von Marko Ković

Das Deplatforming-Dilemma: Wer löscht hier wen mit welcher Legitimation?

Es ist zu begrüssen, dass Social-Media-Plattformen extremistischen Stimmen wie Donald Trump keine Bühne gewähren. Aber gleichzeitig ist es hoch problematisch, wenn private, profitorientierte Tech-Giganten nach eigenem Gusto bestimmen, wer Zugang zum öffentlichen Diskurs hat.

Am 8. Januar 2021 hat Twitter dem scheidenden Präsidenten Donald Trump die vielleicht grösste Demütigung seines Lebens beschert: Der Twitter-Account des US-Präsidenten, das berühmte @realDonaldTrump, wurde unwiderruflich gelöscht. Auf einen Schlag verlor Trump sein wichtigstes Sprachrohr und den ungefilterten Zugang zur Weltöffentlichkeit.

Twitter hat die Löschung des Trump-Kontos mit der von Trump ausgehenden Gefahr der Anstiftung zu Gewalt begründet. Beim faschistoiden Angriff auf das US-Kapitol, der wenige Tage zuvor stattfand, spielte Trumps monatelange Aufwiegelung nicht zuletzt über Twitter nämlich eine zentrale Rolle.

Die Frage drängt sich auf: Kann Deplatforming Leid, Hass, Gewalt reduzieren?

Trumps Twitter-Verbannung ist ein Paradebeispiel für das sogenannte Deplatforming. Was bedeutet: Einer im weitesten Sinn kontroversen Person werden gewisse sprichwörtliche Bühnen in der Öffentlichkeit entzogen, aber ohne damit ihre formalen Rechte zur freien Meinungsäusserung einzuschränken. Die betroffene Person verliert beispielsweise den Zugang zu Social-Media-Plattformen, kann aber grundsätzlich weiterhin sowohl online als auch offline frei sprechen.
Was ist von Deplatforming zu halten? Wenn wir in einem ersten Schritt davon ausgehen, dass das Ziel von Deplatforming moralisch legitim ist, nämlich den Schaden, den extremistische Stimmen anrichten können, zu reduzieren, dann drängt sich die Frage auf, ob das denn wirklich funktioniert. Kann Deplatforming Leid, Hass, Gewalt reduzieren?

Eine interessante Fallstudie für die Beantwortung dieser Frage ist das Deplatforming des sogenannten «Islamischen Staats» (IS). Die Terrororganisation war nicht nur wegen brutaler Gewalt und Terror berüchtigt und gefürchtet, sondern auch wegen ihrer hochwirksamen PR-Arbeit. Der IS unterhielt jahrelang eine beeindruckende Propaganda-Maschinerie, in deren Rahmen nicht zuletzt professionelle und mehrsprachige Videoproduktionen hergestellt wurden, die über Plattformen wie Twitter, Facebook und YouTube ein Millionenpublikum fanden.

Wie Deplatforming wirkt, zeigen wissenschaftliche Untersuchungen der Social-Media-Aktivitäten des sogenannten «Islamischen Staats».

Um die Verbreitung dieser Terrorpropaganda zu stoppen, rief die US-Regierung eine Deplatforming-Strategie ins Leben. Ein Teil dieser Strategie bestand aus Sabotage durch Cyberkriegsführung, also durch staatlich sanktioniertes Hacking, indem etwa Social-Media-Konten von IS-Angehörigen gekapert wurden. Der wichtigere Teil des IS-Deplatforming aber war schlicht das Gleiche, was nun auch Donald Trump erlebt hat: Die Betreiber von Social-Media-Plattformen griffen durch und löschten Konten mit IS-Bezug systematisch.

Dieses Vorgehen war trivial einfach, brachte aber durchschlagenden Erfolg. IS-Propaganda auf Social Media verkümmerte rasch und verschwand innerhalb kurzer Zeit praktisch vollständig. Warum? Das demonstriert eine Studie der George Washington University, in der die Twitter-Karrieren von vier IS-Sympathisanten nachgezeichnet wurden. Zu Beginn der untersuchten Zeitperiode vereinten die vier Accounts über 12’000 Follower. Nach der Löschung haben die vier Nutzer neue Twitter-Accounts erstellt, damit aber nur rund 5000 Follower angehäuft. Nach der erneuten Löschung haben die betroffenen User mit nochmal neuen Accounts schliesslich nur noch rund 1000 Follower anziehen können.

Wenn Personen, die extremistische Inhalte verbreiten, dies nicht mehr tun können, kursieren die entsprechenden Inhalte auch weniger.

Diese Zermürbungstaktik von Twitter hat Netzwerke zerschlagen, Kommunikationsketten unterbrochen und den Aufbau neuer Netzwerke erschwert; nicht zuletzt, weil das Geschehen den IS-Sympathisanten schlicht zu aufwendig wurde. Die Auswirkungen der Account-Löschungen war gross. Im Jahr 2015 erzielten IS-nahe Accounts über 700’000 Retweets pro Woche. Am Ende des Jahres, nachdem Twitters Deplatforming-Strategie eingeführt wurde, war die Zahl praktisch null.

Die positiven Deplatforming-Erfahrungen im Kampf gegen den IS sind im Grunde nicht überraschend. Wenn Personen, die extremistische Inhalte verbreiten, dies nicht mehr tun können, kursieren die entsprechenden Inhalte auch weniger. So hat sich denn auch in den Tagen nach Trumps Deplatforming gezeigt, dass Lügen und Verschwörungstheorien über einen angeblichen Wahlbetrug der Demokraten auf Twitter rein quantitativ regelrecht eingebrochen sind. Den Effekt verstärkt hat die Löschung von rund 70’000 Konten, die Bezug zur QAnon-Verschwörungstheorie hatten. Deplatforming ist eine kommunikative Brechstange, die eigentlich immer Wirkung zeigt.

Unklar ist aber, wie nachhaltig Deplatforming wirkt. Die Forschung zeigt, dass extremistische Gruppen und Netzwerke eine hohe Resilienz aufweisen und über Deplatforming zwar von einzelnen Plattformen verdrängt, aber nicht unbedingt zerschlagen werden. Stattdessen wechseln sie auf andere Plattformen, wo sie nicht nur willkommen, sondern unter Umständen sogar noch viel freier in der Verbreitung von Lügen und Desinformation sind. Im Trump-Kontext migrieren gesperrte Nutzerinnen und Nutzer etwa auf Telegram, Parler oder Gab. Der Hydra den Kopf abzuschlagen kann also dazu führen, dass zwei neue nachwachsen. Immerhin sind die neuen Plattformen kleiner und erreichen weniger Leute. Auch wirtschaftlich sind sie weniger stabil. So musste Ende 2020 die bei Anhängern der QAnon-Verschwörungstheorie beliebte Plattform voat.co den Betrieb einstellen, weil ihr das Geld ausgegangen war.

Dass Deplatforming überhaupt wirksam sein kann, ist ein schwerwiegendes Problem für die Demokratie.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Deplatforming grundsätzlich wirksam zu sein scheint, obwohl der Extremismus, der damit bekämpft werden soll, so natürlich nicht komplett aus der Welt geschafft wird. Bedeutet das, dass wir Deplatforming als Strategie begrüssen sollten? So einfach ist die Geschichte leider nicht. Der Umstand, dass Deplatforming überhaupt wirksam sein kann, ist nämlich ein schwerwiegendes Problem für die Demokratie.

Dass Deplatforming etwas mit Demokratie zu tun hat, ist nicht auf den ersten Blick offensichtlich. Facebook, Twitter und Co. sind private, profitorientierte Unternehmen. Wenn sie beschliessen, das Konto einer Nutzerin oder eines Nutzers zu löschen, hat das, formal gesehen, keinerlei politische Dimension. Die in vielen demokratischen Ländern verfassungsrechtlich garantierte Meinungs- und Redefreiheit der betroffenen Person bleibt unangetastet. Das Einzige, was der Person im Zuge ihres Deplatforming abhandenkommt, ist die Fähigkeit, gewisse Dienstleistungen privater Unternehmen zu nutzen.

Verliert man den Zugang zu Social Media-Plattformen, verliert man damit de facto den Zugang zu jenen öffentlichen Foren, in denen der politische Diskurs heute verstärkt stattfindet.

Diese Auslegung ist rein technisch gesehen korrekt. Wenn Twitter Donald Trumps Konto löscht, ist das kein Angriff des Staates auf Trumps Redefreiheit. Aber diese formale Sicht der Dinge verkennt die praktische Realität von Online-Kommunikation: Social-Media-Plattformen sind der mit Abstand wichtigste Kanal für und Zugang zu digitaler Öffentlichkeit. Verliert man den Zugang zu Social Media-Plattformen, verliert man damit de facto den Zugang zu jenen öffentlichen Foren, in denen der politische Diskurs heute verstärkt stattfindet.

Natürlich kann eine Person, die auf Facebook und Twitter nicht mehr mitreden kann, sich alternative Kanäle suchen oder eine eigene Infrastruktur aufbauen. Aber die Veränderung, die durch Deplatforming faktisch stattfindet, ist schlicht massiv: Ob ich auf dem Dorfplatz mit allen anderen Leuten mitreden darf, oder, ob ich alleine im Wald weitgehend Selbstgespräche führen muss, ist in qualitativer Hinsicht ein gigantischer Unterschied.

Das demokratische Problem hierbei ist nicht, dass wir irrationale und gefährliche Stimmen wie Donald Trump im öffentlichen Diskurs dabeihaben wollen. Das Problem ist vielmehr, dass private, profitorientierte Unternehmen eigenmächtig und demokratisch nicht legitimiert entscheiden, wer am öffentlichen Diskurs teilnehmen darf. Wir haben damit die eigentliche Kernfunktion der Demokratie, die gemeinsame diskursive Suche nach Wahrheit und Lösungen für Probleme, an Milliardenkonzerne ausgelagert – ohne, dass uns jemand gefragt hätte.

Twitter, Facebook und Co. sind in keiner Weise demokratisch legitimiert.

Warum das gefährlich ist, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Trump. Die moralische Rechtfertigung für Trumps Deplatforming ist grundsätzlich sehr nachvollziehbar: Trump hat mit seinen Lügen und Drohungen zu Hass und Gewalt angestiftet. Aber warum haben die Plattformbetreiber erst in den letzten Tagen der Trump-Präsidentschaft reagiert, wenn seine gemeingefährlichen und hasserfüllten Social-Media-Eskapaden doch jahrelang für Unmut und Angst gesorgt haben? Vielleicht hat es damit zu tun, dass Trump als lahme Ente keine Gefahr mehr für die finanziellen Interessen der Unternehmen darstellte. Zuerst die Milliardengewinne, dann die Moral.

Twitter, Facebook und Co. sind in keiner Weise demokratisch legitimiert. Das einzige Ziel, das die Social-Media-Plattformen verfolgen, sind Gewinne für ihre Besitzer; schliesslich handelt es sich um kapitalistisch organisierte Grosskonzerne. Ab und zu ein PR-Pflästerchen in Form von Deplatforming extremistischer Figuren darf nicht von dem übergeordneten Problem ablenken, dass unsere Demokratie heute zu einem grossen Teil privatisiert ist und sich in Händen von Akteuren befindet, die weder demokratische Legitimität geniessen noch demokratischer Kontrolle unterliegen.

Social-Media-Plattformen bilden heute eine öffentliche Infrastruktur, die die Leben von Milliarden von Menschen beeinflusst.

Vielleicht haben wir ab und zu Glück und die kommerziellen Interessen der Plattformen überschneiden sich mit demokratischen Zielen; etwa im Falle des Verschwörungstheoretikers Alex Jones, der seine YouTube-Plattform verlor, weil Werbekunden in einem solchen Umfeld keine Werbung schalten wollten. Zu hoffen, dass sich «der Markt» auf diese Art grundsätzlich selber reguliert, würde allerdings bedeuten, mit der Demokratie russisches Roulette zu spielen.

Social-Media-Plattformen bilden heute eine öffentliche Infrastruktur, die die Leben von Milliarden von Menschen beeinflusst. Darum ist es an der Zeit, diese Infrastruktur mit zukunftsgerichteten Gesetzen endlich auch als solche zu regulieren.