Wer liest den Economist?
Noch nie gab es ein so reichhaltiges und leicht verfügbares Angebot an internationalen Medien. Wir können uns jederzeit und überall umfassend über das Weltgeschehen informieren – und tun das auch: Ausländische Qualitätstitel, etwa der Economist, legen in der Schweiz kräftig zu. Gleichzeitig reisst die Klage über den Niedergang des Auslandjournalismus nicht ab. Ein Widerspruch?
Die Medienlandschaft wird so intensiv vermessen wie noch nie. Jeder Klick im Netz, jeder Senderwechsel mit der Fernbedienung, jedes neue Zeitungsabonnement findet Eingang in mehr oder weniger verlässliche Statistiken. Dennoch fallen immer wieder Kategorien und Nutzungsformen zwischen Stuhl und Bank. Eine solche Messlücke klafft bei der Nutzung ausländischer Medien. In den für die Branche massgeblichen Auswertungen sucht man vergeblich nach den Schweizer Zahlen von New York Times, Le Monde oder Economist. Damit bleiben die Angaben der Verlage die einzigen einigermassen verlässlichen Quellen. Von Interesse sind die Zahlen deshalb, weil sie zeigen könnten, ob internationale Medien den Rückgang der Auslandberichterstattung in Schweizer Medien zu kompensieren vermögen.
Eine bisher wenig bekannte Erfolgsgeschichte schreibt der Economist in der Schweiz. Die Wochenzeitschrift erreicht mit einer Auflage von 18’314 Exemplaren die höchste Marktpenetration ausserhalb ihres Heimmarkts in Grossbritannien. Im vergangenen Jahr konnte die gedruckte Auflage in der Schweiz um mehr als tausend Exemplare zulegen. Der Erfolg kommt nicht von Ungefähr. Vor zwei Jahren hat der Economist-Verlag in Genf eine Niederlassung eröffnet und betreut von dort aus die Märkte Europas, Afrikas und des Nahen Ostens. «Das Büro in Genf hat uns auch geholfen, die Position in der Schweiz zu stärken», sagt Marina Haydn, Circulation Director in der Genfer Niederlassung. «Wir bearbeiten den Markt aktiv, zum Beispiel mit einer Inseratekampagne in ‚Le Temps‘ und NZZ, sowie auf ausgewählten Online-Plattformen». Für den Erfolg in der Schweiz hat Haydn zwei Erklärungen. Zum einen zählt sie die grosse Zahl gutqualifizierter, englischsprachiger Ausländer zum Kernpublikum. Zum anderen vermutet sie, dass der Economist in der Schweiz auch deshalb so stark sei, weil es hier keine nationalen Nachrichtenmagazine oder Wochenzeitungen gibt, wie etwa in Deutschland «Der Spiegel» oder «Die Zeit».
Die beiden deutschen Publikationen sind es denn auch, die hinter dem Economist zu den auflagenstärksten internationalen Nachrichtenmedien in der Deutschschweiz zählen. «Der Spiegel» setzt wöchentlich 16’750 Exemplare ab und «Die Zeit» zwischen 11- und 15’000. Wie es bei der Online-Nutzung aussieht, lässt sich nicht ganz so einfach eruieren. Die New York Times teilte der MEDIENWOCHE mit, dass sie die Zugriffszahlen nicht nach Ländern aufgeschlüsselt öffentlich zur Verfügung stelle. Von anderen Verlagen erhält man zwar Nutzerzahlen, aber von jedem etwas andere, so dass sie einen Vergleich nicht zulassen.
Eine – wenn auch nur rudimentäre – Möglichkeit, mit einem einheitlichen Massstab zu messen, bietet «Google Insight for Websites». Damit lassen sich die Daily Unique Visitors von Websites nach der Herkunft aus einzelnen Ländern geordnet darstellen. Auch wenn die Zahlen nur beschränkt aussagekräftig sind, lässt sich damit deutlich zeigen, dass die Zugriffe aus der Schweiz auf internationale Nachrichtenseiten mehr als nur Quantité négligeable sind. Als Beispiel ein Vergleich zwischen BBC, CNN, Le Monde, Der Spiegel und der NZZ als Referenzgrösse für ein Schweizer Medium mit ausgebauter internationaler Berichterstattung (siehe nachfolgende Grafik). Auch wenn die NZZ erwartungsgemäss mit grossem Abstand an der Spitze der Nutzung liegt, erreichen die ausländischen Sites doch beträchtliche Werte. Kumuliert liegen die täglichen Zugriffszahlen dieser vier Sites gar auf dem Niveau der NZZ.
Was man aus diesen Zahlen herauslesen darf, bleibt indes umstritten. Ist es zulässig, sie in Relation zur Auslandberichterstattung von Schweizer Medien stellen? Oder bleibt ein schweizerischer Blick auf die Weltpolitik unerlässlich um das globale Geschehen in den innenpolitischen Kontext einordnen zu können? Um diese Fragen ging es auch auf einer Podiumsdiskussion beim Treffen der Auslandkorrespondenten vom Schweizer Radio Anfang Juni.
Die Szene kommt einem vertraut vor: Professor Kurt Imhof warnt wortreich und mit einem Hang zur Dramatik vor den fatalen Folgen für die Demokratie, wenn Schweizer Medien ihre Auslandberichterstattung weiter vernachlässigten. Mit seiner Klage hat Imhof im Studio Bern ein Heimspiel. Schliesslich kann sich das gebührenfinanzierte Radio ein weltumspannendes Netz an Berichterstattern leisten und ist damit von der professoralen Kritik ausgenommen. Den Prügelknaben gibt an diesem Juninachmittag Michael Hug. Als Chefredaktor der Berner Zeitung führt er kein Auslandressort mehr. Die internationale Berichterstattung bestreitet die BZ mit pfannenfertig angelieferten Zeitungsseiten von der Nachrichtenagentur SDA. Für Imhof eine Steilvorlage. Der Wegfall unterschiedlicher Perspektiven auf das Weltgeschehen sei ausserordentlich fatal. Und Imhof weiter: «Wenn die Medien nicht mehr selbst Erfahrungen einsammeln über geostrategische Umwälzungen, dann ist die Schweiz weniger dafür gewappnet, sich in dieser Welt zu positionieren.» So weit, so bekannt. Schliesslich ist die Klage über den Niedergang der Auslandberichterstattung in Schweizer Medien nicht ganz neu.
Was sich im heruntergedimmten Konferenzsaal des Radiostudios Bern zunächst als Blockgottesdienst anlässt, erfährt erst eine Irritation, als Nicola Forster bestehende Gewissheiten in Frage stellt. Der Präsident des aussenpolitischen Think-Tanks FORAUS mag nicht in den Chor der Pessimisten einstimmen. Ihm bereitet der Zustand der schweizerischen Auslandberichterstattung keine Sorgen, denn die Schwäche der einen, ist die Stärke der anderen. «Die Möglichkeiten, sich zu einem günstigen Preis über internationale Zusammenhänge zu informieren, war noch nie so gut wie heute», stellt Forster fest. Der junge Jurist sagt das auch deshalb, weil er die oft als glorreich verklärte Vergangenheit des Auslandjournalismus als aktiver Medienkonsument nicht selbst erlebt hat. Als sich sogar Lokalzeitungen eigene Korrespondenten in den Metropolen der Welt leisten konnten, interessierte sich Forster noch nicht für Aussenpolitik. Heute liest er Economist, Guardian oder Huffington Post. «Die Breite des Angebots und seine permanente Verfügbarkeit wiegen den fehlenden Schweizbezug weitgehend auf», findet Forster.
Was dem aussenpolitisch engagierten Juristen als Selbstverständlichkeit erscheint, ist dem Medien- und Öffentlichkeitssoziologen ein Gräuel. Kurt Imhof kann Forsters Sichtweise wenig abgewinnen. Er hält sie für ein Zerrbild der Realität. Von der Verfügbarkeit internationaler Medien dürfe man nicht auf deren Relevanz für die innenpolitische Debatte schliessen, zumal es sich bei der Nutzung ausländischer Informationsmedien um einen «schmalen Elitekonsum» handle. Mit anderen Worten: Economist & Co. vermögen nicht zu kompensieren, was Schweizer Medien vernachlässigen. Für Imhof ist klar: «Relevanz für Publikum und Politik konstituiert sich sozial über die Filterfunktion nationaler Medien.»
Eine spezifische Schweizer Optik ist sicherlich unabdingbar auf den aussenpolitisch bedeutsamsten Korrespondentenposten in Brüssel und Berlin. Bei der EU und in der deutschen Hauptstadt werden Entscheide gefällt, die den Gang der schweizerischen Innenpolitik nachhaltig beeinflussen. Wenn dagegen die x-ten Gespräche zum Atomprogramm des Iran stattfinden und ein Schweizer Radiokorrespondent darüber berichtet, dann ist der einzige Schweizbezug oft nur die Tatsache, dass der Reporter mit einem Schweizer Akzent spricht. Was den Gehalt der Berichterstattung angeht, könnte man aber genauso gut mit einem beliebigen internationalen Qualitätstitel Vorlieb nehmen.
Als diplomatischer Korrespondent vom Schweizer Radio berichtet Fredy Gsteiger regelmässig über Vorgänge der globalen Diplomatie. Gsteiger ist sich bewusst, dass nicht in jeden Bericht eine spezifische Schweizer Sicht einfliessen kann, aber das geschehe «doch öfter, als man das auf den ersten Blick vermuten würden». Wieviel Swissness in einem einzelnen Beitrag stecke, sei aber nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr gehe es darum, schreibt Gsteiger auf Anfrage der MEDIENWOCHE weiter, dass sich die Schweiz – gerade als reiches und international vernetztes Land – weiterhin oder gar wieder verstärkt einen eigenen Blick auf die Welt leisten muss, um sich eine eigene Deutung der internationalen Geschehnisse vorzubehalten. Das liest sich wie ein frommer Wunsch. Als einzige Schweizer Medien unterhalten die NZZ und Schweizer Radio ein eigenes, weltumspannendes Korrespondentennetz, das eine kontinuierliche Berichterstattung aus aller Welt gewährleistet.
So lange es keine verlässlichen Zahlen und wissenschaftlichen Untersuchungen über die Nutzung internationaler Nachrichtenmedien in der Schweiz gibt, bleiben Aussagen über deren Leistung für den innenpolitischen Diskurs einigermassen spekulativ. Was aber ausser Zweifel steht: Mit dem umfassenden internationalen Medienangebot im Web haben die Möglichkeiten massiv zugenommen, sich kompetent über das Weltgeschehen zu informieren. Wenn Kurt Imhof in diesem Zusammenhang von einem «schmalen Elitekonsum» spricht, dann stellt sich die Frage: war das nicht schon immer so? Nur weil Schweizer Medien früher ausführlicher über das Weltgeschehen berichteten, heisst das noch lange nicht, dass sich damals auch mehr Leute dafür interessiert hatten. Und wenn es tatsächlich nur eine Elite sein sollte (wie schmal oder breit die auch immer sein mag), die sich für eine aussenpolitische Berichterstattung interessiert, dann kann die sich heute ein umfassenderes und differenzierteres Bild des Weltgeschehens machen. Das alleine ist schon ein Gewinn.
Rainer Stadler 03. August 2012, 23:34
Es ist ein ärgernis, dass die potenziell zur Verfügung stehende Menge an Informationen, die von ein paar wenigen, die Zeit dafür haben, gelesen werden, mit den Informationen der in der Schweiz immer noch massenwirksamen Schweizer Medien gleichgeschaltet wird. Auch wenn nicht alle Schweizer Leser von Schweizer Medien alles lesen, die Bedeutung der Laufkundschaft bei Auslansthemen (wenn man Abonnenten als solche bezeichnen kann) sollte man nicht unterschaetzen. Solange man nicht gleich einen Harakiri-Diskurs führen will. Und solange man nicht einfach das Mantra bornierter Manager nachbeten will. Liebe Leute, versauert nicht in eurem selbstzufriedenen Provinzialismus. Gruss aus Paris, wo Kultur noch mehr bedeutet als Räpplispalten.
Christof Moser 04. August 2012, 11:22
Wichtigkeit und Einfluss von Brüssel auf die Schweizer Innenpolitik stehen in keinem Verhältnis zur stiefmütterlichen, episodischen und von wenigen Ausnahmen abgesehenen (NZZ, Radio SRF) oberflächlichen EU-Berichterstattung in den Schweizer Medien.
Die Provinzialisierung und der Rückzug ins Regionale sind Perspektivenkiller in unserer Branche. Wer mehr will als Journalist, muss ins Ausland flüchten.
Ich kenne übrigens nicht wenige (jüngere) Medienkonsumenten, die inzwischen gänzlich auf Schweizer Medienprodukte verzichten. So kann man seine Kunden auch vertreiben.
@Nick: tolle Analyse. @ras: guter Kommentar.
Kurt Imhof 04. August 2012, 12:21
Das ist eine wichtige Debatte! Nicht zuletzt deshalb, weil sie zeigt, wie weit das Denken in Kategorien von Angebotsmärkten das Denken in Kategorien demokratischer politischer Reflexion und Regulation verdrängt. Das wichtigste Argument für eine auf Dauer gestellte weltinnenpolitische Berichterstattung aus der Perspektive von Nationalstaaten ist das schlichte Faktum, dass die Demokratie in der Moderne, da wo sie funktioniert, auf eben diesen Nationalstaat beschränkt ist. Ich bedauere das und setze mich als Staatsbürger und Europäer für deren Entgrenzung – bei aller Subsidiarität – ein. Schliesslich werden uns die Nachteile einer einseitigen, wirtschaftlichen Integration Europas spätestens jetzt schmerzlich bewusst.
Solange aber die Souveränitätsansprüche von Nationalstaaten die Weltinnenpolitik und auch die Regulation einer globalisierten Ökonomie bestimmen, muss die weltinnenpolitische Positionierung und die Positionsbezüge der Demokratien unter diesen Nationalstaaten durch den Reflexionsfilter innenpolitischer Auseinandersetzungen hindurch gesucht und gefunden werden. Und diese Debatten finden nicht im Economist statt und sie leben von den Beobachtungsleistungen jener Medientitel in den politisch relevanten nationalen Medienarenen, die Korrespondentennetze aufrechterhalten. Selbstverständlich weiss dies auch Nicola Forster von FORAUS, deshalb will FORAUS solche Debatten in der Schweiz – und das heisst eben – in den Schweizer Medien anregen. Um simple Folgen mangelnder aussenpolitischer Reflexion durch zu dünne und zu wenig reflexive Korrespondentennetze und ebensolche innenpolitische Debatten zu benennen, muss man nicht auf die aktuelle aussenpolitische Defensive der Schweiz rekurrieren, deren Eliten bei allem Economist-Konsum gerade nicht gesehen haben, was auf die Schweiz in Sachen Bankgeheimnis und Steuergesetzgebung zukommt. Es reicht allein schon darauf zu verweisen, dass die CH-Bürger nicht wissen, warum aus den wichtigsten Ursprungsländern der Asylmigration die Asylbewerber kommen und dass dieselben Bürger hinsichtlich der wichtigsten Zielländer der CH-Entwicklungspolitik nicht wissen, warum und was gefördert wird. Die Information über beides ist absolut marginal, gerade weil es an Korrespondenten fehlt (und es soll mir nun bloss niemand mit der Homepage des EDA kommen – hier finden sich Quellen für kritische Berichterstattung aber nicht die Berichterstattung selbst).
Das ist das demokratietheoretische Argument, das die medienpolitische Mahnung nach Aufrechterhaltung und Ausbau der Korrespondentennetze in ihrer rechtfertigt. Angebotsmärkte beugen sich nicht demokratischen Ansprüchen. Das spricht nicht gegen Angebotsmärkte aber für die Abdeckung demokratischer Ansprüche in innenpolitischen Debatten.
Daneben erlaube ich mir noch das ganz altertümliche Argument von den Redaktionen als Reflexionsräumen. Wenn Abonnementszeitungen die Berichterstattung über den Rest der Welt um Bern herum simpel einkaufen, dann muss auch die Reflexion von diesem Rest der Welt auf den eigenen Mikrokosmos aussen vor bleiben.
Jörg Thalmann, Mitautor 21 11. August 2012, 10:09
Lieber Herr Lüthi, Illustration aus EWR-Zeiten, als ich noch aus Brüssel berichtete: Der EWR wurde mit 50,3 Prozent Nein verworfen, 30000 Ja statt Nein hätten genügt, um beim Stände-Nein von 16 Kantonen wenigstens ein Volks-Ja zu haben, und Blocher hätte nie mehr sagen können „das Volk will den EWR nicht“, was der Anfang von 20 Jahren schrittweise steigender EU-Feindlichkeit war. Das Zuviel von 0,3 Prozent Nein hatte keine einzige grosse, sondern viele kleine Ursaschen, darunter diese: 1989-92 berichteten sowohl für die Schweizer Depeschen-Agentur SDA wie auch für Radio DRS zwei ausländische Korrespondenten über sämtliche EWR-Verhandlungen. Der von der SDA hauptamtlich, ständig mäkelnd, weil er sein Land nicht im EWR sondern in der EU haben wollte, der für DRS nebenamtlich neben seinen deutschen Abnehmern. Ich bin überzeugt, dass wir ein Volks-Ja bekommen hätten, wenn zwei Schweizer Korrespondenten über den EWR berichtet hätten. Gruss aus immer noch Brüssel nach 15 Jahren Pension! Jörg Thalmann