von Lukas Leuzinger

Auf der Suche nach dem Saufgelage

Das Phänomen des «Botellón» löste im Sommer 2008 hitzige Diskussionen in den Schweizer Medien aus. Doch so schnell die Massenbesäufnisse in den Schlagzeilen auftauchten, so schnell verschwanden sie auch wieder. Die Saufgelage zogen bald mehr Journalisten als trinkwillige Jugendliche an.

Die Schlagzeile: «Sinnentleerte Spassgesellschaft»
«Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen», soll Aristoteles einst gesagt haben. Hätte der griechische Philosoph 2008 in der Schweiz gelebt, hätte er wohl einen empörten Leserbrief geschrieben angesichts der unsittlichen Ereignisse, die sich in vielen Städten des Landes abspielten. Die Rede ist von den so genannten Botellónes. Seinen Ursprung hat das Phänomen in Spanien: Dort hatten Jugendliche bereits früher damit begonnen, sich an öffentlichen Orten zu treffen, um mitgebrachte Alkoholika nicht selten in rauen Mengen zu konsumieren. Der Botellón (zu deutsch: «grosse Flasche») entstand als Reaktion Jugendlicher auf teure Konsumationspreise in Restaurants und Bars.

Im Sommer 2008 taucht das Phänomen erstmals in der Schweiz auf, zunächst in der Romandie. Die besorgten Medienberichte lassen nicht lange auf sich warten. «Massenbesäufnisse: Städte sind alarmiert», titelt die Gratiszeitung NEWS (ja, die gab es damals noch) am 20. August. «Saufgelage bereiten Kopfschmerzen», schreibt gleichentags die Basler Zeitung. Gebannt beobachtet man, wie sich das Phänomen auf die Deutschschweiz ausweitet. In Zürich und Bern werden Gelage angekündigt, kurz darauf auch in Basel, Luzern, Winterthur. Und die Südostschweiz schreibt in düsterer Erwartung eines heraufdräuenden Naturereignisses gleich: «Botellónes könnten bald das Linthgebiet erreichen» (22.08.2008).

Der Trend löst eine intensive Diskussion über die Sitten der heutigen Jugend aus. Im «Club» auf SF1 (der Sender hiess damals noch so) diskutieren Fachleute und Politiker, wie man dem grossen Saufen Einhalt gebieten soll (26.08.2008).

Die mediale Diskussion ist geprägt von düsteren Analysen über die heutige Jugend. Die Massenbesäufnisse seien «Ausdruck einer sinnentleerten Spassgesellschaft», kritisiert die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter (Aargauer Zeitung, 24.09.2008). Für die Zürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer sind die Teilnehmer schlicht «im Hirn oben krank» (Interview auf Radio 1, 28.08.2008). Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät sieht gar das Image seiner Stadt, das er und seine Regierung mühsam aufgebaut haben, in Gefahr (SF Tagesschau, 19.08.2008). Einen Kontrapunkt zur allgemeinen Empörung setzt einzig der Soziologieprofessor Kurt Imhof. In einem provokativen Interview mit dem Tages-Anzeiger (20.08.2008) begrüsst er die Botellónes als Widerstand gegen «die allgemeine Moralisierung in der Verbotsgesellschaft» und fordert: «Jugendliche, macht Massenbesäufnisse!»

Die Befürchtungen, das Phänomen könnte sich weiter ausbreiten, werden genährt durch die Medien, die ihre Leser in verdankenswertem Eifer laufend über die nächsten geplanten Botellónes informieren und Wochenende für Wochenende Besucherzahlen, Sanitätseinsätze und Abfallmengen säuberlich rapportieren.

Die Mediendatenbank SMD zählt im Jahr 2008 insgesamt 824 Berichte zum Stichwort Botellón (2007: 6). Fast die Hälfte davon fällt auf den Monat August. Mit 190 Artikeln zum Thema berichteten die Westschweizer Medien im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel etwas häufiger über das Phänomen als die deutschsprachigen Publikationen.

Die Behörden stehen den Massenbesäufnissen machtlos gegenüber. Der Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG), Thomas Zeltner, setzt auf den baldigen Herbstanfang als geeignetes Gegenmittel. Und äussert die leise Hoffnung, dass die Trendwelle wieder so rasch verschwindet, wie sie gekommen ist (SonntagsBlick, 17.08.2008).

Was seither geschah: Besäufnisse ohne Massen
Die Hoffnung sollte sich bewahrheiten. Je länger das Phänomen andauerte, desto weniger sensationell kamen die Medien-Berichte über die Botellónes daher. «Befürchtete Randale blieb aus», bilanzierte der Tages-Anzeiger nach dem Botellón in Winterthur (30.09.2008). Die NZZ berichtete vom Massenbesäufnis in Zürich ernüchtert, dass fast mehr Journalisten als trinkwillige Jugendliche vor Ort gewesen seien (30.08.2008). Auch in Luzern («Nur wenig Interesse an erstem Luzerner Botellón», 20 Minuten, 11.09.2008) oder St. Gallen («Kein Ansturm auf St. Galler Botellón», 20 Minuten, 22.09.2008) blieben die Besucherzahlen unter den Erwartungen. Anlässlich des angekündigten Gelages in Basel wunderte sich die Basellandschaftliche Zeitung: «Wo ist denn hier der Botellón?» (15.09.2008). Und der Blick am Abend fragte entgeistert: «Will hier eigentlich niemand saufen?» (22.09.2008)

So verschwanden die Botellónes allmählich aus den Schlagzeilen, und tauchten dort auch nicht wieder auf, als der Winter vorbei war und die Temperaturen wieder Gelage-freundlicher wurden. Im Jahr 2009 sank die Zahl der SMD-Einträge zum Thema dramatisch auf nicht einmal ein Viertel des Vorjahres. Ein paar müde Versuche, den Trend wieder aufleben zu lassen, scheiterten kläglich.

Die Medien wären aber nicht die Medien, hätten sie nicht bald neue Beweise dafür gefunden, wie verwahrlost die Sitten der heutigen Jugend sind. So dominiert heute die Sorge über randalierende Jugendliche an Fussballspielen oder an «Tanz dich frei»-Demos die Berichterstattung..

Angesichts solcher Auswüchse wendet man sich empört ab – und denkt wehmütig zurück an die Zeiten, als sich die Jungen noch friedlich zu Massenbesäufnissen trafen.