von Nick Lüthi

«Das ist die Art von Analyse, die wir brauchen»

Ein Militärhistoriker aus Östrerreich avancierte mit seinen regelmässigen Analysen des Kriegsverlaufs in der Ukraine zum Youtube-Star. Das liegt vor allem an seinem nüchternen und neutralen Ton, für den ihn das Publikum überschwänglich lobt. Ein Schweizer Pendant wird es so schnell nicht geben, obwohl die Voraussetzungen dafür vorhanden wären.

Keine drei Minuten dauerte der erste Auftritt. Am 4. März 2022 erklärte Markus Reisner auf Youtube in aller Kürze die Gliederung einer sogenannten Bataillonskampfgruppe mit denen die russische Armee ab Ende Februar in die Ukraine eingedrungen war. Reisner landete damit einen Instant-Erfolg, das begeisterte Publikum wünschte sich mehr davon. «Würde mir sogar längere und ausführlichere Analysen ansehen!», schrieb ein Zuseher. Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Inzwischen dauern die Videos jeweils eine gute Viertelstunde.

Seit März trat der Militärwissenschaftler Reisner ein Dutzend Mal vor die Kamera, um das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine zu analysieren. Der Oberst des österreichischen Bundesheers ist promovierter Historiker und leitet an der Theresianischen Militärakademie die Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Ausserdem blickt er auf eine lange Karriere in der Armee zurück mit zahlreichen Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten auf der ganzen Welt, von Afghanistan bis zur Zentralafrikanischen Republik.

Die Faktendichte, die einfachen, dafür umso verständlicheren Visualisierungen des Kriegsverlaufs und die gut verdaubare Dauer von einer Viertelstunde machen die Videoanalysen zum Erfolgsformat.

Mit dem glattrasierten Kopf und den sanften Gesichtszügen sieht der Mittvierziger jünger aus. Und trotz Uniform wirkt Reisner nahbar und authentisch. Dazu trägt auch seine natürliche Sprache bei. Jargon verwendet er nur wohldosiert oder erklärt sie ausführlich, wie im Video zur militärischen Formation der sogenannten Bataillonskampfgruppe. Reisners Auftritte wirken insgesamt etwas spröde, er zündet kein rhetorisches Feuerwerk. Doch das hält einen nicht davon ab, seinen Ausführungen zu folgen. Im Gegenteil: Die Faktendichte, die einfachen, dafür umso verständlicheren Visualisierungen des Kriegsverlaufs und die gut verdaubare Dauer von einer Viertelstunde machen die Videoanalysen zum Erfolgsformat.




Inzwischen zählen die einzelnen Folgen bis zu 600’000 Aufrufe auf Youtube, ein Vielfaches der Abonnent:innen des Bundesheer-Kanals. Und nicht nur die Quantität lässt sich sehen, auch die Qualität der User-Kommentare spricht für den Erfolg. Obwohl der Krieg gegen die Ukraine auf Social Media polarisiert und jede Seite der anderen Propaganda und manipulative Kommunikation vorwirft, schafft es Markus Reisner, glaubwürdig einen neutralen Standpunkt einzunehmen. «Das ist die Art von Analyse, die wir brauchen: unparteiisch, technisch, gut informiert. Das ist keine Propaganda von einer der beiden Seiten», schreibt ein begeisterter Zuschauer. Und ein anderer hält erstaunt fest, er hätte nie gedacht, «dass eine offizielle Regierungsquelle eine so objektive Analyse liefern kann.»

Verantwortlich für die Auftritte Reisners zeichnet das fünfköpfige Online-Team aus der Kommunikationsabteilung des österreichischen Bundesheers. «Wir haben den Erfolg nicht erwartet», sagt Alexander-Philipp Lintenhofer im Gespräch mit der MEDIENWOCHE. Der Leiter des Online-Teams machte in der Vergangenheit eher die Erfahrung, «dass die Leute Militär sehen wollen, wenn Militär draufsteht, also Action». Solche Videos finden sich auf dem Youtube-Kanal des Bundesheers auch. Dass die nüchternen Analysen trotzdem gut ankommen, erklärt sich Lintenhofer damit, dass sie einen weissen Fleck füllen. «Wir haben gesehen, dass man zum Ukraine-Krieg wirklich viel Informationen findet: über die humanitäre Katastrophe, über die politischen Aspekte. Aber weniger Information zum konkreten militärischen Geschehen. Da haben wir uns gedacht: Dann liefern wir diese Information ganz einfach», sagte Lintenhofer im Juni dem österreichischen Magazin «Profil». Inzwischen zeichnet Oberst Reisner seine Analysen in englischer Sprache auf und stösst auch damit auf begeisterte Reaktionen beim Publikum. Negative Rückmeldungen sind Lintenhofer keine bekannt.

«Wir handeln nach der Prämisse, dass auf Social Media Authentizität wichtiger ist als aufwändige Hochglanzproduktionen.»
Alexander-Philipp Lintenhofer, Kommunikation Bundesheer

Auch wenn das Bundesheer den Erfolg nicht erwartet hatte, erklären können sie ihn sich schon. Neben dem exklusiven und im deutschsprachigen Raum konkurrenzlosen Inhalt, sieht Alexander-Philipp Lintenhofer auch die Form als entscheidenden Faktor: «Das Einfache führt zum Erfolg», zitiert Lintenhofer einen militärischen Grundsatz. Mit mehr Technik würde die Produktion komplexer und die Videos länger. «Wir handeln nach der Prämisse, dass auf Social Media Authentizität wichtiger ist als aufwändige Hochglanzproduktionen.» Gute Erfahrungen machte das Bundesheer mit diesem Grundsatz bereits mit dem textbasierten Format «3 Fragen, 3 Antworten» zum Ukraine-Krieg.

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Das Rezept für die Videoanalysen sieht einfach aus: Man nehme eine kamerataugliche Fachperson, lasse sie mit militärwissenschaftlicher Expertise und in verständlicher Sprache das Kriegsgeschehen analysieren; bei der Präsentation verzichte man auf technischen Firlefanz. Nach diesem Muster verfährt auch die deutsche Bundeswehr, die auf ihrem Youtube-Kanal in ähnlicher Weise wie die Österreicher das Kriegsgeschehen analysiert. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Das Gespräch wird moderiert, was bisweilen etwas ungelenk daherkommt und die Videos unnötig in die Länge zieht. Doch auch die Analysen der Bundeswehr erhalten praktisch ausschliesslich positive Reaktionen, stossen aber nicht ganz auf das gleiche Interesse wie die Videos von Markus Reisner.

Die Militärakademie an der ETH Zürich setzt auf konventionelle Medienarbeit. Einen Schweizer Markus Reisner wird es nicht geben.

Dessen Glaubwürdigkeit stärkt zudem die Tatsache, dass Österreich ein neutraler Staat ist, im Gegensatz zu Deutschland. Diese Voraussetzung würden auch Institutionen aus der Schweiz erfüllen. Doch die Militärakademie an der ETH Zürich winkt ab. Die Frage der MEDIENWOCHE, ob sie ihr Wissen etwas offensiver und breiter zugänglich zu machen gedenke, beantwortet ein Sprecher mit dem Verweis auf die regelmässige Medienpräsenz ihrer Fachleute. Mit anderen Worten: Fehlanzeige, einen Schweizer Reisner wird es nicht geben.

Die andere akademische Institution, die das fachliche Potenzial hätte, ihr Know-how zum Ukraine-Krieg breiter und direkter zu vermitteln, wäre das Center for Security Studies CSS der ETH. Bereits heute sind die Expertinnen und Experten gefragte Auskunftspersonen und stehen seit Beginn des Krieges regelmässig den Medien Red und Antwort. Einen Podcast oder Youtube-Kanal von ihnen sucht man aber vergeblich. Dafür vermitteln die Sicherheitsforscherinnen und -forscher ihr Fachwissen regelmässig mit Gastbeiträgen in Zeitungen und Magazinen oder auf Publikumsveranstaltungen. Man ziehe in Erwägung, diese öffentliche Präsenz mit anderen Kanäle und Formaten zu ergänzen, zum Beispiel mit Videos oder Podcasts. Es würden sich aber gewichtige Fragen bezüglich Ressourcen, Prioritäten und Zielpublikum stellen, heisst es von Seiten CSS. Entsprechend seien Pläne und weitere Schritte offen und würden noch diskutiert.

Gerade auf Plattformen, die auch Unfug und Fake News verbreiten, schafft Wissenschaftskommunikation ein wertvolles Korrektiv.

Solange sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darum bemühen, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, spielt es keine Rolle, auf welchen Kanälen sie sich artikulieren. Dieser Anspruch lässt sich aber fast nur noch erfüllen, wenn auch Online-Formate wie Podcasts oder Videos zum Angebot zählen, die auch jene erreichen, die keine Fachbeiträge in Zeitungen lesen. Gerade auf Plattformen, die Unfug und Fake News verbreiten, schafft seriöse Wissenschaftskommunikation ein wertvolles Korrektiv. Wer heute auf Youtube nach «Analyse Ukraine Krieg» sucht, findet an erster Stelle die Videos von Markus Reisner.