Wer kann, zieht hier hin
Monika Zech von der «Tageswoche» verbringt Mitte Januar drei Tage in Berlin-Neukölln. Ihr Bericht darüber bleibt an der Oberfläche und kommt mindestens fünf Jahre zu spät. Der Titel des Artikels ist faktisch falsch. So ist das keine Alternative zur «Basler Zeitung».
«Albtraum Multikulti», «Schmuddelecke», «Wer kann, zieht hier weg». Ja, das ist mal wieder mal ein Artikel über Berlin-Neukölln, den Bezirk, den sich deutschsprachige Journalisten so oft vorknöpfen, wenn sie über «Ausländer» schreiben. Es ist die Titelgeschichte der «Tageswoche» vom 1. Februar, der «Zeitung aus Basel», die zwar explizit «keine Anti-BaZ» sein möchte, aber doch gegründet wurde als Alternative zur «Basler Zeitung» im Zuge der Neuordnung ihrer Besitzverhältnisse.
Wenn es als Fallschirmjournalismus bezeichnet wird, wenn Journalisten ohne Vorkenntnisse in Kriegsgebiete geschickt werden, so könnte man die Neukölln-Reportage von Monika Zech als Easyjetjournalismus bezeichnen: Gemäss Text war sie zweimal in einer «Döner-Bude», hat einmal mit einem Imam geredet und ist einmal an einer Stelle vorbeigelaufen, an der kurz zuvor ein Mann zwei Frauen erschossen hatte. Und sie hat mit Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky geredet, auf dessen (teilweise aktuellen, teilweise überholten) Einschätzungen vieles im Text beruht.
Lesenswert und nachvollziehbar an der Reportage und am Interview ist das, was die Neuköllner erzählen. Die Journalistenfragen scheinen sich zu gleichen, Buschkowsky jedenfalls sagt schon gelangweilt:
Jetzt kommt wohl die Frage, die 80 Prozent aller Journalisten stellen: «Sind Sie nicht so eine Art Sarrazin light?»
Auf Anfrage erzählt Monika Zech, dass sie zwar nicht das erste Mal in Berlin war, aber das erste Mal in Neukölln, ein Drei-Tage-Trip mit Easyjet. Die Lektüre von «Neukölln ist überall» sei der Ausgangspunkt für den Artikel gewesen, doch besser hätte sie das Buschkowsky-Buch für eine Überprüfung der Lage in Basel genommen: «Hier in Basel gibt es ja auch eine grosse Kultur des Wegschauens.» Es sei jedoch klar, dass niemand seine Kinder in Schulen bringen will, die, wie in Neukölln, von einem Wachschutz bewacht werden. Zum Titel räumt Zech selbstkritisch ein, er sei misslungen: «Er führt auf die falsche Fährte, ich würde heute deshalb einen anderen wählen.»
Der Titel der Story, «Wer kann, zieht hier weg», beruht etwa auf dem Stand von 2006 oder vorher; inzwischen hat sich sehr vieles getan, was in einem kurzen Absatz als «Szene der Kreativen und Möchtegern-Kreativen» abgetan wird. Gab es 2007 rund um die Weserstrasse vielleicht zwei sogenannt «hippe» Kneipen, sind es 2013 Dutzende, was zu einem geräuschvollen Nachtleben inklusive Konflikten mit den Nachbarn führt. Es gibt unzählige Ateliers und Galerien, eine Schar von Freiberuflern, die tagsüber in Cafés arbeiten, und auf coworking.de sind mindestens 7 Neuköllner Co-Working-Gemeinschaften verzeichnet. Dazu kommen viele Touristen, vor allem im Sommer. Seit 2010 das riesige Tempelhofer Feld eröffnet wurde, ist der direkt in der Anflugschneise des vormaligen Flughafens Tempelhof gelegene Stadtteil zu einem durchaus lebenswerten Teil der Stadt geworden. Die ehemalige Rütli-Oberschule ist inzwischen eine Vorzeigeschule, die den Namen «Campus Rütli 2.0» trägt. 2006 noch hatten, so ist zu hören, Boulevardreporter Schülern 50 Euro offeriert, wenn sie mit einem Stein in der Hand und grimmigem Blick für die Kamera posierten.
Bereits 2010 war in der «taz» zu lesen, wie sich Menschen bei Wohnungsbesichtigungen drängen, wie der Wohnraum knapp wird, wie bedürftige Menschen durch die Mietsteigerungen an den Rand der Stadt gedrängt werden. Und bereits 2010 regten sich Leute (ironisch oder auch nicht) über diese Neuzuzüger furchtbar auf:
Offending the Clientele from Sender FN / Retsina-Film on Vimeo.
Wohnten im Dezember 2007 306’713 Menschen im Bezirk Neukölln, waren es im September 2012 321’834, es zogen also in den letzten Jahren kumuliert rund 15’000 Menschen in den Bezirk, darunter viele junge Spanier, Italiener, US-Amerikaner oder Briten. Berlin-Neukölln ist seit über hundert Jahren Lebensraum für kleine Angestellte, Arbeiter, Arbeitslose. Und derzeit ein internationales Magnet für kreative und pseudokreative Menschen mit kleinem Einkommen, «Wer kann, zieht hier hin» muss es also heissen, nicht «Wer kann, zieht hier weg». Das wäre die Geschichte, die man im Januar 2013 hätte erzählen müssen. Gut möglich, dass sich die Lage sehr schnell wieder ändert, sobald sich die Wirtschafts- oder Schuldenkrise zuspitzt oder aber die Lebenshaltungskosten steigen.
Wirklich schlecht wird es mir bei der «Tageswoche»-Bildunterschrift «Multikulti wie es gefällt: Buntes Treiben am wöchentlichen Türkenmarkt am Maybachufer, im derzeit hippen ‹Kreuzkölln›». Multikulti wie es gefällt! Unter einem Bild von zwei Marktbesucherinnen mit Kopftuch! Buntes Treiben! Das ist einfach nur oberflächlicher Blödsinn mit grösstmöglicher Distanz zum Objekt der Berichterstattung, man könnte fast von einer «Kultur des Wegschauens» sprechen. So einen provinziellen Quatsch mag man nicht mal der «Basler Zeitung» zutrauen.
Offen bleibt die Frage nach dem «Multikulti wie es nicht gefällt» – die eine Reportage mit diesem Titel beantworten müsste. Doch der Leser erhält kaum Einblicke in «Armut, Parallelgesellschaften und Gewalt». Trotz Besuch bleibt Neukölln eine grösstenteils unbeleuchtete «Schmuddelecke».
Wer kann, zieht hier weg (von Monika Zech)
«Unser Feind heisst Ignoranz» (Interview mit Heinz Buschkowsky)
Integriert ist, wer keinen Ärger macht (von Matthias Oppliger)
Offenlegung: Ronnie Grob wohnt in Berlin.
Nachtrag, 8. Februar 2013, 9:15 Uhr: Dass der «Tageswoche» einige der erwähnten Entwicklungen durchaus bekannt sind, hat sie im Juli 2012 bewiesen, als sie Schweizer in Berlin porträtierte.
Felix Herzog 08. Februar 2013, 13:41
Vielen Dank für den Artikel und die Richtigstellung.
Grüße aus Neukölln!
Sebastian Wolff 08. Februar 2013, 22:05
Ein Artikel über einen bösen und mit schlecht integrierten „Ausländern“ überbevölkerten Bezirk kann man halt auch zu Zeiten von Rütli 2.0 besser an den Leser bringen als eine Geschichte, die von einem langsamen, aber stetigen Erfolg in einem nicht ganz problemlosen Bezirk berichtet. Das hier die Zusammenarbeit der Verbände, Politik und nicht zuletzt der Bürger einiges bewegen konnte ist offensichtlich nicht ausreichend für eine Titelstory dieser Zeitung. Neukölln ist schon seit einiger Zeit nicht mehr so schlimm, wie es uns bestimmte Boulevards-Blätter glauben machen wollen. Man kann es erleben, wenn man sich unbefangen und mit offenem Blick in Neukölln bewegt.
Albert Kuhn 10. Februar 2013, 00:29
Na sowas!
Letzten November war ich in Berlin, in Neu-Kölln, genauer. Drei Tage, ein Job. Gern kann ich bestätigen, dass auf den Strassen dieses medial neu und scharf beleuchteten Stadtteils ein weitgefächertes Angebot an Ethnien zu begegnen ist. Als Schweizer mit Kreditkarte ist man mental schnell bereit, besonderen Gefahrenswahrscheinlichkeiten ausgesetzt zu sein. Etwa beim quälenden Gedanken, welche der zahlreichen Versicherungen sich – bei einem Raub vorm Tchibo vielleicht – als zuständig erklären würden. Fieserweise geschah gar nichts. Sogar Google Earth gab nichts Explosives her: Die neue Moschee und der israelische Friedhof koexistierten Schulter an Schulter.
Ich war Gast in einer sechsköpfigen WG im Hinterhof eines sechsstöckigen Backsteinhauses. Am ersten Abend checkte man Kneipe um Kneipe, blieb auch mal hängen, etwa in der schummrigen Kaschemme, die sich wochenends als Tango-Kneipe versteht. Wo abends scheue Tanzversucher auf geübte Tangotanten treffen – happy trotz krass unterschiedlichen Schrittkünsten. In einem einsamen Hinterzimmer ein Billiardtisch, dazu Vodka.
Andernmorgens um zehn wurde ich zum Frühstück geladen. Kleines Lokal, kein Bling-Bling, dafür Croissants mit selbstgemachter Aprikosenfüllung, dazu feine Tee-Auswahl und genug Zeitungen. Null Zeitdruck. Das ideale Setting, in dreissig Minuten die erste Seite eines Romans hinzuklatschen.
Dann meinte die Begleitung, in der Nähe müsste ein okayer Kiosk sein. Mithilfe kurzem Verirren fand man ihn bald. So wie die Bude aussah, würde man wohl kaum mehr als Zigaretten kriegen.
Aber im Gegenteil: Die Presseauswahl war absolut international, die Zahl und Auswahl deutscher Medien überwältigend. Wo in Zürich kann man den deutschen Dorian Grey lesen? Noch beeindruckender die trockenen Kommentare, die die Verkäuferin (wohl mit Soziologie-Abschluss) einschub: Wohin etwa der «Der Freitag» tendiere und warum. Ihr Tipp: The European, ein deutsches Magazin, das u.a. voraussagte, erst nach Obama würden die USA einen Wandel erleben.
Mit einem kleinen Umweg stiess ich endlich aufs Paradies: Die Buchhandlung B-Books, Lübbenerstrasse 14, die das blitzgescheite Merve-Programm vollständig führt. Sitzend und in Armlänge erreichbar.
An die Redaktion Tageswoche: Reportage sofort wiederholen.
Und in der richtigen Stadt, bitte.