von Nick Lüthi

Digitaler Fallschirmjournalismus

Im Fall der Tötung von Muammar Gaddafi habe Twitter «versagt», behauptet Newsnet-Redaktor Christian Lüscher. Als Beleg dafür zitiert der Medienjournalist ein paar zufällige Tweets mit geringem Nachrichtengehalt. Sein Fazit: Twitter ist ein Ort für Spassvögel. Wenn es denn so einfach wäre.

Wer sich unter einen Apfelbaum stellt und enttäuscht ist, dass keine Birnen herunterfallen, kann das nur schlecht mit einem Versagen des Baums erklären. Genau das tut aber Christian Lüscher. Nach dem Tod von Muammar Gaddafi hat der Newsnet-Redaktor bei Twitter reingeschaut und erwartet, dass er dort auf topaktuelle und faktenreiche Nachrichten stösst. Doch es kam anders: «Das Niveau war bedenklich.» Und weil er nicht fand, was er suchte, sondern nur beliebige und belanglose Meldungen, zog Lüscher ernüchtert Bilanz: «Twitter hat versagt.»

Das ist natürlich Unsinn (um nicht zu sagen: Unfug). Genauso gut hätte er das Gegenteil schreiben können: Auf keiner anderen Onlineplattform war man so nah dran an den Ereignissen rund um den Tod Gaddafis. Auch dafür finden sich Belege. Zum Beispiel den Twitter-Account der Fotografin Holly Picket. Sie war per Zufall in der Nähe der Ambulanz, in der der verwundete Gaddafi abtransportiert wurde und dokumentierte ihre Beobachtungen auf Twitter.

Kommt dazu, dass im arabischsprachigen Raum auch auf Arabisch getwittert wird. Wer sich ein vollständiges Bild machen will, kann nicht umhin, Tweets in allen relevanten Sprachen zu berücksichtigen. Im Fall von Libyen wären das an erster Stelle Englisch, Arabisch, Französisch, Italienisch, Deutsch. Ein dank Online-Übersetzungsdiensten durchaus bewältigbarer, aber sehr zeitintensiver Rechercheaufwand.

Vom Einzelfall aufs Ganze zu schliessen, führt ins Abseits. Ebenso sinnlos ist es, zum Zeitpunkt X einen Blick auf die Plattform zu werfen, ein paar Suchbegriffe einzugeben und danach einen Schluss ziehen zu wollen. Das ist digitaler Fallschirmjournalismus. Ähnlich dem Sonderkorrespondenten, der ohne tiefere Kenntnis der Materie ins Kriegsgebiet einfliegt, eine «geile Geschichte macht» und dann wieder von dannen zieht.

Natürlich ist es reizvoll, ein «Trendmedium» vom Sockel zu stossen. Wenn sich aber das Motiv darin erschöpft, gegen den Hype anzuschreiben, kann keine ernsthafte Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Kritik erwartet werden.

Minimale Kenntnisse davon, wie Twitter funktioniert, wären eine Grundvoraussetzung, um diesen Kritikversuch zu wagen. «Die Community», von der Lüscher dauernd schreibt, gibt es nicht. Es gibt unzählige Communities innerhalb von Twitter, die sich überschneiden. Ebenso wenig gibt es «den Nutzen» von Twitter. Was mich interessiert, braucht jemand anderes nicht im geringsten zu interessieren und vice versa.

Das weiss am besten, wer Twitter aktiv nutzt. Christian Lüscher hat zwar ein Konto, das er bis jetzt aber noch nie genutzt hat, um einen Tweet zu veröffentlichen.

Die im Artikel zitierte Empfehlung des Bloggers Mark Fonseca Rendeiro, sich sorgfältig mit Twitter zu beschäftigen, darf sich auch Christian Lüscher zu Herzen nehmen, bevor er ein nächstes Mal ein Urteil über Twitter abgibt.

Oder in den leicht variierten Worten des Autors: «Im Fall Twitter hat Newsnet versagt». Denn: «Das Niveau war bedenklich.» Das finden übrigens auch mehrheitlich jene Leser, die sich in den Kommentaren unter dem Twitter-Artikel geäussert haben.

Leserbeiträge

bugsierer 23. Oktober 2011, 22:39

unteriridsch, diese analüse. – und in der schweiz eine noch weit verbreitete unsitte, dass schurnis, die social media nie selber ernsthaft ausprobiert haben, darüber urteilen. noch schlimmer ist, dass diese schurnis dann auch noch sog. experten interviewen, die auch nicht viel mehr ahnung haben, wie das herr lüscher hier vormacht:
http://www.tagesanzeiger.ch/digital/internet/Heute-wollen-Unternehmen-echte-Fans/story/12187496?track

ts…

Christian Lüscher 24. Oktober 2011, 00:33

Faire Analyse, Nick. Das nehme ich sportlich. Ich gebe auch zu, dass ich mich mit diesem Text aufs Glatteis begeben habe. Du machst es aber mit deiner Kritik auch sehr einfach: 1) Wir haben die arabischen Einträge angeschaut, da wir tatsächlich einen Islamkenner auf der Redaktion haben 2) ich stosse ja nicht ein Trendmedium von Sockel. Ich habe einzig einen Einblick geben wollen, dass speziell im Fall Gadaffi viel Schrott getwittert wurde. Wir haben ja schon andere Erfahrungen gemacht! 3) twittere ich fleissig auf TA_Politik 4) wir geben nicht einfach Suchbegriffe auf Twitter ein und schauen, was passiert. Wir arbeiten z.B. intensiv mit Storyful 5) finde ich Twitter wirklich toll und wir wollen auf keinen Fall den Hype ins Jenseits schreiben. Immerhin bin ich als „Social Media Officer“ seit Mitte August dran, damit die Redaktion mehr Social Media nutzt. Ich finde übrigens, dass du das nächste Mal kurz anrufen kannst. Apropos: Wann gehen wir wie abgemacht das Bier trinken? Bist du diese Woche in Zürich? Gruss c.

Nick Lüthi 24. Oktober 2011, 10:44

Von diesen fünf Punkten, die du erwähnst, Christian, ist im Text leider sehr wenig zu sehen. Wenn ihr 1) die arabischen Tweets ausgewertet habt, weshalb erwähnst du das nicht? Sind die wirklich auch alle so belanglos? Kaum. 2) Im Fall Gaddafi wurde tatsächlich viel Schrott getwittert. Aber: Auch zu den Wahlen am Wochenende wurde viel Schrott getwitter. Dennoch war Twitter ein valabler Nachrichtenkanal, um sich ein Bild vom Geschehen zu machen. 3) Habe ich nicht gewusst, hätte ich besser abklären müssen. 4) Wenn ihr mit solchen Tools arbeitet, überrascht es mich doch, dass du nur Schrott gefunden hast. 5) Dann bin ich ja mal gespannt, was du aus deinem Offiziersposten machen wirst.

Christian Lüscher 24. Oktober 2011, 11:18

Lesen Nick… 1) „war auch von den sonst gut informierten libyschen Twitterern wenig zu erfahren…“ 2) Im Fall Gedaffi wurde besonders viel Schrott getwittert. Ich sass 7 Stunden vor dem Schirm. So etwas habe ich einfach noch nie gesehen. Norwegen war sehr ernst, auch NY während des Schneesturms usw. Sandro Brotz selbst sagte „Angesichts der Ernsthaftigkeit des Ereignisses ist das nicht angebracht“. Auch gestern war ich 9 Stunden auf Twitter. Nein, die Wahlen hatten kein solch „primitives Niveau“. 3) richtig… 4) Nick, glaub mir, CNN und Al Jazeera waren die besten Quellen. Auf Social Media war einfach sehr wenig und wenn, dann oft nur Verweise auf Medien oder ganz einfach Quatsch. 5) wir sind auch erst frisch dabei und experimentieren. Wir haben, wie alle glaube ich, noch kein Rezept. Dann noch zu deiner Analyse generell: Kann ich akzeptieren. Ich muss aber schon sagen, dass du zu stark auf den Mann spielst. Aber ich fühle mich irgendwie auch fast schon geehrt…

Nick Lüthi 24. Oktober 2011, 17:05

Es würde doch etwas seltsam anmuten, über einen Text zu schreiben, ohne zu erwähnen, wer ihn geschrieben hat. Auf den Mann gespielt habe ich aber definitiv nicht, sondern mich mit deiner Argumentation auseinandergesetzt, die mich in diesem Fall etwas schwach gedünkt hat.

othbuc 24. Oktober 2011, 11:27

Man hat gelesen, dass Gaddafi tot ist. Mehr war ja eigentlich auch nicht interessant, ausser noch ob es wirklich wahr ist. Ob der nun erschossen wurde oder sonst ums Leben kam wurde in weiss Gott was für Artikeln abgehandelt. Ich kenne niemanden, der diese Artikel wirklich las.
Und die ewigen Analysen der Folgen schon zum voraus. Na ja, das eine oder andere ist sicher gut. Aber die Geschichte wird die Folgen zeigen, so wie die Geschichte des Iraks seit dem Sturz von Saddam Hussein auch ganz anders ist, als vorausgesagt, vorausanalysiert. Und in Afghanistan und in Pakistan – was wurde da schon orakelt. Das mag doch gar niemand mehr lesen, kommt ja so oder so ganz anders als von den Möchtegerneexperten. Also, braucht es auch nicht so viele Meldungen überall und jederzeit. Dafür die WAHREN.

Christof moser 24. Oktober 2011, 17:01

Lieber Christian, schon sehr eigenartig, dein Beklagen, dass Nick Lüthi stark auf den Mann spielt. Wer hat zum Thema Imhof-Medienkritik ein „Fög you“ gepostet bei Facebook? Wer austeilt muss auch einstecken können, sonst wirkts schnell ein bisschen jämmerlich. Sonnige Grüsse

Christian Lüscher 24. Oktober 2011, 18:06

Christof, mein Post lautete „auch Voigt von 20 Minuten wettert über Imhof Studie. Fög you…“ Fög you ist eine Anspielung auf die Tonalität in Voigts Artikel. Aber zum eigentlichen Thema: Nicks Analyse ist sicher gerechtfertigt, aber auch etwas boshaft und konstruiert, wie sich im Nachhinein (siehe oben) herausstellt. Aber für mich ist die Sache vom Tisch.

Michael 24. Oktober 2011, 18:05

Wirklich peinlich, v.a. wenn man dann noch an die Frontpage-Berichterstattung von Newsnetz denkt, mit den dauernd aktualisierten Bildern über Ghadhafis Verwesungsstadium und die auch eher bescheidene eigenen Twitter-Offensiven bisher (Gurtenfestival, Wahlen etc).