von Benjamin von Wyl

Das Zentrum ist überall: Mit Andreas Mösli in Winterthur

Winterthur ist die sechstgrösste Stadt der Schweiz – doch warum steht in jedem Artikel «Winterthur ZH», als wüssten die Leser:innen nicht, dass Winterthur im Kanton Zürich liegt? Ein Spaziergang durch eine Stadt, wo die Medien mit dem Wachstum der Stadt nicht mithalten konnten.

«Am Stadttor» sollen wir uns treffen. Aber wer kommt denn auf die Idee, dass das direkt bei der Bahnhofsunterführung ist? Die weisse Verschalung über dem Bahnhoftreffpunkt ist das Tor zur sechstgrössten Stadt der Schweiz. Fotografin Elisabeth Egli hantiert mit ihrer Kamera – so erkenne ich sie schnell. Gemeinsam finden wir dann Andreas Mösli. Dieser fände ein Kafi to go nett, weshalb wir direkt nochmal zurück in die Unterführung gehen. Den besten Kafi biete hier das «Spettacolo», sagt Mösli. Die Filiale ist so versteckt «im Underground», dass man sie beinahe als Geheimtipp bezeichnen könne.

«Mein ganzes Leben hat sich hier abgespielt», erzählt Mösli wieder auf dem Bahnhofplatz, mit Kaffee versorgt. «Ich bin gerne in Winterthur und erlebe die Stadt als Ort, wo ich mit globalem Bewusstsein im kleinen Rahmen etwas bewirken kann.» Die letzten 20 Jahre hat das Mösli vor allem als Geschäftsführer des FC Winterthur getan.

Während sich der Super-League-Fussball zunehmend dem Komplettkommerz preisgab, arbeitete der FC Winterthur daran, sich als sympathischen Mitfieber-Verein zu positionieren. «Erstklassig zweitklassig», war ein Claim, den Mösli geprägt hat – und der mit dem jetzt möglichen Aufstieg überholt werden könnte. Für den FCW arbeitet er heute als Mitglied der Geschäftsleitung und Mediensprecher. Trotzdem spricht Mösli nicht nur über Fussball. Mösli wirkt wie ein Mensch, der viele Leben in sich vereint.

Ja, Punk-Musiker sei er auch mal gewesen, sagt er, bevor wir vom Bahnhofplatz in die Technikumstrasse einbiegen. Das war noch, bevor er «zufällig Journalist» geworden sei. In der «Winterthurer Arbeiterzeitung» hatte er Anfang der 1990er-Jahre eine Annonce gesehen. Bis dahin beschränkte sich Möslis publizistisches Schaffen auf linke Flugblätter, doch er hat sich beworben und die Stelle bekommen. «Ich war dann der erste und letzte Volontär», sagt er. «Leider.»

Mösli redet gegen den Verkehrslärm an, erweckt mit seinen Worten die grün blinkenden Bildschirme, auf denen er vor 30 Jahren Texte getippt hat.

Er zeigt auf eines der Fenster eines massiven Bürobauses: «Da war mein Platz.» Im Parterre des Gebäudes arbeitet heute ein Coiffeur; im Keller ist ein Musik-Club, der sich als «stylische Wohlfühl-Party-Oase» bewirbt. Längst entstehen hier keine Zeitungen mehr. An die «Arbeiterzeitung» erinnern in der ehemaligen Arbeiter:innenstadt Winterthur vor allem noch die Industriegebäude.

Mösli redet gegen den Verkehrslärm an, erweckt mit seinen Worten die grün blinkenden Bildschirme, auf denen er vor 30 Jahren Texte getippt hat. Jeden Abend packten die Redaktor:innen eine Diskette, auf der die Artikel lagen, in ein Couvert, legten die selbst entwickelten Fotos dazu und brachten sie ans Gleis. Dort gaben sie dem Kondukteur das Rohmaterial für die Zeitung des nächsten Tages auf die Fahrt nach Schaffhausen mit. In Schaffhausen, in der Unionsdruckerei, entstand aus den analog gelieferten Daten dann erst die Zeitung. «Damals gab es ein linkes Mantelzeitungssystem, unter anderem mit der ‹DAZ – Die andere Zeitung› aus Zürich und der ‹Schaffhauser AZ›. In Schaffhausen haben die das auf Leuchttischen präpariert, Artikel geklebt, die Zeitungen gedruckt und nach Winterthur geliefert.» Im Rückblick findet es Mösli absurd, dass es in den Jahren darauf die arbeitnehmer:innenfreundliche «Winterthurer AZ» war, die als erste in der Stadt Apple-Computer anschaffte und auf Technik setzte, die zahlreiche Jobs in der Druckindustrie obsolet machte.

Es sei damals schon ums Überleben der Zeitung gegangen. Nach dem Volontariat wirkte Mösli als Redaktor und Arbeitnehmer:innenvertreter im Verwaltungsrat der Zeitung mit. Zwar hätten Politkenner:innen aus allen Lagern die AZ-Berichterstattung geschätzt, die Zeitung trumpfte mit vielen Primeurs. Doch nur 2000 Abonennt:innen reichten nicht, um sich auf dem Anzeigenmarkt durchzusetzen. Statt sechs Ausgaben gab es eine Weile lang deren drei, dann erschien sie noch einmal pro Woche. 1997 – 100 Jahre nach ihrer Gründung – versuchte es die AZ als «Stadtblatt». 2008 erschien dieses noch als sonntägliche Gratiszeitung. Dann war Schluss.

Möslis Erzählung aus einer anderen Zeit reicht bis in die Gegenwart, weil es bis heute in Winterthur bloss noch eine einzige Tageszeitung gibt. «Der Landbote» ist die älteste Tamedia-Zeitung, älter als der «Tages-Anzeiger», älter als «Der Bund». 1836 gegründet, wurde er ab 1860 «zum führenden Organ der Demokratischen Bewegung mit nationaler Bedeutung», wie es im Historischen Lexikon der Schweiz HLS heisst. Das HLS betont seine Bedeutung: «Anfang des 21. Jh. war der L. mit 46’427 Exemplaren (2001) die führende Zeitung in Winterthur und der näheren Region.» Aktuell beträgt die verkaufte Auflage laut WEMF gut 21’000 Exemplare.

Mösli zeigt auf das Gebäude diagonal über die Strasse. Bis in die 1960er habe es noch fünf lokale Tageszeitungen gegeben – so wie das freisinnige «Tagblatt»: Die Zeitung der politischen Rivalen hatte ihre Redaktion gleich gegenüber der AZ. Doch die FDP-Zeitung ging lange vor dem Ende der AZ im «Landboten» auf. Der setzte sich gegen alle anderen durch. Mösli sagt, es folgten bereits im 20. Jahrhundert Dekaden, in denen praktisch jeder Winterthurer Haushalt den «Landboten» abonniert hatte. Möslis Eltern seien im Laufe der 1970er von der AZ zum «Landboten» gewechselt, weil in der Arbeiterzeitung unter anderem die Todesanzeigen fehlten.

Die Winterthurer Tagi-Redaktion war im Rückblick eine Zwischenphase der Medienkonzentration.

Wir biegen links in den Neumarkt ab. Der «Neumarkt» in St. Gallen oder Brugg ist ein klobiges Einkaufszentrum. In Winterthur ist der Neumarkt noch ein richtiger Wochenmarkt: ein Gewusel. Nicht nur Käse, Gemüse und Gebäck wechseln gerade die Besitzer:innen, sondern auch ein «Surprise»-Magazin. Der Verkäufer sei sehr engagiert. Ein paar Schritte weiter bleibt Mösli stehen. Wenn man über den Platz in die Gasse hineingucke, sehe man die Fassade, gleich hinter jener des Restaurants «Trübli». Dort habe die «Tages-Anzeiger»-Redaktion gearbeitet. Eine «Tages-Anzeiger»-Redaktion in Winterthur? Auf dem Markt grüssen manche Mösli im Vorbeigehen. Heute ist er ein bekanntes Gesicht in der Stadt, Wegbereiter eines neuen Lokalgefühls – Ende der 1990er-Jahre arbeitete er, nach einigen Jahren als freier Journalist, für die Dependance der Stadtzürcher Zeitung. Zu fünft produzierte das Tagi-Team hinter dem «Trübli» eine Winterthur-Seite für jede Ausgabe. «Der Tagi hatte hier nie eine Chance.» Die Winterthurer Tagi-Redaktion war im Rückblick eine Zwischenphase der Medienkonzentration: Bevor Tamedia den «Landboten» übernommen hat, konkurrenzierte sie ihn. In Möslis Erinnerung besass Tamedia bereits damals einen grossen Stoss «Landbote»-Aktien. Jedenfalls war Tamedia bereits Minderheitsaktionärin, bevor sie vor knapp zehn Jahren den «Landboten» für 50 Millionen Franken gekauft hat.

Wer sich wirklich für das Weltgeschehen interessierte, hatte je nach politischer Schattierung ein Abo von NZZ oder «Tages-Anzeiger», doch im Lokalen dominierte der «Landbote». «Damals beim Tagi haben wir uns gefragt, was wir hier eigentlich machen. Vielleicht war es Verlagspolitik: Es ging darum, in Winterthur Druck zu machen.» So oder so wurde die Winterthur-Seite im «Tages-Anzeiger» wieder eingestellt, Mösli ist gegangen und seit 2002 beim FC Winterthur, also auf der anderen Seite. Auf jener, die interviewt wird.

«Hey, sorry: Sind wir ein unbekanntes Dorf, irgendwo in den Bergen? Haben wir einen komischen Namen?»

Anfangs, als der FC Winti in Schulden ersoff, war das Interesse noch bescheiden. Mit der Zeit stabilisierten sich die Verhältnisse und auch das Medieninteresse stieg. «Je mehr Interviews ich geben musste – gegenüber ‹Radio Top›, Gratiszeitungen oder zuletzt Formaten wie ‹Nau.ch›, desto öfters machte ich die Erfahrung, dass diese Medien eine ganz andere Welt sind.» Junge Leute ohne Erfahrung und nach Möslis Eindruck ohne seriöses Grundwissen über Journalismus, ohne Hintergrundkenntnisse, stellen oberflächliche Fragen. «Es sind auch schon Leute gekommen, die offen zugaben, dass sie was über den FCW machen müssen, aber nicht wissen, was da gerade wichtig ist. Die kommen dann so: ‹Kannst du mir schnell sagen, was das Thema ist?›» Diejenigen, die ihm Informationen entlocken sollten, fragen stattdessen ihn, was sie fragen sollen. «Journalistisch ist das eine Katastrophe.» Die lokalen «Top»-Medien – also ‹Radio Top›, ‹Tele Top› und ‹Top Online› – würden ohnehin oft dann etwas machen, wenn er einen Facebook-Post erstelle.

«Die bedienen Schaffhausen, Winterthur, Thurgau, St. Gallen. Das geht mit der Idee des Lokalen gar nicht zusammen: Der Winterthurer nervt sich, wenn er die ganze Zeit Thurgauerdeutsch hört. Der Schaffhauser nervt sich über den FCW. Der St. Galler fragt sich, was interessiert mich ein Museum in Schaffhausen.» Doch diese Probleme in der Ausrichtung seien im Konzept des Medienhauses anscheinend zweitrangig. Dieses setze auf ein grosses Einzugsgebiet für niedrige Kosten. Immerhin, werfe ich ein, haben die «Top»-Medien Winterthur zur Hauptstadt der Ostschweiz erkoren.

«Das siehst vielleicht du so!» In der Ostschweiz nenne man die Winterthurer:innen Zürcher:innen. «Nein, sorry, es ist manchmal peinlich.» Es geht nun ums Grundsätzliche: Er habe es gerade wiedermal gelesen, in einem Artikel über das geplante Holzhochhaus in Winterthur. «Es ist das höchste Holzhaus der Welt – und wo steht es? In ‹Winterthur ZH›. Hey, sorry: Sind wir ein unbekanntes Dorf, irgendwo in den Bergen? Haben wir einen komischen Namen?», ärgert sich Mösli. Warum brauche es bloss dieses «ZH»? «Die Medien schreiben immer ZH, um zu sagen, wo Winterthur ist. Wenn du mal auf der Autobahn in Richtung Winterthur fährst …» Mösli ist ein mächtiger Redner, doch nun unterbricht ihn Fotografin Elisabeth Egli: «Hey, es ist ewig nicht angeschrieben!» Am Wochenende führ die Wahlwinterthurerin zuletzt von Luzern nach Winterthur. «Auf den Autobahnschildern erscheint München vor Winti.» Nicht mal den Autofahrer:innen wird Winti bekannt gemacht.

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118′000 Menschen leben in Winterthur, das sind keine 20′000 weniger als in Bern. In Luzern, als nächstkleinere Stadt, sind es nur um die 80′000. Aber Winterthur ist nicht nur die sechstgrösste Stadt der Schweiz, sondern auch mit Abstand die grösste, die keine Kantonshauptstadt ist.

Wir versperren Passant:innen den Weg zum Gemüsestand. Ein paar Schritte zur Seite, doch zum Thema hat Mösli noch einiges zu sagen: «Früher waren wir wirklich ein verschlafenes Nest!» In seiner Jugend habe es ein wahnsinnig schwaches kulturelles Angebot gegeben. Clubs wie das Salzhaus sind erst in der zweiten Hälfte der 1990er entstanden. «Wollten wir in den 80er-Jahren ein Konzert organisieren, hatten wir keine andere Wahl als Häuser zu besetzen. Hey, um elf sind die meisten Beizen zugegangen, um elf!»

In dieser Stadt geht es mit den Medien bergab – und mit dem gesellschaftlichen Leben trotzdem bergauf.

Doch in den letzten Jahrzehnten habe Winterthur eine neue Identität gefunden, die vielen gefalle: «In den 90ern waren wir etwa so gross wie St. Gallen. Die schrumpfen und wir wachsen.» Viele schätzen Winti für die Gleichzeitigkeit von städtischer Anonymität und Dorfcharakter. «Nur die Winterthurer Medien haben eine negative Entwicklung genommen.»

Mösli nimmt den letzten Schluck Kafi, er ist wohl längst kalt – aber während dem vielen Reden kam er kaum zum Trinken. Ich drehe mich um: ein belebter Markt, viele Stände – unter jene, die einkaufen, mischen sich langsam die, die die Mittagspause haben. Um uns herum wird locker geschwatzt. Der öffentliche Raum lebt. In einer Stadt geht es mit den Medien bergab – und mit dem gesellschaftlichen Leben trotzdem bergauf. Winterthur ist lebendig, selbst wenn die Medien Politik und Gesellschaft seltener spiegeln.

«Der Landbote versucht zu bestehen.» Aber er ist in einer schwierigen ökonomischen Lage und besteche nicht durch Aussergewöhnliches, findet Mösli. Die Politkommentare seien ok geschrieben, aber kaum je originell. Während früher ein Bericht kam, wenn die U18-Fussballmannschaft des FC Winterthur gegen St. Gallen antrat, werde immer mehr auch das Kleine, Lokale weggespart.

«Es ist halt wirklich unser Problem, dass wir im Schatten der Medienhauptstadt Zürich stehen.»

Die Zeitung bewege sich aus der Stadt, ganz konkret. Noch immer stehen wir am selben Ort, nah am Gemüsestand auf dem Neumarkt, wo wir vorhin den Weg versperrten. Erst jetzt macht Mösli klar, dass wir aus einem Grund hier sind: Er zeigt Richtung Kirche. Da, direkt neben der Kirche, «aber mit ideologisch grösstmöglichem Abstand zur Kirche» war die «Landbote»-Redaktion. Am Garnmarkt 1. Hier ist die Zeitung immer gewesen. Jetzt ist sie weg. «Der Standortwechsel ist für mich sinnbildlich. Irgendwann wird der ‹Landbote› verschwinden.»

Mösli hält es für grundsätzlich falsch, dass man Medien ökonomisch gleich behandelt «wie Bäckereien oder irgendwelche Betriebe». Seiner Meinung nach müsste man sie als öffentliches Gut betrachten, ihre Unabhängigkeit schützen und sie «aus der kapitalistischen Ordnung nehmen». Journalismus müsse an Qualität, nicht an Profittabellen gemessen werden. «Wenn ich heute ein Interview zum Gegenlesen bekomme, stehen oft Sachen drin, die ich nie gesagt habe.» Winterthur spüre die Medienkrise besonders. «Es ist halt wirklich unser Problem, dass wir im Schatten der Medienhauptstadt Zürich stehen.» Zürich, das sei eine mondäne Weltstadt. Winterthur ist das nicht, wolle das nicht sein und das sei auch gut so.

Der Tagi bringe einmal pro Woche was «für die Winterthur-ZH-Fraktion», also Winterthur-Berichterstattung für Nicht-Winterthurer:innen. Neben dem Landboten gebe es «keine Winterthurer Zeitung». Ausser natürlich die «Winterthurer Zeitung»: Diese wöchentliche Gratiszeitung gehört zum «Blocherimperium». Mösli hat nicht das Gefühl, dass sie politischen Journalismus mache. «Viele People-Geschichten und Beiträge über Ladeneröffnungen. Sie prägt keine Debatten.» Unter den Gratis-Anzeigern gibt es immerhin Konkurrenz: Ehemalige der «Winterthurer Zeitung» schlossen sich in der Lokalmedia AG zu «84xo» zusammen. Der Name verweist auf die Postleitzahl 8400, gleichzeitig soll es ein Smiley sein. «Die haben schon den Anspruch Journalismus zu machen, aber ihr politisches Gewicht ist klein und die Mittel bescheiden.» Bei beiden Anzeigeblättern sei der Journalismus bloss Beiprodukt.

Gab es denn wenigstens eine Lokalgeschichte aus Winterthur in den letzten Jahrzehnten, wo er gesagt hat: Hut ab?

Wir passieren die zentrale Altstadtachse, das «Untertor», biegen beim Stadtgarten links ab. Mösli zeichnet ein düsteres Bild der lokalen Medienlandschaft. Ich glaube ihm – als Mediensprecher des wichtigsten Sportvereins hat er ja keinen Grund, die Medien schwach zu reden, mit denen er regelmässig zu tun hat. Doch trotzdem: Gibt es keine Hoffnungsschimmer? Mösli winkt ab.

Gab es denn wenigstens eine Lokalgeschichte aus Winterthur in den letzten Jahrzehnten, wo er gesagt hat: Hut ab? «Jedenfalls keine, die mir in Erinnerung geblieben ist.» Der «Landbote» mache meist solide Arbeit. «Ich merke aber, dass es denen an Zeit fehlt. Ich weiss nicht, ob das an meinem journalistischen Hintergrund liegt oder ob das alle Leserinnen, Leser spüren.» Die Zeitung setze keine Themen und wenn nationale Medien Winterthur schlechtschreiben, bietet der «Landbote» für Möslis Empfinden zu wenig Paroli.

Vor vier Jahren ist in der NZZ eine grosse Geschichte erschienen, die das Quartier «Steig» als islamistische Hochburg zeichnete. Möslis Frau ist dort Lehrerin; der FCW hat sich immer wieder an Quartierprojekten beteiligt. Mösli kennt also die Nachbarschaft. Es gebe Probleme – wie im Zürcher Kreis 4 ebenfalls. Doch die NZZ habe einen einseitigen Blick vermittelt. «Ich kenne drei Leute von dort oben, die heute Nationalspieler sind. Darüber stand nie ein Wort in der NZZ.» Alles Kreative, Positive kam nicht vor. Wer den Artikel las, musste glauben, «Steig» sei voller Drogen und Terrorismus. «Diese Pseudo-Reportage weckte Bilder der Banlieues von Paris, pure Klischees. Da hätte der ‹Landbote› dagegenhalten müssen und das hat er zu wenig gemacht.»

Ich frage nach dem «Coucou-Kulturmagazin», kurz bevor wir in die graue Passage am Rand des Manor-Gebäudes schreiten. Das «Coucou» sei toll, unterstützenswert, aber stark auf Freiwilligkeit angewiesen. Wenn sich Freiwillige engagieren, sei es nie einfach die Qualität zu messen: Welche Masstäbe setzt man an? Dasselbe gelte auch für das Medium in der Villa, vor der wir nun stehen: «Da gibt es einige, die nuscheln.» «Radio Stadtfilter» sendet aus dem Dachstock des Stammsitzes einer alten Winterthurer Mäzen:innenfamilie.

Aber wo tauscht sich dieses neue lebendige Winterthur denn aus, wenn es kein Medium hat?

Mösli sitzt im Verwaltungsrat des Kultur- und Mitmachradios. Es sei ein tolles Projekt, erreiche einige zehntausend Personen. Migrantische Sendungen in verschiedenen Sprachen seien wichtig. Doch auch «Radio Stadtfilter» könne die mediale Lücke, die Mösli in Winterthur wahrnimmt, nicht füllen. Aber wo tauscht sich dieses neue lebendige Winterthur denn aus, wenn es kein Medium hat? Zumindest soweit Mösli weiss auch nicht auf Social Media.

Wo dann?

«Auf der Schützi!», platzt es aus der Fotografin heraus. Das Fussballstadion ist ein wichtiger Treffpunkt für Elisabeth Egli. «Alle möglichen Leute, auch aus der Kulturszene, sind da», sagt sie. «Ich merke es jedes Mal, wenn ich dort bin. Auf der Schützi triffst du alle: Viele, die mit meiner Arbeit zu tun haben, Freizeit, Freundinnen, Freunde.» In «Lozärn» wäre das anders. «Das liegt am FC Winti.» Nun stimmt auch Mösli ein. «Wir wollten den Verein als Plattform, als soziales Netzwerk aufbauen. Du kommst wegen dem Fussball, aber triffst einfach alle. Viele Informationen fliessen dort.»

«Radio Stadtfilter» in den gediegenen Räumen sitzt gleich gegenüber vom Bahnhof. Mehr als einmal stehen wir dem Busverkehr im Weg. So sehr die Altstadt mit Fussgänger:innen belebt ist, so dicht ist der Verkehr auf den Strassen um das Altstadtgeviert. Wir sind wieder dort, wo wir losgegangen sind. Die Route soll auf der anderen Seite des Bahnhofs enden: vor dem neuen Sitz der «Landbote»-Redaktion.

Auf der anderen Seite der Unterführung bewegen wir uns in einem Strom aus Studierenden und anderen Menschen in der Mittagspause. Mösli sagt, viele von denen kommen morgens in Winterthur an und fahren abends wieder weg. Egli entgegnet, dass viele auch bleiben. Mösli freut das.

Als wir die zur Fachhochschulbibliothek umgebaute Industriehalle hinter uns lassen, ist der Strom der Passant:innen nicht weniger dicht, aber weniger zielstrebig. Auf dem Sulzer-Areal fläzen Menschen in Strassenrand-Cafés und sehen dabei aus, als würden sie den ganzen Tag nichts anderes tun. Egli hat ihr Atelier hier. Es sei toll – nur ein Kiosk fehlt. Für Snacks, wenn die Arbeit mal länger dauert.

Dann, als die Budendichte schon wieder abnimmt, sehen wir rechts im zweiten oder dritten Stock eines grossen Gewerbehauses «Landbote»-Logos. Sie sind eher klein und bescheiden. Die Tamedia-Zeitung mit gut 30 Redaktor:innen besetzt ein ganzes Stockwerk. Unter dem Eingang steht ein Foodtruck, etwas abseits serviert «Badawi» ägyptisches Essen aus einer Art Hütte. Es ist kein totes Gewerbegebiet. Hier ist die Stadt am Entstehen und Ausprobieren, findet auch Mösli.

Ich frage zwei, die uns mit Auberginen und Reis beladenen Tellern entgegenkommen, ob sie beim «Landboten» arbeiten. Sie kommen mir bekannt vor. Die Angesprochenen bejahen. Sie mögen es, von hier aus zu arbeiten. Zwar sind sie nicht mehr in der Altstadt, aber das Areal sei ja lebendig. Vor kurzem seien noch die Journalist:innen des «Zürcher Unterländer» dazu gekommen – in Bülach gebe es nur noch ein kleines Büro. Eine Sparmassnahme, mit der Stellenabbau verhindert werden konnte. Die «Landbote»-Journalist:innen gehen mit ihren Tellern ab. Mösli und ich gehen auch essen. Wer bei «Badawi» kein Bargeld dabei hat, solle einfach das nächste Mal zahlen.

Von Bülach aus führt die Medienkonzentration nach Winterthur. Bülach ist eine 20′000-Einwohner:innen-Stadt, von Zürich und Winterthur jeweils etwa 20 Kilometer entfernt. Eine Stadt so gross wie Aarau oder Solothurn. Im Kanton Zürich stehen Städte so gross wie manche Kantonshauptorte nicht nur im Schatten der Stadt Zürich, sondern auch im Schatten von Winterthur.

Bilder: Elisabeth Egli

 

Grosse Stadt, kleine Medien

Selbst das grösste und prominenteste Lokalmedium ist eine kleine Nummer in Winterthur – einer Stadt mit inzwischen 118’000 Einwohner:innen. Der «Landbote» zählt heute nicht einmal mehr 20’000 Abonnements. Zum Vergleich: Im nur unwesentlich grösseren Bern (Bevölkerung: 134’000) zählen «Bund» und Stadtausgabe der «Berner Zeitung» das Dreifache an Abos. Wie seine Schwesterblätter in der Bundesstadt hängt auch der «Landbote» längst am Tamedia-Tropf und beschäftigt nur noch eine eigene Lokalredaktion, der Rest kommt aus Zürich.

Mit ihren Vorläufersendern seit 1984 in Winterthur verwurzelt sind die «Top»-Medien mit den gleichnamigen Radio- und TV-Sendern und einem News-Portal. «Radio Top» entstand 1998 aus einem Zusammenschluss von «Radio Eulach», «Radio Thurgau» und «Radio Will». «Tele Top» ging 1999 als Nachfolgeprojekt von «Winti TV» auf Sendung. Eine publizistische Konkurrenz zur Lokalberichterstattung des «Landboten» können die beiden Sender aber insofern nicht bieten, als dass sie aufgrund der Konzessionsvorgaben praktisch die gesamte Ostschweiz von Winterthur über Schaffhausen bis St. Gallen abdecken müssen. Inhaltlich machen Soft-News aus der Region einen Grossteil der Berichterstattung aus. Eine wichtige Rolle spielen «Radio Top» und «Tele Top» indes als Ausbildungsmedien. Diese Funktion erfüllt auch «Radio Stadtfilter». Als sogenanntes Komplementärradio ohne Werbung und mit einem Gebührenanteil für gesellschaftliche Integrationsleistung ist bei diesem Sender die Wirkung nach innen mindestens ebenso wichtig wie der Programm-Output.

Winterthur ist mit Abstand die grösste Stadt, in der eine Gratiswochenzeitung aus Christoph Blochers Verlag Swiss Regiomedia erscheint. Weiter befinden sich in der Eulachstadt eine Reihe jüngerer und kleinerer Medien, etwa das Kulturmagazin «Coucou» und die Online-Wochenzeitung «84xo». Das Wissenschaftsmagazin «Higgs» wird im kommenden Sommer nach viereinhalb Jahren aus finanziellen Gründen den Betrieb einstellen.

Anders als in allen anderen grösseren Schweizer Städten gibt es in Winterthur kein Studio der SRG.

Auch wenn sich das publizistische Angebot eher mager ausnimmt und nicht dem Selbstverständnis der Stadt entspricht, darf sich Winterthur zumindest bei der Ausbildung das Etikett «Medienstadt» anheften: Das Departement Angewandte Linguistik der Fachhochschule ZHAW betreibt Medienforschung und bildet Journalist:innen und Kommunikationsfachleute aus.

Nick Lüthi