Experten der Ferndiagnose
Nach dem Tod von Swisscom-Chef Carsten Schloter schlägt die Stunde der Psychologen und Suizid-Experten. Die allerlei vermuten, obwohl nichts bekannt ist – Fachleute empfehlen, solche Mutmassungen zu unterlassen. Mehrheitlich aber berichten die Schweizer Medien angemessen über das überraschende Lebensende des beliebten Managers.
Am frühen Nachmittag des 23. Juli verbreitete sich die auf swisscom.ch veröffentlichte Medienmitteilung über den Freitod von Carsten Schloter. Sie hinterliess die allermeisten von uns in Überraschung und Sprachlosigkeit: Dass sich einer der besten und sympathischsten Schweizer Manager, und dazu einer der wenigen, die dem Medienwandel unerschrocken gegenüber standen, umgebracht haben sollte, war kaum zu glauben. Auch wir fragten uns, wie wir damit umgehen sollten. Ist es in Ordnung, unser im März veröffentlichtes Interview in den Fokus zu stellen, damit es Aufmerksamkeit und Klicks erhält? Profitieren wir so etwa von seinem Tod?
Wir haben es gemacht und würden es wieder tun, aber der Freitod ist ein heikles Thema mit unzähligen Stolperfallen, die vielen nicht bewusst sind. In seiner Richtlinie 7.9 empfiehlt der Schweizer Presserat bei der Information über Suizide «grösste Zurückhaltung» und hält nur einige Umstände fest, in denen eine Berichterstattung angebracht ist. Im Fall Schloter treffen diese zu, darum soll berichtet werden. Weiter steht da:
In allen Fällen beschränkt sich die Berichterstattung auf die für das Verständnis des Suizids notwendigen Angaben und darf keine intimen oder gar herabsetzenden Einzelheiten enthalten. Um das Risiko von Nachahmungstaten zu vermeiden, verzichten Journalistinnen und Journalisten auf detaillierte, präzise Angaben über angewandte Methoden und Mittel.
Details, wie sich Schloter umgebracht hat, sind keine an die Öffentlichkeit gelangt. Zwar teilte die Boulevardzeitung «Le Matin» ihren Leser am Tag danach auf der Titelseite mit, wie sich Schloter umgebracht habe, doch das blieb pure Spekulation, weshalb die Zeitung diese Informationen zurückzog. Inzwischen ist auf Lematin.ch dazu nichts mehr zu lesen.
Informationen müssen aber frei sein, sagen die einen zum Thema. Andere finden, dass solche Details nicht mehr als eine von Klatschsucht getriebene Neugier befriedigen. Man kann darüber unterschiedlicher Auffassung sein, als «statistisch belegbares Phänomen» jedoch gelten Nachahmungseffekte, die auf sehr detailierte, gar romantisierende Schilderungen von Suiziden folgen, siehe dazu den Wikipedia-Artikel Werther-Effekt. Um Nachahmungstaten zu vermeiden, empfehlen Fachleute den Medien, a) Angaben zur biologischen und sozialen Identität zu vermeiden, b) Angaben zu Suizidmethode und Suizidort zu vermeiden und c) nicht über Ursachen und Bewertungen des Suizides zu spekulieren.
Im Fall Schloter kann a) nicht erfüllt werden und ist b) teilweise erfüllt – c) dagegen wurde von sehr vielen Medien in aller Ausführlichkeit gemacht. Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte, lieferte das «Oltner Tagblatt» in der Ausgabe vom 27. Juli. Chefredaktor Beat Nützi macht sich auf der Titelseite «Gedanken zum Freitod», was eine Ferndiagnose ohne Anhaltspunkte bleibt, also eine «Analyse», die nicht auf der Grundlage von Fakten aufgebaut ist. Nützi schreibt, natürlich ohne selbst irgendwas geahnt zu haben oder gar vor etwas gewarnt zu haben: «Doch eigentlich hätten Schloters Interviewaussagen als Hilferuf wahrgenommen werden müssen. Eigentlich.» Übertitelt ist das Stück mit einem Titel, der exakt so lautet, wie er gemäss den Fachleuten nicht lauten sollte.
Generell stösst die Expertenhörigkeit vieler Medien sauer auf: Obwohl keine Quelle bekannt gemacht hat, weshalb Carsten Schloter aus dem Leben schied, versammeln die Medien allerlei Mutmassungen, die einen bunten Strauss von möglichen Gründen bilden, wie sie jeder nach etwas Nachdenken auch finden könnte. Experten dürfen nicht dazu eingesetzt werden, um die Spekulationen von Journalisten auszusprechen. Wer spekulieren will, soll den Mut aufbringen und mit dem eigenen Namen dazu stehen. Tatsächlich liefern muss der Journalismus aber Fakten, und nicht Mutmassungen.
Verdienen die Medienschaffenden nicht auch etwas Nachsicht? Sie stehen mitten in der Ferienzeit zwischen einem riesigen Informationsbedürfnis seitens der Leserschaft und einer ausgedörrten Quellenlage. Nichts ist bekannt, niemand sagt etwas, nichts darf geschrieben werden. Am Schluss scheint nur noch das Schweigen oder die Spekulation zu bleiben. Auch Felicie Notter, die für MEDIENWOCHE das Interview mit Schloter geführt hatte, wurde von Medien als Expertin angefragt (was sie ablehnte): «So griffen die Journalisten eben nach den irgendwie verfügbaren Experten und kratzten alle vorhandenen Informationen zusammen, gerade auch aus den Interviews, in denen Schloter persönliche Töne angeschlagen hatte. Vieles waren aber sachliche Analysen – man wusste nur nicht, ob zu der richtigen Frage.»
«Das meiste in den Medien war fair, würdig und angemessen», sagt Swisscom-Sprecher Sepp Huber, der 13 Jahre mit Schloter zusammengearbeitet hatte und auch unzählige Interviews begleitete. Einige lokale Medien seien mit ihren Recherchemethoden jedoch zu weit gegangen und hätten Mitgliedern der Trauerfamilie vor dem Haus von Carsten Schloter aufgelauert. «Le Matin» hat sich im Nachhinein für die deplatzierte Titelzeile schriftlich bei Swisscom entschuldigt. Negative Rückmeldungen erhielt die Zeitung vor allem seitens der eigenen Leser.
Der Deutschschweizer Boulevard berichtet einigermassen ausgewogen. 20min.ch zeigt Fotos sowie unkommentierte (und verwackelte) Aufnahmen, die Keystone bereitgestellt hat. Und Blick.ch liefert einen Bericht über die Trauerfeier inklusive Videobeitrag – fragwürdig hierbei sind einige sehr kurze Videosequenzen, die trauernde Gäste zeigen sowie eine Textpassage, die Aussagen weiterverbreitet, welche die Freundin von Schloter zu Bekannten gesagt haben soll.
Von Verwandten und anderen nicht-öffentlichen Personen werden keine Fotos und keine Namen gezeigt, Videoaufnahmen aus der Kirche oder vom Friedhof gibt es keine. Zu Wort und Bild kommen offenkundig nur öffentliche Personen, die für ein Interview bereit sind. Man kann sich fragen, wie angemessen es ist, vielbeschäftige und unter Druck stehende Manager direkt nach einer offensichtlich aufwühlenden Trauerfeier eines vielbeschäftigen und unter Druck stehenden Managers zum Reden zu bringen. Man kann aber auch davon ausgehen, dass nur jene Menschen in die Kamera gesprochen haben, die das auch selbst wollten.
«Der Mediendruck war schon unmittelbar vor Publikation unserer Medienmitteilung sehr hoch», sagt Huber weiter. Er wurde gegen 9 Uhr mit der Meldung konfrontiert, schon um 11:30 Uhr stellten (Westschweizer) Medien erste Anfragen, um 13.30 Uhr ging dann die Medienmitteilung online. «Die Erfahrung in Krisenkommunikation hilft einem, unter höchstem Druck möglichst professionell zu arbeiten. Die Trauer und der Schmerz über den Verlust eines sehr nahestehenden Menschen trifft einen voll, wenn der grösste Druck der Arbeit weg ist. Bei mir persönlich war das abends, nachts und morgens. Während Tagen konnte ich die Tragik morgens beim Aufwachen nicht fassen, es erschien mir wie ein ganz schlimmer Traum, traurige Gewissheit erfuhr ich beim Lesen der neusten Medienberichte. Ich musste mich teils auch zwingen, alles zu lesen.»
Beim Schweizer Presserat sind zum Tod von Carsten Schloter bisher keine Beschwerden eingegangen, wie dessen Sekretär Martin Künzi auf Anfrage mitteilt.
«Suizidgedanken – was tun?» – eine Antwort von Dr. med. Martin Eichhorn.
Matthias Giger 01. August 2013, 20:01
Mich würde interessieren, warum die Medienwoche es wieder tun würde und welche Überlegung dazu führte, es überhaupt zu tun. Ich fand das ziemlich daneben.
Ronnie Grob 01. August 2013, 23:20
Daneben? Aus welchen Gründen denn? Ich finde es in Ordnung, ein vor wenigen Monaten geführtes Gespräch «im Fokus» zu präsentieren, wenn eine (in diesem Fall traurige) Aktualität besteht.
Matthias Giger 02. August 2013, 14:55
Daneben, weil ich das als Effekthascherei empfunden habe. Aber vielleicht revidiere ich meine Meinung ja, wenn ihr nicht bloss schreibt dass, sondern auch begründet, aus welchen Überlegungen heraus ihr das getan habt und wieso ihr es wieder tun würdet.
Tom Weber 02. August 2013, 16:07
Ich kapiere das nicht. Ein Interview verliert seinen Informationswert doch nicht im Moment des Todes des Interviewpartners. Im Rückblick erhalten gewisse Aussagen sicher einen anderen Hintergrund. Aber wieso es „daneben“ sein soll, nach dem Tod von XY auf ein Interview hinzuweisen, das man wenige Monate zuvor mit der Person geführt hat, erschliesst sich mir nicht. Zudem ist es eine „Umkehr der Beweislast“. Wieso muss die Medienwoche erklären, dass das unproblematisch ist? Zuerst soll die „andere Seite“ erklären, wieso man das nicht machen darf/soll. Die Beweislast liegt beim „Ankläger“. Einfach zu sagen, es sei „daneben“, ist extrem dürftig.
Matthias Giger 03. September 2013, 16:37
Das nennt sich kontextuelle Bedeutung.
Matthias Giger 02. August 2013, 19:46
Vielleicht liege ich ja falsch mit meinem mentalen Modell, dies daneben zu finden. warum? Ziemlich genau aus den Gründen, die Ronnie Grob im Text selbst anbringt. „Ist es in Ordnung, unser im März veröffentlichtes Interview in den Fokus zu stellen, damit es Aufmerksamkeit und Klicks erhält? Profitieren wir so etwa von seinem Tod?“
Dann schreibt er, die Medienwoche hat es getan und würde es wieder tun. Mich würde interessieren weshalb. Ist das so schwer nachzuvollziehen? Anhand der Argumente kann ich dann sagen. „Ja, das leuchtet mir ein“ oder „nein, die Begründung genügt meines Etachtens nicht.“ In zweiterem Fall taxiere ich die Sache als „Wasser predigen, Wein trinken“. In erstetem Fall als „wieder etwas dazu gelernt“.
Marco 05. August 2013, 11:19
Loben, dass nicht bekannt wurde, wie er sich umgebracht hat und daneben die Titelseite des Le Matin abbilden, wo es in riesigen Lettern steht…
Ronnie Grob 05. August 2013, 11:37
Es bleibt die Frage, wie man damit umgeht, auch ich bin mir da nicht sicher. Wäre es in einem Beitrag, der sich der Berichterstattung über den Tod von Schloter annimmt, vielmehr richtig gewesen, die (inzwischen zurückgezogene) Berichterstattung einer grossen Schweizer Boulevardzeitung einfach komplett zu verschweigen? Was auch immer „Le Matin“ getitelt hat: Da keine gesicherten Fakten bestehen, muss man von einer Spekulation ausgehen.
Eliane Kurth 07. August 2013, 17:38
Wer mit einem „gesunden“ Schamgefühl und einer hohen Wertschätzung gegenüber seinen Mitmenschen ausgestattet ist, sollte die Grenzen für eine Berichterstattung über heikle Themen eigentlich kennen und erkennen, wo die Pflicht zur Information den gebührenden Rahmen erreicht hat und wo der Spielraum für eine andersartige Motivation beginnt. Aber Schamgefühl und Wertschätzung sind weiche Faktoren und eben bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Oft könnte auch der Ansatz hilfreich sein, dass der Schreiber/Publizist sich fragt, welche Berichterstattung er/sie im gegebenen Fall über sich selbst oder einen nahestehenden geliebten Menschen in den Medien lesen möchte.
Annabelle Huber 27. August 2013, 14:28
Ich finde es in Ordnung, wenn gesucht wird nach den Ursachen dieses Suizids. Carsten Schloter hat ja selber die Oeffentlichkeit gesucht in Form von Hinweisen auf persönliche Probleme, welche ein CEO in der Regel für sich behält.
Dieses ungewöhnliche Verhalten legt es Nahe, dass er wohl auch nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn nun respektvoll über Problemkreise im Zusammenhang mit seinen Tod berichtet wird.
Unabhängig zum Suizid von Carsten Schloter muss auch fest gehalten werden: Hinter einigen Suiziden stehen unglaubliche Teufeleien, und es ist die eigentliche Pietätlosigkeit, wenn man diese mit dem Argument der Pietät zu schützen sucht.
Ronnie Grob 27. August 2013, 14:33
Das stimmt, aber «raten», also ohne Faktengrundlage wild zu spekulieren, ist keine journalistische Lösung.