von David Klein

«Unausgewogen, einseitig, unfair»: UBI geisselt Bundesratspropaganda

Die Ansprachen und Abstimmungsempfehlungen der Bundesratsmitglieder auf Radio SRF verletzen das Vielfaltsgebot, findet die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen. Sie glichen der Propaganda-Beschallung der Bürger in Nordkorea. Wie die UBI zu diesem einstimmigen Entscheid gefunden hat.

Wie im Morgenrot tritt er daher, hocherhaben, herrlich, auf dass sich der Nebelflor teile und der allmächtig waltende, rettende Bundesrat den freien Schweizern die langersehnte Wahlhilfe zuteil werden lasse, so man nicht länger im Wolkenmeer stöbere, sondern kindlich ihm vertraue. Es hat durchaus etwas Hymnisches, wenn der Bundesrat vor einer Volksabstimmung seine traditionelle Radioansprache hält.

So geschehen am 25. April 2022 auf Radio SRF 1. Bundesrat Ueli Maurer predigt minutenlang und ohne Gegenmeinung seine Sicht zur Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache («Frontex»-Vorlage). Zu guter Letzt gibt der SVP-Magistrat eine Stimmempfehlung ab.

Seit 50 Jahren steht dem Bundesrat vor Abstimmungen das SRF-Mikrofon offen für seine Propagandabotschaft. Daran störte sich ein Bürger und reichte bei der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI eine Beschwerde ein. Diese exklusive Darstellung der bundesrätlichen Meinung verletze das rundfunkrechtliche Vielfaltsgebot und widerspreche dem verfassungsmässig garantierten Anspruch der Stimmberechtigten auf eine freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Am letzten Donnerstag behandelte die UBI die Beschwerde.

Ein erfrischender Hauch heiterer Insubordination weht durch den Seminarsaal des Lausanner Hotels Carlton, als UBI-Präsidentin Mascha Santschi – in bester Laune ob der anspruchsvollen Aufgabe, die vielschichtige Beschwerde einzuordnen – die Beratung eröffnet. Vize-Präsidentin Catherine Müller wird sich später beim abwesenden Beschwerdeführer sogar für seine Eingabe bedanken. Die UBI ist vollzählig anwesend, neun Juristinnen und Juristen, die sich regelmässig mit Beschwerden gegen die SRG-Programme befassen.

Am Ende setzt es nicht nur für die SRG eine schallende Ohrfeige, sondern auch für den Bundesrat.

Referent Reto Schlatters scherzhafte Anmerkung an das Publikum, bestehend aus zwei SRF-Juristinnen und meiner Wenigkeit als einziger Journalist, es werde «jetzt halt etwas formaljuristisch», das sei aber ein «Gebiet, das viele von uns kennen und auch gerne haben», sorgt für Belustigung bei den UBI-Mitgliedern.

Was Schlatter und seine Kolleginnen und Kollegen in den nächsten rund fünfzig Minuten bieten, ist ein fulminantes Lehrstück in Staatsrechtlichkeit, Verfassungskunde und Demokratieverständnis. Am Ende setzt es nicht nur für die SRG eine schallende Ohrfeige, sondern auch für den Bundesrat, der seine Rolle in der Gewährleistung der freien Willensbildung des Souveräns gründlich missverstanden hat, wenn er in einem parlamentarischen Konkurrenzsystem den öffentlichen Rundfunk als Propagandakanal missbraucht.

In der schriftlichen Stellungnahme widerspricht SRF dem Beschwerdeführer. Die Bundesratsansprachen seien «sui generis», ein eigenständiges Format, auf welches das Vielfaltsgebot «nicht, oder nur beschränkt anwendbar» sei. Die Ansprache sei seit 1971 im Programm und sehr beliebt. SRF spricht sogar von einem «Gewohnheitsrecht».

UBI-Mitglied Schlatter kontert: Eine breite Akzeptanz sei «kaum geeignet», eine Rechtsvorschrift des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen «auszuhebeln». Auch die Eigenständigkeit des Formats stellt er in Frage. Eine «anmoderierte und in Musik eingebettete Ansprache, selbst eines Bundesrats» – sei «so besonders nun auch wieder nicht». Ganz im Gegenteil sei die «exklusive Bevorzugung» des Bundesrats «unausgewogen, einseitig, unfair und parteilich». Damit sei die Sache aber «noch nicht gegessen». Entscheidend sei letztlich, ob Maurers Ansprache einen «manipulativen Charakter auf die Meinungsbildung des Publikums» aufweise.

Gemäss publizistischen Leitlinien von SRF darf es in den letzten drei Wochen vor einem Urnengang keine Einzelauftritte von Exponenten geben, die diesen einseitig eine Plattform bieten.

Das Bundesgericht habe das Vielfaltsgebot mehrfach thematisiert: «Je später vor dem Urnengang und je intensiver eine Stellungnahme zu einer Wahl oder Abstimmung am Radio und Fernsehen erfolgt, umso strikter soll jede Einseitigkeit und Manipulation ausgeschlossen werden», so Schlatter. Dass die Ansprache in der «superheissen Phase», also rund zwei Wochen vor der Abstimmung ausgestrahlt wurde, verletze zudem die publizistischen Leitlinien von SRF. Die besagen, dass es in den letzten drei Wochen vor einem Urnengang keine Einzelauftritte von Exponenten geben darf, die diesen einseitig eine Plattform bieten.

Schlatter sieht einzig das Transparenzgebot eingehalten, denn der Bundesrat würde als solcher angekündigt und «das Publikum vermag die nun folgende Einseitigkeit der Information einzuordnen». Aber: «Ob diese Transparenz eine einseitige, unausgewogene und unfaire Sendung heiligt und damit vor einer Manipulation der Meinungsbildung des Publikums bewahrt, wage ich zu bezweifeln. Zumal es – streng juristisch gesehen – keine Norm gibt, die diese einseitige Information kurz vor einer Abstimmung stützen würde. Mir scheint das Ganze etwas aus der Zeit gefallen», schliesst Schlatter seine Ausführungen. Eine Überarbeitung «würde wohl dem Zeitgeist und den heutigen Anforderungen an eine ausgewogene politische Kommunikation gerechter werden, als die etwas verstaubten und altbacken wirkenden Monologe unserer Minister».

SRF wehre sich «immer wieder gegen das Prädikat Staatsfernsehen», gibt Maja Sieber zu bedenken. Deshalb sollte «eigentlich ein Eigeninteresse bestehen, diese Wahrnehmung nicht selber zu verstärken». Ausserdem sei die Beachtung des Vielfaltsgebots in der heiklen Phase vor der Abstimmung, welches ja jede Ausstrahlung betreffe, ein «wichtiges Prinzip, das die UBI nicht verwässern sollte». Apropos Staatsfernsehen: Nadine Jürgensen erinnert die SRF-Polit-Show gar an die «Beschallung der Bürger» in Nordkorea.

Für Gelächter im Gremium sorgt Edy Salmina, der seine poetische Ader entdeckt und das von SRF beanspruchte «Gewohnheitsrecht» mit einem Zitat des Dichters Garcia Lorca pariert, der gesagt haben soll, dass «nur Gewohnheiten stärker als die Liebe» seien. Die grundsätzliche Frage wäre jedoch, ob das Bundesgesetz für Radio und Fernsehen «kommunikative Sonderstatuten» dulden könne, was Salmina verneint.

UBI-Präsidentin Santschi stellen sich anlässlich der Beschwerde zwei zentrale Fragen: Die Rolle des Bundesrats im Abstimmungskampf und das Problem von «möglichen inhaltlichen Mängel der Behördenkommunikation».

In ihrem Schlusswort greift UBI-Präsidentin Mascha Santschi als erstes die von Schlatter erwähnte Transparenz nochmals auf, relativiert aber seinen Befund: «Wenn ich zu hundert Prozent sicher sein könnte, dass der Bundesrat jederzeit nach bestem Wissen und Gewissen informieren würde, dann könnte ich das vielleicht akzeptieren.»

Santschi stellen sich anlässlich der Beschwerde zwei zentrale Fragen: Die Rolle des Bundesrats im Abstimmungskampf und das Problem von «möglichen inhaltlichen Mängel der Behördenkommunikation». Santschi zitiert die Bundesverfassung, die «staatliche Organe» dazu verpflichte, in «Treu und Glauben» zu handeln. In der Behördenkommunikation dürfe «weder beschönigt, unterschlagen oder manipuliert werden». Sie bezieht sich auf den ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten Hansjörg Seiler und zitiert aus dessen Aufsatz «Auf dem Weg zur gelenkten Demokratie?», in dem Seiler die «Behördliche Intervention in die politische Meinungsbildung» thematisiert: «Wer persuasiv sein will, informiert anders, als wer seine Rolle darin erblickt, einen ergebnisoffenen, fairen Entscheid zu gewährleisten.»

Ein weiteres Problem sieht Santschi darin, dass die Behördenkommunikation als sogenannte «seriöse Quelle» gelte.

Seiler weise auf einen Bundesgerichtsentscheid von 1995 hin, in dem festgehalten wurde, dass sich die Behörde im Vorfeld einer Volksabstimmung «jeglicher Einflussnahme enthalten müsse, um der Bevölkerung eine unabhängige Entscheidung zu ermöglichen». Sie selbst jedenfalls würde heute ihre «Hand nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass alle Behörden jederzeit ehrlich, offen, ausgewogen und transparent kommunizieren», gesteht Santschi schmunzelnd.

Ein weiteres Problem sieht Santschi darin, dass die Behördenkommunikation als sogenannte «seriöse Quelle» gelte. So verletzen Medienschaffende laut geltender Rechtsprechung die journalistische Sorgfaltspflicht nicht, wenn sie amtliche Verlautbarungen von Behörden «weder hinterfragen, noch überprüfen», sondern «tel quel» verbreiten. Werde also von Behörden nicht korrekt informiert, komme die Information via die Medien bei den Stimmberechtigten auch nicht korrekt an und beeinflusse so das Stimmverhalten.

UBI-Präsidentin Santschi verweist auf diverse Volksabstimmungen der vergangenen Jahre, wie die Annahme der EU-Waffenrichtlinie oder das Covid-Gesetz, wo die Behörden die Stimmberechtigten im Vorfeld fehlerhaft informiert hätten. Bei der Pflegeinitiative habe das Komitee sogar bei der Staatskanzlei «intervenieren» müssen, um eine Anpassung der Fehler im Abstimmungsbüchlein durchzusetzen. Dass dies alles keine Einzelfälle seien, habe Santschi «mittlerweile von mehr als einem Rechtsgelehrten bestätigt bekommen», der Beschwerdeführer treffe «wirklich einen sehr guten Punkt».

In der Vergangenheit ist die UBI nicht als sonderlich SRG-kritisch aufgefallen.

«Ehrlich gesagt, wäre es mir auch am Liebsten gewesen, die Beschwerdegegnerin hätte von sich aus Überlegungen dazu angestellt, wie man dieses Format zeitgemäss anpassen könnte», schliesst Santschi. «Die Beschwerdeantwort hat mir das leider nicht vermittelt, deshalb heisse auch ich die Beschwerde gut.» Worauf die UBI einstimmig die Beschwerde gutheisst.

Die anwesenden SRF-Juristinnen Corinne Stöckli und Barbara Lehmann, stellvertretende Leiterin Rechtsdienst SRF, geben sich unbeeindruckt. Stöckli meint lapidar: «Damit können wir leben.» Die Damen konnten nicht ahnen, dass Minuten später in der Causa um «Arena»-Moderator Sandro Brotz die nächste krachende Klatsche folgen sollte.

In der Vergangenheit ist die UBI nicht als sonderlich SRG-kritisch aufgefallen, was ich bereits mehrmals thematisiert habe. Nach diesem schon fast subversiven Entscheid zu den Bundesratsansprachen kann die UBI aber nicht mehr nur als fünfte Kolonne des Medienriesen marginalisiert werden. Es ist zu hoffen, dass dieser unerwartete Trend des behördlichen Ungehorsams bei der UBI anhält.