Wikileaks in der zweiten Reihe
Das Interesse der Medien an Wikileaks hat spürbar nachgelassen. Mit der dramatischen Entwicklung im arabischen Raum geniesst die Gegenwart wieder Vorrang gegenüber der Vergangenheit. Nicht überall: Von anderen Medien wenig beachtet, haben sich NZZ und Le Temps daran gemacht, die von Wikileaks veröffentlichten «Swiss Papers» auszuwerten. Ein Datensatz, zwei Herangehensweisen.
Plötzlich waren die «Swiss Papers» da – und kaum jemand nahm Notiz davon; keine Schlagzeilenflut, keine «Breaking News», kein «Enthüllung!»-Geschrei, wie das vor nicht allzu langer Zeit der Fall war, sobald das Stichwort Wikileaks die Runde machte. Fast 6000 unveröffentlichte Depeschen aus der US-Diplomatenkorrespondenz mit einem Bezug zur Schweiz hat «Le Temps» am Abend des 10. Februar von Wikileaks erhalten. Eine Kopie davon reichte die Genfer Zeitung der NZZ weiter.
Während sich Le Temps umgehend daran machte, die Dokumente nach publikationswürdigen Informationen zu durchstöbern, blieb es bei der NZZ zuerst einmal ruhig. Eine knappe Mitteilung, wonach die Zeitung im Besitz der «Swiss Papers» sei, platzierte die NZZ gut versteckt irgendwo im Blatt. Fast eine Woche lang tat sich nichts, abgesehen von einem Gastbeitrag eines HSG-Ökonomen, der sich kritisch zur Veröffentlichung von diplomatischer Korrespondenz äusserte. Ausserdem geriet Wikileaks erneut ins Zwielicht, nachdem der Aussteiger Daniel Domscheit-Berg in seinem Buch ein wenig schmeichelhaftes Bild von Julian Assange und seinem Projekt zeichnete. Ein Interview mit dem ehemaligen Assange-Gefährten, das die NZZ am Sonntag und später auch NZZ Online veröffentlichten, bereitete das Terrain nicht eben auf ideale Weise für Wikileaks-Enthüllungen im Hause NZZ vor.
Bei Le Temps gab es keine solchen erschwerenden Begleitumstände. Hier ging man forsch zur Sache und hausierte offensiv mit dem exklusiven Stoff. Bereits am Samstag 12. Februar, zwei Tage nachdem die Zeitung die Dokumente erhalten hatte, veröffentlichte sie erste Erkenntnisse aus der Analyse der «Swiss Papers». Zwei Artikel zu Erpresssungsversuchen der kolumbianischen Farc-Rebellen gegen den Westschweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé, sowie zu einem internen Memo der US-Diplomatie für die Sprachregelung bei Medienanfragen zum Fall Tinner. Von da an ging es weiter im Takt. Seit einer Woche veröffentlicht Le Temps jeden Tag mindestens zwei Artikel mit Erkenntnissen und Schlüssen aus den «Swiss Papers».
Nach einer ersten Sichtung der Dokumente hat sich die NZZ gegen einen täglichen Publikationsrhythmus entschieden. Stattdessen bot die NZZ am letzten Samstag auf einer Doppelseite eine Tour d’Horizon quer durch die Depeschen . «Unter dem Newsaspekt sind die Dokumente nicht interessant», sagt NZZ-Nachrichtenchef Luzi Bernet. Deshalb zog man es vor, ein Gesamtbild zu zeichnen und konnte sich so auch Zeit lassen.
Ein deutlicher Unterschied zwischen NZZ und Le Temps zeigt sich online. Während die Westschweizer für die Serie eigens ein Logo schufen und unter letemps.ch ein Dossier «Swiss Papers» (nur mit Anmeldung zugänglich) eröffneten, wo sie neben den Zeitungsartikeln auch die zitierten Originaldateien im Volltext ablegen, sucht man auf nzz.ch vergeblich nach etwas Vergleichbarem. Die NZZ bietet keine Extras im Web. Urs Holderegger, Redaktionsleiter NZZ Online, macht für diese Zurückhaltung inhaltliche Gründe geltend: «Aufgrund der Einschätzung der Inlandredaktion, dass die Wikileaks-Dokumente keine bahnbrechenden Neuigkeiten enthalten, haben wir uns für ein zurückhaltendes Vorgehen entschieden.» Auf eine Publikation der Originaldokumente habe man aus Datenschutzgründen verzichtet, so Holderegger.
Aber auch Le Temps beschränkt sich im Netz letztendlich auf bewährte und wenig innovative Formate. Online dient nur als Verlängerung von Print. Dynamische Elemente sucht man vergeblich. Wer erwartungsfroh die «Infographie» anklickt, findet jene durchschnittliche Infografik, die am Samstag vor einer Woche bereits in der Zeitung zu sehen war.
Bei der NZZ rührt die Zurückhaltung im Netz auch daher, dass man dem «Datenjournalismus» und seinen Versprechen nicht traut. Stefan Betschon, der als IT-Redaktor die Dateien inspizierte und für seine Redaktionskollegen so aufbereitete, dass sie damit arbeiten konnten, hält wenig von diesem Trendbegriff, mit dem der Journalist zum Programmierer wird und die Maschine recherchieren lässt. Betschon schreibt: «Der Begriff des Data-Journalismus weckt die Hoffnung, dass Computerprogramme ohne menschliches Zutun aus grossen Datensammlungen die menschlich bewegenden Geschichten herausschälen könnten, Antworten lieferten auf nie gestellte Fragen. Doch das ist eine Illusion.»
Manpower also und nicht Rechenleistung. Den beiden Zeitungen stehen jedoch nur beschränkte Kapazitäten zur Verfügung. In Genf sind es sieben Redaktoren, bei der NZZ maximal acht, die sich seit mehr als einer Woche nur noch um das eine Thema kümmern. Da bleibt das eine oder andere liegen. Je nach Entwicklung der Nachrichtenlage muss Wikileaks hinten anstehen. So gut sind die Redaktionen auch nicht mehr dotiert, dass sich eine Gruppe über Wochen für eine Sonderaufgabe abmelden kann.
Sicherlich wäre aus den «Swiss Papers» mehr rauszuholen, als das, was uns Le Temps und NZZ bisher präsentiert haben. Grenzen setzen hier einerseits die personellen Möglichkeiten, andererseits die ungewohnte und neue Aufgabe, Tausende von Dokumenten innert nützlicher Frist auszuwerten. Die beiden Zeitungen mögen in der Schweiz zu den führenden Publikationen zählen. Im internationalen Vergleich zeigt der Umgang mit den Wikileaks-Dokumenten doch deutlich den Unterschied zu den ganz Grossen der Branche.
Martin Steiger 21. Februar 2011, 14:28
Verstehe ich richtig, dass die «Swiss Papers» von Wikileaks bislang nicht veröffentlicht wurden, das heisst man kann sich selbst kein Bild davon machen?
Nick Lüthi 21. Februar 2011, 14:51
Bis zum Zeitpunkt, als Le Temps und NZZ in den Besitz der Dokumente gelangten, waren die «Swiss Papers» noch nicht veröffentlicht. In der Zwischenzeit sind sie auch auf wikileaks.ch und andernorts zugänglich.
Thomas 21. Februar 2011, 20:10
Und wer sind denn die ganz grossen in der Branche? Ich kann mich erinnern, dass die NZZ einmal gleich hinter der NYT auf Platz 2 eingereiht wurde. Oder geht es einfach darum, offenbar eher belanglose Dateien effizient zu sichten und den Inhalt verdaubar zu publizieren? Falls das so gemeint ist, was ist dann der effektive Mehrwert einer Redaktion? Viel neues lernt man da als Leser dann wohl nicht wirklich. Oder meinen Sie, in den Swiss Papers versteckt sich Brisantes, das an die Öffentlichkeit gehört, aber bis jetzt noch niemand gefunden hat? Haben dann die von Ihnen erwähnten Grossen der Branche solche Stories (ggf. über das eigene Land) schon gefunden?
Patrik 23. Februar 2011, 14:56
Einige der „Swiss Papers“ sind übrigens hier
http://statelogs.owni.fr/index.php/search/?search=swiss
und hier
http://statelogs.owni.fr/index.php/search/?search=switzerland
zu finden. Wie die dort auftauchenden allerdings mit denen bei Le Matin & NZZ in Beziehung stehen, weiss ich allerdings nicht.