Wahre Lügen aus dem Posthorn
Der Postillon hat sich mit plausibel klingenden, jedoch frei erfundenen Nachrichten zu einem kleinen Massenmedium gemausert. Der rasche Erfolg der Internet-Zeitung hat Betreiber Stefan Sichermann schon nach wenigen Jahren einen Vollzeitjob eingebracht. Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt der 31-Jährige, woher er die Inspiration nimmt und wie viele Leser er hat.
Seit einigen Wochen wohnt der in Ansbach aufgewachsene Stefan Sichermann wieder in Süddeutschland, in Fürth, bald soll er Vater werden. Studiert und per Magister abgeschlossen hat er alte Geschichte, mittlere Geschichte und englische Linguistik, und auch wenn er mal Lehrer werden wollte, versteht er sich als typischer Geisteswissenschaftler. Sowie als Journalist, arbeitet er doch seit 2009 regelmässig für Bildblog.de. 2011 kündigte er die Festanstellung bei einer Werbeagentur, seitdem arbeitet er selbständig.
Stefan, Du bist der Erfinder von Schlagzeilen wie «Zucker enthält viel zu viel Zucker» oder «Herzattacke: 9-Live-Moderator erreicht Notrufzentrale nicht». Wie bist Du auf die Idee des Postillon gekommen? Und machst Du das eigentlich ganz alleine?
Ich mach das nach wie vor quasi alleine. Quasi, denn der Newsticker entsteht mittlerweile grösstenteils aus Hinweisen der Leser. Ich wurde 2008 von einem Arbeitskollegen motiviert, ein Blog zu eröffnen (siehe dazu Der Postillon 1845-2011). Da ich keine persönlichen Sachen schreiben wollte und damals ganz gerne The Onion las, kam ich darauf, auch mal lustige Nachrichten im Stil dieser Website zu schreiben. Postillon hab ich das Projekt getauft, weil ich dachte, das sei ein schöner Zeitungsname.
Dein Business ist ja auch das Nachrichtengeschäft. Oder?
Im Prinzip ja, wobei ich nicht aus erster Hand berichte, auch wenn ich das manchmal vortäusche. Ich bin davon abhängig, was andere berichten, nehme das auf und spinne das dann weiter oder verdrehe das.
Der Postillon hat ja ein, sagen wir, «eigenes» Wahrheitsverständnis. Bei wie viel Prozent der Leser kommt das an?
Ich behaupte, 97 Prozent der Leser verstehen das, die regelmässigen sowieso. Von jenen Lesern, die über Suchmaschinen kommen, nehmen einige die Meldungen für bare Münze, was manchmal für Erheiterung in den Kommentaren sorgt. Ich habe mal über einen den Weltuntergang prophezeihenden Astrophysiker geschrieben, darauf folgte ein Kommentar, «wie herzerfrischend dumm» ich doch sei, ich solle mich bei diesem Professor entschuldigen («Wetten, dass der Autor nicht den Schniedel in der Hose hat, sich bei Stichner zu entschuldigen und hier in den Kommentaren öffentlich Abitte zu leisten?»).
Was waren die bisher meistgelesenen Storys?
Der Artikel «Razzia bei kino.to zwingt Millionen User, zwei Minuten nach neuer Streaming-Plattform zu suchen» hatte 65.000 Facebook-Likes und wurde über 1 Million mal aufgerufen. Generell laufen netzaffine Themen ziemlich gut, auch wenn man über Facebook schreibt, hat man bereits einen Startvorteil. Wie Artikel über Flattr gut geflattert werden, werden Artikel über Facebook auf Facebook häufig geteilt. Auf den Rängen 2 und 3 der All-Time-Favorites sind «Dr. Carlos-Theodore de Bienmontaña (CSU) erhebt Anspruch auf Guttenbergs Nachfolge» und «Legendäres Bernsteinzimmer in Keller von Hypo Real Estate aufgetaucht». Meist sind es tagesaktuelle Artikel, die viele Leser anziehen, der komplette Nonsens schafft es nicht so oft zur ganz grossen Populariät.
Meine Erfahrung ist: Entweder findet jemand den Postillon äusserst witzig – oder gar nicht. Wie reagieren jene, die Deine Arbeit nicht witzig finden?
In den Kommentaren wird sehr gern behauptet, dass das alles nicht lustig sei. Ich glaube, es ist eine Art Humor, die nicht jedem auf Anhieb sympathisch ist. Wer den Postillon zum ersten Mal liest, findet ihn oft einfach nur doof. Dass da jemand einfach lügt, das verstehen viele Leute nicht. Nach drei, vier gelesenen Artikel und dem Verständnis der Masche ändert aber manch einer seine Meinung.
Gibt es historische Vorbilder für Deine Tätigkeit aus der Vor-Internet-Zeit?
Beim Start kannte ich nichts dergleichen, inzwischen weiss ich, dass es einige Projekte gab, die als Vorbild gut geeignet wären. Welt im Spiegel war eine Beilage in der Pardon, die Nonsens-Nachrichten gemacht hat, meist etwas weniger tagesaktuell und viel bizarrer. Projekte wie Weekly World News schreiben oft aus purer Sensationslust und weniger mit einem humoristischen Ansatz.
Du scheust Dich nicht, Tabuthemen wie sexueller Missbrauch oder Kinderpornografie anzupacken. Hast Du da nicht manchmal etwas Angst vor der Veröffentlichung?
Definitiv. Ich erwäge das jeweils auch genau und lasse mich, gerade bei heiklen Themen, von Freunden und Bekannten beraten. Ich habe schon ein paar kleinere und mittlere Shitstorms hinter mir, doch in der Regel ging es immer gut. Man muss auch mal provozieren: Satire ohne Zähne geht ja nicht.
Ein Beispiel, wo die Leute auf die Barrikaden gegangen sind, war eine angebliche Spekulation um die Form des Sargs von Steve Jobs, die bereits einen Tag nach dessen Tod online ging. Darauf wurde reagiert, wie es sonst nur bei religiösen Themen passiert: Geschmacklos, niveaulos, pietätlos, unangemessen, etc. Es wurde auch gedroht, den Postillon nicht mehr zu lesen, was ja bei einer Online-Zeitung kein so grosses Drohpotential hat. Die damals geäusserte Forderung, noch etwas abzuwarten, ist zu einem Running Gag geworden, der inzwischen einigermassen wahllos in die Kommentare neuer Storys geschrieben wird. Jemand hat sogar ein Skript geschrieben, um solche Kommentare zu filtern.
Wie viele Leser hat der Postillon? Wie viel Umsatz machst Du damit? Deinen früheren Job in der Werbebranche hast Du ja gekündigt …
Rund 20.000 – 25.000 Unique Visitors täglich. Eine Geschichte, die gut läuft bringt auch mal einen Tag mit 100.000 Besuchern. Was die Einnahmen betrifft: Ich kann davon leben. Die Website generiert um die 2000 Euro im Monat, dazu kommt die Tätigkeit für das Bildblog. Zukünftig geplant sind übrigens Videonachrichten und ein Postillon-Buch.
Hättest Du erwartet, derartigen Erfolg zu haben? Inzwischen zieht ja jede halbwegs lustige Story hunderte Facebook-Likes nach sich.
Anfangs hoffte ich nur auf etwas Aufmerksamkeit, aber inzwischen ist das Projekt zu einem Vollzeitjob angewachsen, der jeden Tag acht Stunden Arbeit abfordert: Etwa drei Stunden täglich investiere ich in das Lesen von Nachrichten – das ist ein angenehmer Teil, weil ich auch gerne Nachrichten lese. Der Rest der Zeit beansprucht das Schreiben von Storys, die Pflege der Website und die Vermarktung.
Wie entsteht ein Postillon-Artikel?
Die Idee entsteht beim Lesen von Nachrichten, manchmal aber aus einer Partyunterhaltung, wo ich mir dann sofort im Handy ein paar Stichworte notiere. Wenn die Idee gut ist, dann ist die Ausarbeitung das kleinere Problem, inzwischen habe ich ja auch etwas Übung.
Ein Postillon-Artikel sollte eine klare Aussage haben, die bereits in der Überschrift klar wird. Der Text ist dann die Ausgestaltung des Gags, die Beleuchtung von verschiedenen Seiten. Das ist nicht ganz leicht, denn der Unfug, den ich schreibe, muss inhaltlich plausibel sein.
Im Wallraff-Film «Informationen aus dem Hinterland?» (Video) schreibt Hans Esser einen Artikel über ein Hochhaus in Hannover. Eine im obersten Stockwerk wohnende Frau wird zitiert, das Badewasser schwappe bei Stürmen schon mal über. Wie weit weg ist der Postillon eigentlich von «Bild»?
Ziemlich weit, der Anspruch ist ein ganz anderer, die Zielgruppe auch. Der grösste Unterschied ist, dass ich reale Situationen ins Humoristische verdrehe. «Bild» ist deutlich direkter, und weniger um die Ecke gedacht.
Die Konkurrenz schläft auch nicht. Der Kojote hatte zum Beispiel grossen Erfolg mit Storys wie «Gewagt: Junger Berlin-Besucher läuft ohne Bierflasche in der Hand durch Mitte». Wie gehst Du damit um? Gibt es noch andere Mitbewerber?
Es gibt in Deutschland Eine Zeitung und Der Kojote, in Österreich die Salami News. Mich macht zwar Konkurrenz immer etwas nervös, aber grundsätzlich ist sie natürlich zu begrüssen, ich find das inspirierend. Wenn man in den englischsprachigen Raum schaut, dann findet man solche Angebote wie Sand am Meer.
Ist Dein Name, «Sichermann», eigentlich echt? Im Postillon scheint ja nichts besonders sicher zu sein …
Ja, der ist echt, das ist kein Künstlername.
Was hat es mit dem Gründungsjahr 1845 auf sich?
Das Gründungsjahr 1845 ist willkürlich gewählt. Ich wollte dem Postillon durch eine lange Geschichte einfach (noch) mehr Seriösität verleihen.
Das Logo zeigt ein Steckenpferd auf Rädern und ein Posthorn – was hat es zu bedeuten?
Eine seriöse Zeitung braucht ein seriöses Logo. Das Posthorn steht dabei für den Postillon, das Steckenpferd war damals das wichtigste Transportmittel (und es zeigt, dass der Postillon nicht ganz ernst gemeint ist). Ein wenig erinnert es auch daran, dass ich den Postillon anfangs noch als Hobby (Steckenpferd) betrachtet habe. Gemalt hat es übrigens meine überaus talentierte Partnerin.
Wer ist eigentlich der kleine Timmy? Hat er wirklich kein Mitleid verdient?
Der kleine Timmy (9) ist einfach die Personifikation des kleinen unschuldigen Jungen. Ein Vorbild in der Realität gibt es eigentlich nicht. Er dient vor allem dazu zu zeigen, wie ungerecht die Welt manchmal ist. Es ist schwierig zu erklären, aber es macht einfach Spass, ihn zu quälen.
Das Gespräch mit Stefan Sichermann wurde am 13. Januar 2012 per Telefon geführt.
Offenlegung: Stefan Sichermann und Ronnie Grob arbeiten beide regelmässig für Bildblog.de.
Dennis 21. Januar 2012, 02:21
Hihi…eine zeitung ist ein lutiger name für eine satirezeitung
Anonym 18. März 2012, 21:24
Erster