Nachhilfe für die Weltwoche
Die Gerichtsshow der «Zürcher Prozesse» von Milo Rau stellte sich als hervorragende Anlage für eine gepflegte Diskussionskultur heraus. Nun ist es an der Weltwoche, aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen zu ziehen. Das einzige politische Wochenmagazin der Schweiz verfügt über eine hervorragende Ausgangslage, um zu einer breit anerkannten Leitschrift zu werden.
Die von Milo Rau inszenierten «Zürcher Prozesse» übertrafen die zuvor an das Ereignis gestellten Erwartungen in erfreulicher Weise. Ihre strenge Form ermöglichte einen befruchtenden Austausch zu einer landesweit immer wieder gestellten und diskutierten Frage, nämlich: «Wie stehst Du zur Weltwoche?». Es wurde am Sonntag in der Zürcher Altstadt so gepflegt und gesittet debattiert wie gleichentags an der Landsgemeinde in Glarus. Die beiden diszipliniert durchgeführten und fruchtbar beendigten Debatten-Ereignisse stehen in grellem Gegensatz zur Stammtisch-Kultur der Elite, wie sie mitunter an Podiumsdiskussionen oder in den vielen ARD-Talkshows zu beobachten ist. Man versammelt sich dort unter seinesgleichen, stellt sich selbst dar, wird nach jedem Satz lauter, hört einander nicht zu und schneidet dem Gegenüber das Wort ab.
Die angeklagte Weltwoche wurde von den Geschworenen mit 6 gegen 1 Stimme freigesprochen. Das stets verlässlich gegen Weltwoche und Basler Zeitung anschreibende Medienmagazin «Edito + Klartext» nahm es zum Anlass, jene Geschworene zum Interview zu bitten, die die Weltwoche verurteilt hatte, Patrizia Fedier, 84. Sie sagte:
«Es war für mich auch sehr spannend zu hören, der Anteil der ‹Weltwoche› an der Presseauflage mache nur sieben Prozent aus. Ich war sehr erstaunt: Wenn der Anteil wirklich so klein ist, weshalb hat die ‹Weltwoche› mit ihren Artikeln eine so grosse Popularität? Dann habe ich verstanden, dass viele Medien und Personen reproduzieren, was die ‹Weltwoche› schreibt – auch wenn sie eigentlich dagegen sind.»
Klare Analyse, die Weltwoche ist ein Leitmedium, so wie in Deutschland «Spiegel» und «Bild». Gemacht von einem kleinen Trupp unabhängiger Journalisten, wenn man denn glauben darf, was Redaktor Alex Baur zu Protokoll gegeben hat (ab Minute 6):
«Ich habe schon auf vielen Redaktionen gearbeitet, und selten habe ich einen derart offenen und liberalen Geist erlebt, wie ich ihn auf der Weltwoche Tag für Tag erlebe. Da wird gestritten und debattiert, dass es eine Freude ist und manchmal auch eine Qual. Aber schlussendlich habe ich immer das geschrieben, was ich für richtig hielt. Und da hat mir niemand irgendwelche Devisen erteilt, weder Köppel, noch Herr Tettamanti, noch Herr Blocher, noch irgendwer. Und ich kann ihnen sagen, die anderen Autoren der Weltwoche, die halten das auch so.»
Inklusive dem Chefredaktor und seinem Stellvertreter sind es gerade mal 15 Personen, die die Schweiz und manchmal auch das Ausland aufmischen (ohne Korrespondenten und freie Mitarbeiter, gemäss Impressum). Im Vergleich die Sonntagszeitung: 64. Die NZZ am Sonntag: 60. Die WOZ: 19. Das Magazin: 8. Mit 15 festen Personen jede Woche bis zu 80 Seiten hinzukriegen mit in aller Regel lesenswerten Artikeln, das ist eine schöne Leistung, an der sich der Rest der Schweizer Medienlandschaft messen darf. Der Output einiger anderer Redaktionen ist quantitativ und qualitativ geringer.
Die Ankläger gingen voller Selbstbewusstsein in den Prozess, und kamen voller Zweifel wieder heraus. Wieso bloss sind nicht mal Geschworene einer Gerichtsshow zu überzeugen, die Weltwoche zu verurteilen? Die WOZ schrieb zum 6:1-Entscheid der Jury:
«Den Entscheid begründet die Geschworene Erika Nart so: ‹Um es wie im Fussball zu sagen: Der Ball hat die Linie berührt, aber nicht überquert.› Die Glarnerin Nart ist beruflich im Sozialbereich tätig. Während des dreitägigen Prozesses hat sie an der Neumarktbar jeden Abend bei Weisswein mit ‹Weltwoche›-Autor Alex Baur fraternisiert.»
Scharf beobachtet! Aber was, wenn die Weltwoche von «fraternisieren» schreibt über eine Geschworene, die sich erlaubt, Weisswein zu trinken mit einem WOZ-Redaktor?
Nicht nur die Beschuldigte, auch die Kläger müssen sich hinterfragen. In der Urteilsverkündung der Geschworenen hiess es (ab Minute 5):
«Die Anklage war teils zu wenig glaubwürdig, es geschahen zu viele Angriffe gegenüber Abwesenden. Die Anklage hat sich teils im selben beklagenden Muster wie die Weltwoche verhalten.»
Die Doppelmoral der Kläger steht gross im Raum. Man darf die Weltwoche schon anklagen wegen «Schreckung der Bevölkerung». Aber wie viele Medien und Journalisten dürften sich gleich daneben auf die Anklagebank setzen? Vogelgrippe, Schweinegrippe, radioaktive Strahlung, Handystrahlung, Waldsterben, EHEC, die Liste der von den Medien verbreiteten Schrecknisse ist endlos. Nur mit den Folgen der Panikmache möchte man nichts zu tun haben (die trägt in der Regel am Ende der Steuerzahler). Die beiden anderen Anklagepunkte, «Rassendiskriminierung» sowie «Gefährdung der verfassungsmässigen Ordnung», sind breit auslegbar: Diskriminiert werden von den Medien jeden Tag Menschen, und von einem guten Rechercheur werden sich staatliche Organe schnell mal in ihrer Ordnung gestört fühlen.
Roger Köppel selbst gibt sich nach dem Prozess einsichtig:
«Offensichtlich ist es der Weltwoche nicht immer gelungen, eine kritische Leserschaft von der Lauterkeit ihrer Ziele und Mittel zu überzeugen. Ohne eigenes Ungenügen hätte es keine fundierte Kritik und damit auch keine ‹Zürcher Prozesse› gegeben. Wir nehmen das Verfahren daher als Auftrag und Ansporn, uns noch intensiver darum zu bemühen, auch jene Leser mitzunehmen, die dem Blatt nicht auf Anhieb zu folgen bereit sind.»
Köppels Weltwoche verfügt über eine hervorragende Ausgangslage. Sie könnte viel mehr sein, als vornehmlich ein Medium für «swiss native men», wie man sich das Woche für Woche anhand der Vornamen auf der Leserbriefseite zusammenreimen kann:
Kaum Konkurrenz: Sie steht im Markt der Schweizer Wochenpublikationen nur der (lauen) Konkurrenz der WOZ und den Schweizer Seiten der «Zeit» gegenüber (während es haufenweise Sonntagszeitungen gibt).
Neue Leser: Sie könnte der Schweizer «Spiegel» sein, wenn sie sich vermehrt auch Fragen öffnen würde, die abseits von Politik, Wirtschaft und Geschichte liegen oder sich auch mal darum kümmern würde, was wohl liberale Frauen gerne lesen würden.
Neue Märkte: Sie könnte expandieren in den ganzen deutschsprachigen Raum, wenn sie sich die unnötigen Pauschalisierungen und Provokationen austreiben könnte, was «Schreiben, was ist» ja bekanntlich genau nicht ist.
Neue Einkünfte: Sie könnte ein Leitblatt des liberalen Aufbruchs werden, vielleicht sogar finanziert von ihren eigenen Lesern (wie die Taz).
Neue Verbreitungsgebiete: Sie könnte die vielen potentiell «Weltwoche»-freundlichen Leser im Internet erobern – wenn sie denn den Mut dazu hätte.
Die «Zürcher Prozesse» haben Sachlichkeit in eine viel zu emotional geführte Debatte gebracht. Weil die Teilnehmer dazu gezwungen waren, den Argumenten der Gegner auch mal länger zu folgen, hat sich sogar die eine oder andere Sichtweise verschoben oder erweitert. Und tatsächlich machen der daueraufgeregte Claudio Zanetti und der bis ins Mark empörte Robert Misik einfach einen besseren Eindruck, wenn ihr Puls im Normalbereich schlägt. Wer seine Ziele stets mit äusserstem Engagement verfolgt, neigt zur Verblendung und dazu, seine eigene Position nicht mehr zu reflektieren. Auch die Ausdrucksweise entfernt sich dann vom Reden und verkommt zum Rumbrüllen, hier ein Beispiel von Rainer Brüderle. Gute Argumente kommen auch an, wenn sie fair, in gefälliger Weise und ohne unzulässige Verkürzungen und Verallgemeinerungen geäussert werden. Nichts mehr verlangt die Öffentlichkeit von der Weltwoche.
Es ist wirklich ganz einfach, Michel Friedman brachte es auf den Punkt:
«Die ist immer Aufhetzung.»
Also lasst uns doch versuchen, nicht zu oft von denen zu reden – es sei denn, man könne sie konkret mit statistischem, wissenschaftlichem oder anderem relevanten Material zu Gruppen zusammenführen. Ganz egal, ob es Muslime, Christen, Juden, Männer, Frauen, Homosexuelle, Heterosexuelle, Veganer, Russinnen, IV-Bezüger, SRF-Mitarbeiter, SVP-Mitglieder, Roma, Weltwoche-Redaktoren, Afrikaner oder Autofahrerinnen sind. «Schreiben, was ist» erfordert genauere Angaben.
Fred David 11. Mai 2013, 00:05
Ich finde die „Weltwoche“ noch immer über weite Strecken unlesbar, voller gravierender Fehleinschätzungen, die sich aus zeitlichem Abstand Stück für Stück nachweisen lassen, und ich wundere mich, dass das bei den Gläubigen keine Rolle zu spielen scheint. La crise n’existe pas? Wie kann man diese Zeitung als künftiges“Leitmedium“ missverstehen?
Im Übrigen, so reden von einem göttlichen Auftrag erfüllte Missionare:“Wir nehmen das Verfahren daher als Auftrag und Ansporn, uns noch intensiver darum zu bemühen, auch jene Leser mitzunehmen, die dem Blatt nicht auf Anhieb zu folgen bereit sind.“
Dem Blatt folgen? Bin ich im falschen Film? Ich glaube nicht, dass einem Chefredaktor von „Spiegel“, „Zeit“, „New York Times“ , „Wallstreet Journal“ , „Economist“, „Frankfurter Allgemeine“, also von tatsächlichen Leitmedien, ein solcher Satz in nüchternem Zustand über die Lippen käme.
Annabelle Huber 11. Mai 2013, 16:02
Auch ich war aufs Angenehmste überrascht, von dem, was ich mitgekriegt habe von diesen „Zürcher Prozessen“.
Diese Theaterform, welche beteiligte Personen unzensiert zu Worte kommen lässt, eröffnet ungeahnte Einblicke.
Ich bin geneigt, Milo Rau zu glauben, wenn er sagt, dass es ihm nicht um das Urteil geht.
Erwähnenswert die Aussage von
Marcel Alexander Niggli, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, die Weltwoche arbeite mit Tabuverletzungen. Damit sei sie erfolgreich, aber nicht ganz so erfolgreich wie 20 Minuten.
Warum frage ich mich, hat man dann nicht 20 Minuten den Prozess gemacht.
Die diversen Kapazitäten von 20 Minuten dürften um Vieles grösser sein als diejenigen der Weltwoche, wie der Artikel antönt, ein gepflegterer Journalismus daher auch eher möglich.
Dies wäre umso wünschenswerter, da 20 Minuten eine viel grössere Leserschaft erreicht als die Weltwoche.
Warum hat man nicht 20 Minuten den Prozess gemacht ?
Frank Hofmann 11. Mai 2013, 17:45
Tabuverletzungen finde ich keine einzige in der aktuellen Nummer. (Aber ich bin sicher, dass die Professoren in 50 J. noch das Roma-Titelbild kritisieren werden.) Dafür gibts Überflüssiges, etwa das Interview mit Giacobbo.
Dani Brandt 13. Mai 2013, 19:57
Sie schreiben: „Nachhilfe für die Weltwoche“ und „…stellte sich als hervorragende Anlage für eine gepflegte Diskussionskultur heraus. Nun ist es an der Weltwoche, aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen zu ziehen.“
„Die Zürcher Prozesse“ sollte Nahhilfe für die ganze Medienbranche sein und nicht nur für die Weltwoche. Ich zitiere Kurt Zimmermann: „Ich sage nicht, der ganze Medienbetrieb sei korrumpiert, ich stelle nur fest, dass die Gattung des systemkritischen Journalisten immer weiter in die Minderheit gerät. Ich stelle fest, dass die Staatsgläubigkeit der Medien neue Rekordwerte erreicht. In der Realität ist die Vierte Gewalt nur noch das vierte Rad am Wagen.”“
Vierte Gewalt heisst ALLE MEDIEN und nicht nur die Weltwoche. Alle Journalisten sollten nachdenken, was ihr Auftrag bzw. Berufung sei und nicht nur die WW-Journalisten.
Fred David 14. Mai 2013, 08:31
Was meint er mit „systemkritisch“? Der Staat ist einigermassen demokratisch verfasst. Er kann demokratisch verändert werden. Das macht den Leuten heute viel weniger Angst, als eine ausser Rand und Band geratene Grosswirtschaft, wo die Demokratie, zunehmend auch die Justiz, aussenvor bleibt. Aber dieser Widerspruch ist natürlich ein heikles Feld, an das sich Schweizer Journalisten tatsächlich nicht herantrauen. Die Gefahr, dass der Staat die Medien korrumpiert, wie Kurt W.Zimmermann meint, ist eher gering, schon allein deswegen, weil dort nicht das grosse Geld verfügbar ist. Aber Korruption auch bei den Medien ist sicherlich ein Dauerthema.
Henri Leuzinger 18. Mai 2013, 09:49
Rührend, wie sich Ronnie Grob um das Wohlergehen der WW kümmert! Ob die kostenlosen Vorschläge wohl auf offene Ohren stossen? Wohl eher nicht bei einem Blättchen, dessen Macher die Wahrheit prinzipiell gepachtet haben und neben, über oder unter sich keine andere dulden.
Alois Amrein 21. Mai 2013, 01:34
Ein Blatt wie die WELTWOCHE lasse ich rechts liegen, zum Kaufen zu schade, vielleicht mal drin blättern, wenn es zufällig herumliegt und sich amüsieren über den darin verbreiteten Ungeist, Zeitgesit kann man das ja nicht nennen.
Frank Hofmann 21. Mai 2013, 13:34
Wen interessiert, ob Herr Amrein die WW mag? Wenn er wenigstens argumentieren würde, statt öffentlich Psychohygiene zu betreiben.
Bettina Büsser 31. Dezember 2013, 11:59
Mit viel Verspätung ein kleiner Hinweis am Rande: Das „stets verlässlich gegen Weltwoche und Basler Zeitung anschreibende Medienmagazin «Edito + Klartext»“ hat damals nicht nur die Geschworene Patrizia Fedier zum Interview gebeten, sondern auch Alex Baur, der als einziger Vertreter der „Weltwoche“ aktiv am Prozess teilnahm.
Bettina Büsser 31. Dezember 2013, 12:02
Sorry, falscher Link – der führt direkt zum Baur-Interview