von Nick Lüthi

Giuseppe Scaglione: «Eine Branche, die keine Innovationen hervorbringt, ist irgendwann tot.»

Es sei höchste Zeit, UKW abzuschalten, findet Radiounternehmer Giuseppe Scaglione. Die Herausforderungen der Digitalisierung seien zu gross, als dass man sich mit einer veralteten Technologie aufhalten könne.

Seit Wochen weibelt Radiopionier Roger Schawinski für den Weiterbetrieb von UKW. Ein anderer Radiopionier findet das keine gute Idee. Giuseppe Scaglione, der einst mit «Radio 105» das erste Jugendradio in den Schweizer Äther gebracht hatte, drängt darauf, dass UKW per Anfang 2023 abgeschaltet wird – wie das die Schweizer Radiobranche vertraglich festgehalten hat. Mit seinem eigenen Musiksender «my105», den Scaglione nach dem Konkurs von «Radio 105» gegründet hatte, verbreitet er das Programm im Internet und via DAB+. Ein baldiges Ende von UKW wäre für den Radiounternehmer ein wichtiges Signal, damit die Branche den Blick nach vorne richtet und den Herausforderungen der Digitalisierung in die Augen sieht. Welche Rolle DAB+ spielen soll und warum er trotz Spotify mit seinem Musikradio eine wachsende Hörerschaft findet, sagt Giuseppe Scaglione im Gespräch mit der MEDIENWOCHE.

MEDIENWOCHE:

In einem Interview sagten Sie 2013: «Die digitale Revolution kommt, UKW ist in fünf Jahren tot.» Wovon gingen Sie damals aus?

Giuseppe Scaglione:

Ich habe diese Aussage nicht unbedingt darauf bezogen, dass UKW durch DAB+ abgelöst wird. Ich sah einfach, was mit Streaming läuft, mit dem Medienkonsum generell, vor allem bei der jüngeren Zielgruppe, wo praktisch niemand mehr weiss, was UKW überhaupt ist. Heute hören nur noch zwölf Prozent der Bevölkerung ausschliesslich über UKW Radio. Und man sieht ja auch, dass die UKW-Abschaltdebatte vor allem ältere Leute interessiert.

MEDIENWOCHE:

Für Sie persönlich ist UKW Geschichte. Ihr aktueller Sender «my105» verbreitet das Programm nur noch via Internet und DAB+. Erleben Sie das als Vorteil oder als Nachteil?

Scaglione:

Es ist definitiv ein Vorteil, dass wir beim Neustart einzig und allein auf die digitale Karte gesetzt haben. Es zwingt einen, sich klarer zu positionieren, weil der Wettbewerb viel härter ist. Heute sind wir so klar positioniert, wie wir das noch nie waren und wir haben kein Publikum verloren, sondern dazugewonnen. Wenn mir jemand eine UKW-Frequenz schenken wollte, würde ich mir das zweimal überlegen. Vom Image her würde das gar nicht zu uns passen. Auch unsere Kunden würden das nicht verstehen. UKW ist alles andere als sexy.

MEDIENWOCHE:

Seit ein paar Wochen stellt Roger Schawinski den Abschalttermin für UKW per Anfang 2023 lautstark in Frage. Hat Sie das überrascht?

Scaglione:

Mich hat es anfänglich schon überrascht, dass es Roger Schawinski 30 Sekunden vor zwölf noch einfällt, dass er das nicht so toll findet. Aber das ist wahrscheinlich genau sein Kalkül. Von 44 UKW-Radios in der Schweiz haben 42 die Vereinbarung mitunterzeichnet, welche eine koordinierte Abschaltung vorsieht. Schawinski ist einer der zwei, die das nicht wollten. Wenn er seine Zukunft in der Vergangenheit sieht, muss er das für sich wissen. Mich hat mehr überrascht, dass er seitenweise Medienaufmerksamkeit kriegt.

Während die Entwicklung mit Apps, Alexa, Smartspeaker, Smart TV rasant weiterdreht, diskutieren wir nun über ein 1970er-Jahre-Szenario.

MEDIENWOCHE:

Ein wichtiges Argument von Schawinski ist die anhaltende Radionutzung via UKW, insbesondere unterwegs im Auto. Was spricht dagegen, noch ein paar Jahre zu warten, bis die Nutzung gegen null tendiert?

Scaglione:

Eines ist klar: UKW kann nicht die Zukunft sein. Die ist digital – egal ob Streaming, DAB+ oder andere, neue Technologien. Das ist ein Fakt. DAB+ bietet die Chance, um auf dem fahrenden Zug, der in brutal hohem Tempo in Richtung Digitalisierung unterwegs ist, noch eine wichtige Rolle zu spielen. DAB+ ermöglicht zu vergleichsweise geringen Kosten eine grössere Programmvielfalt in grösseren Sendegebieten. Trotzdem ist die Konkurrenz dort noch überschaubar und nicht so gross wie im Internet. Auf DAB+ können zudem neue Formate, auch nationale Nischenprogramme entstehen. Auf UKW ist hingegen keine Entwicklung mehr möglich. Wo gab es auf UKW in den letzten 20 Jahren, abgesehen von meinem «Radio 105», irgendwo eine Innovation? Eine Branche, die keine Innovationen hervorbringt, ist irgendwann tot.

MEDIENWOCHE:

Sie haben die Vielfalt angesprochen. Es gibt auf DAB+ mehr Sender. Was heisst das für die Werbung? Teilen sich mehr Akteure den gleichen Kuchen oder wird der Kuchen grösser?

Scaglione:

Am Anfang bleibt der Kuchen gleich gross. Aber längerfristig müsste der Kuchen wachsen, gerade in der Schweiz.

Der Radiomarkt ist hier völlig unterentwickelt. Das hängt auch damit zusammen, dass es in der Schweiz nie nationale kommerzielle Sender gab.

In den Radioprogrammen der SRG, die zwar national sind, ist aber Werbung verboten, im Gegensatz zu anderen Ländern, wo es auch Werbung in öffentlich-rechtlichen Programmen gibt.

MEDIENWOCHE:

Sie finden also, die SRG müsste als Zugpferd vorangehen, damit sich der Radiowerbemarkt vergrössert?

Scaglione:

Das war schon immer meine Haltung. Damit habe ich mir natürlich nicht nur Freunde gemacht. In einer ersten Phase würde es vielleicht eine Umverteilung zugunsten der SRG geben und zu Lasten einzelner Privater. Aber längerfristig würde die ganze Branche profitieren. So ist es auch in Deutschland, wo es in den Radioprogrammen der ARD seit jeher Werbung gibt.

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MEDIENWOCHE:

Die Debatte um die Zukunft von UKW dominiert Roger Schawinski. Die Radios, die UKW in den kommenden Jahren abschalten wollen, aber auch die SRG oder das Bakom, verteidigen ihre Strategie kaum öffentlich. Ist das die richtige Reaktion?

Scaglione:

Nein, es ist die falsche Reaktion, aber eine, die man häufig beobachten kann: aussitzen und hoffen, dass der Sturm mal vorbeigeht. Inzwischen wäre es höchste Zeit, dass man von der SRG und vom Bakom mal Klartext hört. Das fände ich schon noch wichtig. Da machen es sich gewisse Leute ein bisschen zu einfach.

MEDIENWOCHE:

Warum wäre das so wichtig?

Scaglione:

Treu und Glauben sind für mich einer der wichtigsten Grundsätze. Wenn ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, dass eine Abmachung gilt, dann haben wir verloren. Vielleicht bin ich da etwas altmodisch. Die Abschaltung von UKW wurde lange diskutiert und besprochen.

Es ist ja nicht ein Hinterzimmerdeal, wie das Schawinski erzählt. Blödsinn! Der Prozess wurde bereits 2014 auf den Weg gebracht und ausführlich diskutiert.

Am Schluss kam man zu einer Einigung und unterzeichnete eine Vereinbarung. Auf dieser Grundlage haben viele, gerade auch kleinere Radios in die DAB+ Verbreitung investiert.

MEDIENWOCHE:

Inwiefern haben Sie als Betreiber eines Senders, der sein Programm nur via DAB+ und Internet verbreitet, ein Interesse, dass UKW bald abgeschaltet wird?

Scaglione:

Erst wenn UKW abgeschaltet ist, kommt der Werbemarkt auf DAB+ richtig in die Gänge. Im Moment fristet die Radiowerbung auf DAB+ noch ein Nischendasein, weil die grossen Vermarkter weiterhin auf UKW setzen.

MEDIENWOCHE:

Aber warum DAB+? Mit Internet-Streaming erreichen Sie doch das junge Zielpublikum ihres Senders viel besser.

Scaglione:

Das stimmt: Aktuell ist es tatsächlich so, dass Streaming unser wichtigster Verbreitungsweg ist. DAB+ ist für mich jedoch eine interessante Technologie als Ergänzung zum Streaming, weil sie über ein Netz läuft, das von der Telekom- und Smartphonebranche unabhängig ist. Es ist nicht Internet und doch digital. Dass die Radiobranche ein eigenes, digitales Netz aufgebaut hat, erachte ich als einen strategischen Vorteil. Ich war immer getrieben von der Medienfreiheit. Ich wollte einfach nicht einsehen, warum ich gehindert werden soll, mein Radioangebot zu den Leuten bringen. Heute gibt es immerhin verschiedene Möglichkeiten dazu.

MEDIENWOCHE:

Seit einem Jahr engagieren Sie sich im Vorstand des Branchenverbands Unikom, der ursprünglich von nicht-kommerziellen Alternativradios gegründet wurde. Inzwischen sind dort auch werbefinanzierte Digitalsender wie Ihr «my105» vertreten. Was verbindet Sie mit einem Radio LoRa?

Scaglione:

Wir stehen beide abseits des Mainstreams. Natürlich bin ich mit «my105» wesentlich kommerzieller aufgestellt als ein LoRa. Ich engagiere mich im Unikom-Vorstand, weil ich gesehen habe, dass sich der Verband für neue Anbieter engagiert und für neue Technologien offen ist. Ausserdem hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl, dass es da kein Hickhack gibt und keine Missgunst wie in anderen Verbänden. Das hat mich überzeugt.

MEDIENWOCHE:

Sender wie LoRa überleben nur dank der Medienabgabe. Sie waren für die «No Billag»-Initiative und wollten die öffentliche Medienfinanzierung abschaffen. Wie passt das zusammen?

Scaglione:

Ich wollte die öffentliche Medienfinanzierung nicht grundsätzlich abschaffen. Es war immer meine Haltung, dass Programme, die nicht durch den Markt finanzierbar sind und gleichzeitig einen wertvollen Beitrag für die Medienvielfalt leisten, öffentlich finanziert werden sollen. Auch bei Sendern in Randregionen ist für mich klar, dass die sich nicht zu 100 Prozent aus dem Markt finanzieren können. Bei der SRG hat mich dagegen immer gestört, dass man nie eine konkrete Debatte über deren Service public geführt hat, was dazu gehört und was nicht. Das ist bis heute so.

MEDIENWOCHE:

Neben den Radios hat sich längst eine neue Audiowelt etabliert mit globalen Plattformen wie Spotify. Wo sehen Sie den Mehrwert von kuratierten Musik-Streams, wie sie Ihr Sender «my105» anbietet?

Scaglione:

Was wir machen, habe ich auf Spotify so noch nicht gefunden. Und das trifft auf ganz viele andere Leute auch zu. Sonst hätten wir nicht diese Zuwachsraten. Irgendwas muss also dran sein. Ein grosser Unterscheid ist der, dass wir eine Art Filterfunktion wahrnehmen. Die Musik wird von Musikexperten und DJs kuratiert, ausgewählt, zusammengestellt. Klar, ein Algorithmus macht das auch. Aber wir bringen das Radiofeeling so gut rüber, wie das kein Streamingdienst kann. Es geht um Details. Wir sind extrem detailverliebt. Das fängt damit an, dass wir jeden Song bearbeiten. Kein Song beginnt bei uns so, wie man ihn auf Spotify hört und hört auch nicht so auf.

Wir nehmen praktisch jeden Song in die Hände und bearbeiten den Anfang und den Schluss, damit es so klingt, wie bei einem DJ-Mix mit einem perfekten Übergang und einem einzigartigen Musikfluss.

Das ist ein Feeling, das die Leute schätzen und Spotify und die anderen Streaminganbieter bisher so nicht bieten können. Kommt dazu, dass wir von zahlreichen Songs spezielle Remix-Versionen von DJs spielen, die man auf Streaming-Diensten ebenfalls nicht findet – und auf anderen Radiostationen schon gar nicht. Das ist unsere Existenzberechtigung. Was man auch nicht unterschätzen darf, ist der gemeinsame Moment. Mit Spotify hat ja jeder seinen individuellen Content. Es gibt gar kein Gemeinschaftserlebnis mit den anderen.

MEDIENWOCHE:

Wir haben das Gespräch mit eine Prognose zu UKW angefangen, hören wir auch damit auf: Wann wird UKW-Radio aus dem Äther in der Schweiz verschwinden?

Scaglione:

Sie stellen eine einfache Frage , aber die Antwort ist komplex. Ein grosser Teil der Bevölkerung hat sich bereits von UKW verabschiedet und jetzt soll ein schon fast toter Patient künstlich am Leben erhalten werden. Inzwischen ist es eigentlich irrelevant, ob UKW offiziell in zwei, fünf oder zehn Jahren abgeschaltet wird. Es ist wie beim Videorekorder. Wer hat heute noch ein VHS-Gerät, wer benutzt das noch? Auch wenn das offizielle Ende nie verkündet würde: Das Publikum ist schon abgewandert. Die zwölf Prozent, die heute noch ausschliesslich UKW hören sind in einem Jahr nur noch acht und dann noch fünf. Das erledigt sich von alleine. Aber ich würde mir nach wie vor wünschen, dass es ein starkes und klares Signal gibt von der Branche und von der Politik. In der Politik lassen sich derzeit viele verunsichern oder gar einspannen von Schawinski und seinem Lärm. Aber die Politik sollte eigentlich in die Zukunft schauen und nicht in die Vergangenheit und sie sollte Rahmenbedingungen schaffen für eine digitale Radiowelt. UKW zu bewahren, gehört da definitiv nicht dazu.

Bild: zVg

Leserbeiträge

Manuel Dähler 23. Juni 2021, 12:54

Ich gebe Giuseppe Scaglione Recht: Das Radio muss nach vorne blicken, die Zukunft liegt nicht in der UKW. Und die Argumentation von Roger Schawinski, mit der er alle aufschreckt, greift zu kurz: Egal wie lange UKW in Betrieb bleibt, es wird bis zum letzten Tag Hörerinnen und Hörer geben, die ausschliesslich über UKW hören – sie werden erst nach der Abschaltung umsteigen. Dieses Phänomen konnten wir bisher jedes Mal beobachten, wenn eine Technologie nach einem Parallelbetrieb abgeschaltet wurde. So verloren beispielsweise die TV-Sender von RTS bei der Abschaltung des terrestrich-analogen Fernsehens in der Suisse Romande 8% technische Reichweite – über Nacht! Bis zum letzten Tag sahen viele Romands im Jura per Zimmerantenne fern (weil auch noch französische Sender terrestrisch verbreitet wurden). Wir konnten dann beobachten, dass etwa die Hälfte der betroffenen Haushalte auf Satellitenempfang wechselte, und die andere Hälfte auf die Verbreitung per Telefonanschluss.

Eine kleine Anekdote dazu: Einer der Techniker, die das TV-Messpanel pflegten, erzählte, dass ein Haushalt den untersten Teil des Bildschirmes überklebt hatte, weil sich die Leute durch die Laufschrift gestört fühlten. Dies Laufschrift besagte in etwa: „Achtung, die Verbreitung dieses Senders über Antenne wird am 29. Juni eingestellt!“ Natürlich verpasste dieser Haushalt den Termin und guckte am 30. Juni in die schwarze Röhre.