutzerbasis – Facebook zählt weltweit über zwei Milliarden Mitglieder – ist das aber ein verkraftbarer Verlust.

Eine Gewissheit, dass es Facebook auch noch in zehn Jahren gibt, gibt es aber nicht.

Und es gibt noch immer jede Menge Wachstumspotenzial. Facebook arbeitet in Kooperation mit lokalen Telekommunikationsanbietern daran, die weltweit über drei Milliarden Menschen ohne Internetanschluss zu vernetzen. Die Offline-Community ist eine riesige Marktlücke. Solange Facebook in Schwellen- und Entwicklungsländern weiterwächst, kann es den Verlust von Nutzern in Industrienationen kompensieren. Hinzu kommt, dass der Konzern durch die Integration von Whatsapp und Instagram Anreize geschaffen hat, Nutzer auf seiner Plattform zu halten. Eine Gewissheit, dass es Facebook auch noch in zehn Jahren gibt, gibt es aber nicht. Die Digitalökonomie ist hoch dynamisch.

Wie schnell so eine Dynamik einsetzen kann, beweist die jüngste Entwicklung von Whatsapp: Nachdem der zu Facebook gehörende Messenger-Dienst neue Nutzungsbedingungen ausgegeben hat, sind Millionen Nutzer abgewandert. Allein der Konkurrent Signal registrierte binnen 72 Stunden 25 Millionen neue Nutzer. War das wieder so ein MySpace-Moment? Wiederholt sich die Geschichte? Egal, wie man später auf diese Entwicklung zurückblicken wird – das Fundament von Facebook ist äusserst instabil.

Was würde mit den sensiblen Nutzerdaten passieren? Mit den Fotoalben, Privatnachrichten und Chronik-Einträgen?

Das grösste Problem in der Statik ist die alternde Nutzerbasis. Jeden Tag sterben 8000 Facebook-User. 2070 könnte die Zahl der toten Nutzer die der lebenden erstmals übersteigen. Facebook wäre dann ein digitaler Friedhof – und für Werbekunden nicht mehr sonderlich attraktiv. Was wäre, wenn Facebook eines Tages vom Netz gehen würde? Was würde mit den sensiblen Nutzerdaten passieren? Mit den Fotoalben, Privatnachrichten und Chronik-Einträgen? Würde das alles offenliegen? Könnte man die Daten auf eine Nachfolgerplattform mitnehmen? Wie würde ein so grosser Player abgewickelt? Wie entsorgt man die Privatvitrinen von Milliarden Menschen? Braucht es eine Datendeponie für alte Profile?

Über den Fall, dass eine grosse Plattform wie Facebook oder Google untergeht, haben sich Wissenschaftler bereits Gedanken gemacht. Die Oxford-Forscher Carl Öhman und Nikita Aggarwal schreiben in ihrem Aufsatz «What if Facebook goes down? Ethical and legal considerations for the demise of big tech» im vergangenen August: «Der Niedergang einer globalen Online-Kommunikationsplattform wie Facebook könnte katastrophale soziale und ökonomische Folgen für unzählige Communitys haben, die die Plattform täglich nutzen, sowie für Nutzer, deren persönliche Daten Facebook speichert und sammelt.»

Wenn Facebook abgeschaltet würde, könnten die Nutzer womöglich nicht mehr auf ihre alten Profile zugreifen.

So wie Grossbanken könnten auch Unternehmen wie Facebook oder Google «too big too fail» sein – sie sind in der Informationsökonomie systemrelevant. Ganze Landstriche, zuvorderst die sogenannten «Zeitungswüsten», würden vom einen auf den anderen Tag ohne Informationsportal dastehen. Wenn Facebook abgeschaltet würde, könnten die Nutzer womöglich nicht mehr auf ihre alten Profile bzw. Daten zugreifen. Trotzdem würde einen der digitale Schatten weiterverfolgen. Ein Nutzer könnte in einem hypothetischen Szenario 2030 einen Instagram-Account eröffnen und mithilfe alter Facebook-Daten getrackt werden, auch wenn Facebook längst vom Netz gegangen ist.

Ein weiteres Problem, auf das die Forscher hinweisen: Fotos, auf denen ein Nutzer markiert wird, sind nicht portabel, das heisst, sie können nicht im Rahmen der Datenportabilität auf eine andere Plattform überführt werden. Die Wissenschaftler fordern daher einen rechtlichen und ethischen Rahmen, der das in der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) verankerte Recht auf Datenübertragbarkeit sowie das vom EuGH entwickelte Recht auf Vergessenwerden auch im Falle einer Insolvenz gewährleistet – und so verhindert, dass Datenbroker den Bestand ausschlachten können. Zwar räumen Öhman und Aggarwal in ihrem Aufsatz ein, dass das Szenario eines Scheiterns zum derzeitigen Zeitpunkt eher gering ist. Trotzdem ist es wichtig, schon jetzt die rechtlichen und ethischen Grundlagen für eine solche Eventualität zu schaffen. Denn so schnell, wie Facebook zum globalen Player aufgestiegen ist, könnte es eines Tages auch in der Bedeutungslosigkeit versinken.