von Adrian Lobe

Internet-Regulierung: «Der Druck auf die Plattformen wächst.»

Es gibt Fragen, die sollte man nicht Plattformen wie Facebook überlassen: Was mit unseren Daten passiert, wie sie genutzt werden dürfen, wie Algorithmen programmiert werden, wie sie eingesetzt werden. Aber es wäre auch keine gute Idee, wenn hier Regierungen zu Aufsichtsinstanzen würden und sich damit selbst eine neue Machtposition verschafften, findet Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik in Berlin. Ein Gespräch über Facebook, Datenschutz und Macht im Internet.

Nach dem Sturm auf das US-Kapitol im Januar dieses Jahres hat Facebook das Konto von Donald Trump blockiert – zunächst für 24 Stunden, dann für unbefristete Zeit. Der Grund: Der Präsident hatte die Aktionen des gewaltsamen Mobs in einem Post gebilligt. Vor wenigen Tagen hat das Facebook Oversight Board die Sperre nun formell bestätigt – vorerst. Facebook muss in einer Frist von sechs Monaten entscheiden, ob Trump zurückkommen darf oder dauerhaft von der Plattform verbannt wird.

Das Oversight Board gilt als Facebooks «Supreme Court», also quasi als der Oberste Gerichtshof der Plattform. Es setzt sich aus Fachleuten wie Verfassungs- und Völkerrechtlern, Menschenrechtsaktivisten und Ethikern aus verschiedenen Kontinenten zusammen. Auch prominente Namen sind dabei: So gehören dem Gremium die ehemalige dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sowie der ehemalige «Guardian»-Chefredaktor Alan Rusbridger an. Das Gremium könnte neue Massstäbe in Sachen Internet Governance setzen.

MEDIENWOCHE:

Frau Hofmann, das Facebook Oversight Board hat die Sperre von Donald Trump bestätigt. Die richtige Entscheidung?

Jeanette Hofmann:

Die Entscheidung kommt nicht überraschend. Das Board hat die permanente Sperre nicht bestätigt, sondern lediglich festgestellt, dass für diesen Präzedenzfall Regeln geschaffen werden müssen. Und den Ball damit zu Facebook zurückgespielt. Nach dem Motto: Eure Verhaltensweisen in der Content-Moderation sind so arbiträr, da müssen klare Regeln her!

MEDIENWOCHE:

Das Oversight Board hat in einer Entscheidung im Januar einen «Flickenteppich aus Richtlinien» kritisiert. Das war eine Ohrfeige an das Facebook-Management. Ist das Oversight Board ein unabhängiges Kontrollorgan oder am Ende doch nur ein Feigenblattwie etwa die Ethikkommission der Fifa?

Hofmann:

Die Fifa ist kein angemessener Vergleich. Leute wie Alan Rusbridger würden sich nicht in ein Gremium hineinbegeben, das nur ein Feigenblatt ist. Viele Mitglieder haben eine Reputation zu verlieren. Das Problem, das dem Oversight Board bescheinigt wurde, liegt woanders: Es betrifft den recht schmalen Zuständigkeitsbereich. Da war die Sorge, dass das Gremium zu wenig Autorität und Entscheidungsmacht haben könnte. Aber bisher hat sich diese Kritik nicht bestätigt. Das Oversight Board hat in der Regel nicht nur entschieden, sondern auch Politikempfehlungen mitgegeben. Nur in diesem konkreten Fall war es etwas zögerlich.

MEDIENWOCHE:

Das Oversight Board ist gemäss Satzung ermächtigt, Facebook «anzuweisen», Inhalte zuzulassen oder zu entfernen. Zu den Befugnissen des Gremiums gehört die «Auslegung der Facebook-Gemeinschaftsstandards und sonstiger relevanter Richtlinien». Das heisst: Das Organ prüft Beiträge originär nicht auf Verfassungskonformität, sondern auf Konformität mit den eigenen Normen. Andererseits prüft das Gremium Facebook-Vorschriften auf Vereinbarkeit mit internationalen Menschenrechtsstandards. Masst sich das Gremium hier eine Rolle an, die ihm gar nicht zusteht?

Hofmann:

So würde ich das nicht beschreiben. Mit Blick auf Plattformen ist es generell so, dass Vertragsrecht das bestimmende Recht ist. Die Grundrechte nationaler oder internationaler Natur regeln die Beziehungen zwischen Bürgern und Regierungen, aber nicht die Beziehung zwischen Nutzern und Plattformanbietern. Das ist privates Gelände. Zu dieser Haltung ist in der letzten Zeit eine gewisse Bewegung zu beobachten. Das betrifft zum Beispiel auch den neuen Digital Service Act, den die EU-Kommission als Entwurf in diesem Jahr vorgelegt hat. Hier wird argumentiert, dass Plattformen die Meinungsfreiheit der Bürger schützen müssen und nicht einfach in ihren Nutzungsbedingungen ignorieren können – gerade, weil Plattformen für die Meinungsfreiheit so wichtig sind.

Der Druck auf Plattformen wächst, Menschenrechtsstandards nicht nur zu kennen, sondern auch zu schützen.



Zur Person

Prof. Dr. Jeanette Hofmann ist Politikwissenschaftlerin und Gründungsdirektorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft sowie Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin. Dort forscht sie unter anderem zu Governance-Theorie, Internetpolitik und transnationaler Regulierung. Von 2017 bis 2020 war sie Sprecherin der Arbeitsgruppe «Digitalisierung und Demokratie» an der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften, von 2010 bis 2013 Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags «Internet und digitale Gesellschaft». Als regelmässiger Gast der re:publica gehört Hofmann zu einer der wichtigsten Stimmen der Digitalkritik.

MEDIENWOCHE:

Beim Stichwort «Internet Governance» wäre auch die ICANN zu nennen, eine juristische Person des Privatrechts, die für die Vergabe von Domains zuständig ist. Die ICANN hat im vergangenen Jahr ein Veto gegen den Verkauf der .org-Domain durch eine Private Equity-Firma eingelegt. Gleichzeitig wird an dem Unternehmen immer wieder Kritik laut. Es heisst, ein privates Unternehmen beherrsche das Internet. Stimmt das?

Hofmann:

So eindeutig kann man das nicht sagen. Bei ICANN wirken zahlreiche Stakeholder mit, auch Regierungen, die sich bei vielen Entscheidungen ein Vetorecht einräumen, dem auch oft genug nachgegeben wird. Man kann aber schon sagen, dass ICANN einen Multi-Stakeholder-Ansatz in dem Sinn verfolgt, als auch zivilgesellschaftliche Akteure in den einzelnen Zuständigkeitsbereichen eine grosse Rolle spielen und sogar im Direktorium vertreten sind. Zwar ist die ICANN aus der direkten Aufsicht der US-Regierung entlassen – aber um den Preis, dass die Transparenzanforderungen und Rechenschaftspflicht in der Entwicklung einzelner Policies enorm hochgefahren wurden.

MEDIENWOCHE:

Immer wieder liest man von einer «Internet-Regierung». Wäre das überhaupt erstrebenswert? Internetpioniere wie John Perry Barlow träumten ja immer von einem herrschaftsfreien Raum der Kommunikation, in dem Staaten keine Rolle mehr spielen…

Hofmann:

Da ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Zum einen kann man sagen, dass diese Idee doch sehr stark libertär und westküstenspezifisch, aber für den Rest der Welt gar nicht so erstrebenswert war.

Überhaupt ist in den letzten Jahren immer mehr Leuten aufgefallen, dass für das Internet kulturelle Vielfalt und nicht notwendigerweise ein Technoliberalismus gelten sollte.

Wir haben in Europa andere kulturelle Normen als in den USA. Das merkt man schon beim Datenschutz, dessen Prinzipien bei uns viel stärker verankert sind. Aber auch im Umgang mit dem, was die Amerikaner als «free speech» bezeichnen: Die «free-speech»-Doktrin unterscheidet sich erheblich von unserem Verständnis von Meinungsfreiheit. Dass wir nationalsozialistische Symbole oder Verherrlichung des Nationalsozialismus strafrechtlich verfolgen, stösst bei den Bürgern hierzulande auf Zustimmung. In den USA wird man das anders bewerten.

MEDIENWOCHE:

Könnte das Facebook Oversight Board mit Fachleuten aus Ländern mit ganz unterschiedlichen Rechtstraditionen ein Modell sein für die Regulierung von Plattformen?

Hofmann:

Ich würde nicht sagen, dass die Communitys reguliert werden sollten. Aber ich bin der Meinung, dass wir die Entscheidungsmacht von Plattformen einer Aufsicht unterwerfen müssen. Ich plädiere dafür, dass Räte, wie wir sie aus dem Rundfunk oder Fernsehen kennen, für das digitale Zeitalter weiterentwickelt werden sollten. Das hat mit den Dilemmata zu tun, mit denen Medienpolitik immer konfrontiert ist: Medien üben Deutungsmacht aus. Die Regulierung dieser Deutungsmacht schafft wiederum neue Machtpositionen. Deshalb haben wir in Deutschland und anderswo die Tradition einer staatsfernen Medienregulierung. Wenn man das Gebaren der Plattformen künftig stärker rechenschaftspflichtig machen will, wäre es daher auch sinnvoll, gesellschaftliche Kräfte einzubinden, um die Macht, die der Medienregulierung innewohnt, zu dezentrieren.

MEDIENWOCHE:

Es gibt auch die Idee, das Internet als öffentlich-rechtliche Infrastruktur zu regulieren.

Hofmann:

Dass man das Internet als öffentlich-rechtliche Infrastruktur behandelt, würde ich für einen Fehler halten. Ich bin froh, dass das Internet auf offenen Standards beruht, die alle für sich nutzen können: Private wie Öffentliche. Ich fände es völlig unangemessen, ein einheitliches Regime für das Internet zu entwickeln. Plattformen wiederum, die ja Anbieter auf der Internet-Infrastruktur sind, sind sehr mächtig geworden. Nicht nur, weil sie viele Nutzerinnen haben, sondern auch, weil sie so viele Daten über sie sammeln.

Die Plattformen wissen potenziell mehr über die Präferenzen, Einstellungen und Verhaltensweisen von individuellen Nutzern als jede andere gesellschaftliche, staatliche oder wirtschaftliche Instanz.

Was mit diesen Daten passiert, wie sie genutzt werden dürfen, wie Algorithmen programmiert werden, wie sie eingesetzt werden – das sind Fragen, von denen ich finde, dass man sie nicht den Plattformen allein überlassen sollte. Aber es wäre auch keine gute Idee, wenn hier Regierungen zu Aufsichtsinstanzen werden und sich damit selbst eine neue Machtposition verschaffen.

MEDIENWOCHE:

Dank der Datenschutzgrundverordnung können Nutzer in Europa gegenüber Plattformen Rechte geltend machen, etwa die Löschung ihrer Daten verlangen. Selbst China, das seine Bürger lückenlos überwacht, wird demnächst ein Datenschutzregime auf den Weg bringen, um die Macht der Tech-Konzerne zu begrenzen. Was ist damit gewonnen?

Hofmann:

Praktisch ist es ja so, dass die Nutzerinnen gar nicht viel entscheiden können, sondern nach wie vor ihre Daten herausgeben, weil man auf Plattformen nicht mehr verzichten kann. Selbst wer nicht Nutzer bei Facebook ist, wird indirekt mitverfolgt. Man entkommt dem Tracking nicht. Meiner Meinung nach greift die Datenschutzgrundverordnung in wichtigen Bereichen nicht, weil sie genau diesen Mechanismus – nämlich, dass wir Dienste mit unseren personenbezogenen Daten bezahlen – nicht ausser Kraft setzt.

MEDIENWOCHE:

Müsste der Staat mehr Zähne zeigen? Bräuchte es ein strengeres Datenschutzregime? Oder muss man am Ende darauf hoffen, dass Facebook irgendwann vom Markt verschwindet?

Hofmann:

Ich glaube nicht, dass die Plattformen wieder verschwinden werden, sie etablieren sich vielmehr dauerhaft als digitales Organisationsprinzip. Es sei denn, die Werbetreibenden stellen irgendwann fest, dass die digitale Werbung rausgeworfenes Geld ist. Solange das nicht eintritt, geben die Nutzungs- und Bewegungsprofile Dritten eine potenziell sehr grosse Macht über uns, die zudem unsere informationelle Selbstbestimmung aushebelt. Da würde ich mir wünschen, dass wir mittelfristig neue Regelungen schaffen, die dieses Geschäftsmodell unattraktiv machen oder sogar verbieten. Dafür bräuchte man aber ein Umdenken im Datenschutz.

MEDIENWOCHE:

Was meinen Sie genau?

Hofmann:

Die Digitalisierung nimmt zunehmend einen infrastrukturellen Charakter an. Nehmen wir als Beispiel das Auto. Das verwandelt sich nach und nach selbst in einen Computer und sammelt als digitalisiertes Fahrzeug beständig Daten. Auch wenn es sich nicht um personenbezogene Daten handelt, summieren sich diese Daten zu Bewegungsprofilen. Das Auto ist ein Beispiel dafür, dass die Unterscheidung zwischen personen- und nichtpersonenbezogenen Daten häufig nicht mehr sinnvoll ist. Und es ist auch ein Beispiel dafür, dass wir häufig nicht länger die Freiheit haben, uns gegen eine Nutzung unserer Daten zu entscheiden. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir den Datenschutz grundlegend anders denken.

Wir müssen Entscheidungen vom Individuum wegnehmen und in kollektive Aushandlungsprozesse überführen.

MEDIENWOCHE:

Klingt nach Bevormundung.

Hofmann:

Ich glaube nicht, dass die Würde des Menschen dadurch gekränkt wird, wenn wir die Zustimmung zur Datennutzung nicht mehr individuell entscheiden, sondern diese an Dritte wie Verbraucherschutzorganisationen delegiert wird.

MEDIENWOCHE:

Das Internet hat sich in den letzten 20 Jahren rasant entwickelt. Wenn wir uns die Entstehung der «bürgerlichen Öffentlichkeit» im 18. oder 19. Jahrhundert anschauen, waren das meist elitäre Debattierzirkel und exklusiveMännerclubs. Heute haben wir eine viel partizipativere, inklusivere Öffentlichkeit. Jeder kann sich mit einem Hashtag in den politischen Prozess einklinken. Trotzdem beklagen manche eine Empörungskultur, die kritische Stimmen mundtot machen wolle. Stichwort Cancel Culture. Kann man sagen: Die Öffentlichkeit heute ist besser als die vor 200 Jahren?

Hofmann:

Auf jeden Fall. Es gibt ja zurzeit eine anhaltende Diskussion darüber, ob wir eine Schwächung oder Stärkung der Demokratie erleben. Man kann nicht umhin festzustellen, dass sich unser Zugang zu Informationsquellen durch das Internet enorm ausgedehnt hat. Wir verdanken der bidirektionalen Kommunikation viel: Etwa, dass sich heute alle öffentlich äussern können und wir das Modell eines weitgehend passiven Publikums, das durch die Massenmedien mit Informationen versorgt wird, hinter uns gelassen haben. In diesem Sinne erleben wir eine enorme Bereicherung der öffentlichen Sphäre. Was man zugestehen muss, ist, dass nicht alle gleichermassen davon profitieren. Wir sehen nicht nur im Zugang, sondern auch in der Nutzungskompetenz erhebliche Unterschiede.

Die empirische Forschung zeigt, dass Menschen mit einem schwachen Bildungshintergrund vom Internet weniger profitieren als diejenigen, die eine gute Ausbildung bekommen haben.

Die Digitalisierung erzeugt in dieser Hinsicht erhebliche Verstärkereffekte. Weil alle eine Stimme haben im Digitalen, haben sich auch die Grenzen des Sagbaren extrem ausgedehnt. Wir sehen eine Normalisierung von Aggression und unzivilem Verhalten im Internet, die wirklich unschön ist. Trotzdem: Man muss die Kirche im Dorf lassen. Wenn man sich die empirischen Daten anschaut, stellt man fest, dass 80 bis 85 Prozent von Falschmeldungen und Desinformationskampagnen von einem Prozent der Nutzerinnen weiterverbreitet werden. Wir geben diesem Problem in der Öffentlichkeit einen grossen Raum und übersehen, dass es sich um einen relativ kleinen Kreis von Nutzerinnen handelt.