von Nick Lüthi

«Mir wird nicht einfach Geld nachgeworfen»

Seit einem Jahr versucht Watson seinen Platz zu finden als neues Nachrichten- und Unterhaltungsportal im Web. Von der Konkurrenz beargwöhnt, gibt sich der ambitionierte Newcomer selbstbewusst. Im Interview zieht Watson-Chefredaktor Hansi Voigt eine erste Jahresbilanz und blickt auf eine ungewisse Zukunft.

MEDIENWOCHE: Was hat Watson nach einem Jahr erreicht?
Hansi Voigt: Wir haben sehr viel experimentiert und uns bewusst viele Freiheiten genommen, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Als Newsportal wollen wir natürlich Informationen bieten, aber immer auch mit einer verspielten Kreativität. Innerhalb der Bahnen, die wir einmal definiert haben, müssen wir nun dauernd lenken und korrigieren. Wenn sich die Redaktion selbst findet, bin ich überzeugt, dass man das auch dem Produkt ansieht. Unter dem Strich bin ich sehr zufrieden. Wir sind nach einem Jahr weiter, als ich gedacht hätte.

Was ist die publizistische Klammer, die Watson zusammenhält?
Seit der Werbekampagne im Oktober haben wir den Slogan «News unfucked» verinnerlicht.

Was heisst das?
Das Wort gibt es eigentlich gar nicht. Als wir «News unfucked» im Verwaltungsrat als neuen Werbeslogan präsentierten, reagierten alle im ersten Moment erschrocken, lachten dann aber sofort laut raus. Das ist eine gute, und vor allem: die richtige Reaktion. «Unfucked» heisst zum Beispiel, dass sich Seriosität nicht auf Langeweile reimen muss. Auch ein seriöser Bericht soll unterhalten. Das ist ein hoher Anspruch, dem wir heute noch nicht immer gerecht werden und der nicht absolut gelten soll. Aber es ist eine Leitlinie.

Kannst du an einem Beispiel zeigen, was ihr unter «News unfucked» versteht?
Aktuell unsere Berichterstattung rund um die Turbulenzen auf dem Währungsmarkt. Wir machten das so: Zuerst kommt die Nachricht, dann haben wir den Ticker hochgefahren und nach einer Viertelstunde folgte bereits eine erste Einordnung von Philipp Löpfe. Danach folgt ein grafisches Frage-Antwort-Stück und als Drittes befragt Patrick Toggweiler, eine absoluter Wirtschaftsmuffel aus dem Ressort «Lustig», Philipp Löpfe als Erklärbär und «Professor Weissbescheid».

Und dabei habt ihr immer eine tätowierte, 25-jährige Frau vor Augen, die du einst als prototypische Watson-Nutzerin definiert hast?
Wir haben die mobile Online-Nutzung im Fokus. Wer macht das? Es sind vor allem jüngere Leute. Es muss nicht eine Frau sein, denn wir sprechen natürlich auch Männer an. Dass ich eine Frau als prototypische Watson-Userin nannte, hat in erster Linie damit zu tun, dass wir zu viele Männer auf der Redaktion sind. Denkt auch an die Frauen, lautet die Botschaft. Es ist wirklich wichtig, dass man der Redaktion immer wieder klar macht, wer das Publikum ist. Die grösste Seuche in den allermeisten Publikationen ist die Orientierung der Journalisten an den Journalisten-Kollegen.

Habt ihr das anvisierte Zielpublikum erreicht?
Es ist erstaunlich, wie genau das gelang. Wenn man unsere Nutzungszahlen anschaut und sieht, dass wir tatsächlich diejenigen Leute erreichen, die wir auch wollen. Das heisst: jung, um die 25, eher urban und mit mobiler Internetnutzung. Aber es gibt natürlich auch ältere, die Watson super finden. Eine Affinität zu digitalen Medien setzen wir aber schon voraus.

Viele Nutzer finden via Facebook und Social Media zu Watson. Wie bringt ihr die dazu, regelmässig und direkt auf eure Seite oder App zu kommen, was ja erst kommerziell attraktiv ist?
In der Lancierungsphase, in der wir uns noch immer befinden, ist Facebook wahnsinnig wichtig, um sich zu präsentieren. Hier begegnen viele Leute das erste Mal Watson. Wenn sie regelmässig auf uns stossen und immer wieder aufgefordert werden, die App herunterzuladen, machen sie das dann auch. Die direkten Zugriffe auf unsere Website steigen laufend.

Watson präsentiert sich als Gemischtwarenladen mit einer grossen, aber wenig geordneten Auslage. Welchen Sinn hat das Durcheinander?
Es ist wahnsinnig schwierig, das Durcheinander, das die Welt verursacht in Real Time zu ordnen. Und als nächstes stellt sich die Frage, wie man Relevanz definiert. Wir versuchen, das politische Tagesgeschehen abzudecken und präsentieren das zuoberst auf der Seite. Aber viele Menschen können mit Ereignissen, auf die sie sowieso keinen Einfluss nehmen können, nichts anfangen. Viele interessieren sich eher für Sport, wenn sie einen Lieblingsverien haben oder für Katzenbilder, wenn sie eine Katze haben. Beide Themen sind total irrelevant, wie es aber die grosse Mehrzahl von Blaulicht-Meldungen auch sind.

Katzenbilder als Journalismus?
Ich finde es inzwischen viel weniger verwerflich, lustige Bilder zu zeigen, als immer noch mehr Unfälle und Verbrechen, mit denen man in Zeitungen die Spalten füllt. Man zeichnet insgesamt ein total pessimistisches Bild der Welt, das mit der Realität wenig zu tun hat. Ich bin sicher, dass sich viele Menschen auch deshalb von den klassischen Medien wegbewegt haben. Das Erlebnis in den sozialen Medien ist schlichtweg positiver und Informationen gibt es dort auch. Zum Glück hat dieser Kanal noch nicht die gleiche Glaubwürdigkeit. Aber die Betonung liegt auf noch.

Dass man relevante Information auch unterhaltsam aufmachen kann, hast du mit deiner Reaktion auf die «Blick»-Kampagne nach einem Übergriff eines Eritreers auf eine Frau in Aarau gezeigt.
Eigenlob stinkt zwar, aber das war tatsächlich ein gelungenes Beispiel, wie man ein ernstes Thema vermittelbar macht. Früher hätte ich einfach ein Editorial runtergetippt. Das wäre dann vielleicht fünfzig mal geliked worden auf Facebook. Bei Watson habe ich nun aber eine Boulevard-Kampagne imitiert und Schlagzeilen getextet, die dem «Blick» den Spiegel vorhalten. Der Beitrag wurde 6 oder 7000 Mal geteilt, mindestens 100’000 Leute haben ihn gesehen. In den Kommentarspalten entstand dann eine total ernsthafte Debatte zur Frage, was Medien dürfen, ob Watson nun besser sei als der «Blick» oder einfach scheinheilig etc. Alles aber sehr interessiert und differenziert.

Bei Watson fällt auf, dass es zwar weniger Online-Kommentare gibt als anderswo, dafür ist die Qualität der Wortmeldungen höher. Wieso?
Es geht immer um die Tonalität und die Präsenz. Wir wollen grundsätzlich dem Leser auf Augenhöhe begegnen. Die Leute sollen sich willkommen fühlen im Watson-Club. Darum ist auch klar, dass die Redaktorinnen und Redaktoren mit dem Publikum diskutieren und auf die Kommentare reagieren sollen. Wir haben mal einen Artikel mit einem Test gebracht zur Frage: Sind Sie antisemitisch? In den meisten Kommentarspalten anderer Medien würde das umgehend rassistische Reaktionen auslösen. Bei uns hat der Autor direkt auf jeden Kommentar reagiert und moderiert. So ist es möglich, heikle Themen zu bringen. Ich vergleiche die Kommentarspalte gerne mit einem Vororts-Bahnhof in der Nacht. Dort wo Licht brennt und der Bahnhofsvorstand noch wohnt, haben sie kaum Vandalismus, dort wo kein Mensch weit und breit ist, werden alle zwei Wochen die Kloschüsseln zerschmettert. Es ist eine Frage der Präsenz.

Bei der Werbung beschreitet Watson einen schmalen Grat mit Native Advertising, Reklame im redaktionellen Kleid. Was sind die Vorgaben, damit ihr die Glaubwürdigkeit nicht verliert?
Eine billige Publireportage interessiert niemanden und kann auch nicht im Sinne des Werbekunden sein. Mit Native Advertising sollen Werbekunden journalistische Inhalte ermöglichen können. Hier geht es nicht um das Produkt des Kunden oder um den Charme des CEOs. Es geht um Themen, die dem Kunden wichtig sind und die ein Publikum finden. Das ist in der Tat ein schmaler Grat. Denn die Leser dürfen nicht hinters Licht geführt werden. Die Journalisten schlagen Artikel vor, die sie interessant finden. Welcher Kunde sich dazu präsentieren will, wissen sie im Voraus gar nicht. Zu nah an einem Produkt dran, wird’s cheesy und unglaubwürdig. Darum ist bei uns die Chefredaktion dafür zuständig. Wir haben bisher hervorragende Erfahrungen gemacht damit und auch die Leser haben es gut angenommen.

Welchen Anteil macht Native Advertising an der Werbung auf Watson aus?
Ich würde mal schätzen, dass wir damit bei gut 20 Prozent liegen. Aber da gibt es schon noch ein grösseres Potenzial. Viele Unternehmen lernen diese Werbeformen erst kennen.

Wie hat sich Watson sonst kommerziell entwickelt?
Ich war ziemlich überrascht, wie stark die Unterstützung vom klassischen Werbemarkt war. Vielleicht hätten wir da von Anfang an etwas stärker forcieren können auch als wir noch kaum Traffic ausweisen konnten. Die Kunden sind sehr offen, neue Sachen auszuprobieren, gerade im Verbund mit Native Advertising.

Für die nächsten zwei bis drei Jahre ist die Finanzierung von Watson gesichert dank der Investition von Peter Wanner…
…sicher ist überhaupt nichts! Der Investor hat jederzeit das Recht zu sagen, er glaube nicht an uns. Wenn er sieht, dass Watson von A bis Z nicht funktioniert, dann hört er auf. Aber die Zeichen stehen zum Glück gut. Letztlich ist Watson eine Investition in die Zukunft, von dem der Investor glaubt, dass irgendwann mal etwas zurückkommt. Darum macht er das.

Ihr verbrennt aber immer noch ziemlich viel Geld zur Zeit. Stimmen die Zahlen von rund 800’000 Franken pro Monat, die jüngst herumgeboten wurden?
Nein, die stimmen nicht. Sie sind viel zu hoch und berücksichtigen nicht, dass wir inzwischen laufend steigende Einnahmen generieren. Die Schere schliesst sich zunehmend und 2017 sollten wir gleich viel Geld einnehmen wie wir ausgeben. Das ist und bleibt der Plan. Man sollte nicht auf Zahlen hören, die das Konkurrenz-Unternehmen auf tagesanzeiger.ch verbreiten liess, ohne dass ich oder der Investor Stellung nehmen konnten oder befragt wurden. Auch die Mär von der Investorensuche ist Quatsch. Ich freue mich aber eigentlich über solche Manöver. Wenn die Konkurrenz denken würde, dass sich Watson von alleine erledigt, würde man nicht zu diesen Methoden greifen. Ich nehme das als Anerkennung.

Obwohl Watson als Start-up funktioniert, profitiert ihr von den Leistungen der AZ Medien. Da gibt es sicher auch Neider, die nicht verstehen, warum sie in Aarau sparen müssen, während ihr in Zürich Millionen kriegt.
Ich spüre das nicht direkt, im Gegenteil. Gerade von der AZ ist die Unterstützung für Watson riesig. Aber ich kann sehr gut verstehen, wenn es einen gewissen Neid gibt. Die Zeiten sind nicht einfach. Im Zeitungsgeschäft gehen die Einnahmen zurück, also reduziert man auch die Kosten. Bestimmt haben einige das Gefühl, alle müssen sparen, ausser die Internet-Hipster von Watson. Wichtig ist zu verstehen, dass Watson ein Investitionsprojekt ist. Ausserdem sind die AZ Medien nicht unser Mehrheitsaktionär, sondern die BT Holding von Peter Wanner. Und wichtig ist auch zu verstehen, dass wir hier bei Watson mit einer äusserst schlanken Kostenstruktur operieren.

Spürst du wirtschaftlichen Druck?
Selbstverständlich. Bei uns gilt «make or break». Nicht mehr und nicht weniger. Ich hab die Chancen auf Erfolg bei Watson am Anfang mal mit 50/50 beschrieben. Inzwischen bin ich noch optimistischer, aber sicher ist gar nichts. Und das wissen bei uns auch alle Mitarbeiter. Von Grabesstimmung kann aber deshalb keine Rede sein – im Gegenteil.

Hast du schon Stellen gestrichen?
Wir müssen uns immer an die Budgetvorgaben halten. Wenn wir weniger Einnahmen erzielen, muss ich auch die Kosten senken. Da gelten die genau gleichen Regeln, wie überall in der Branche. Mir wird nicht einfach Geld nachgeworfen und ich muss das, was ich habe, überall so effizient einsetzen wie es geht. Wenn ich einen Bereich sehe, wo das nicht der Fall ist, muss ich handeln. Aber unter dem Strich sind wir gleich viele Mitarbeiter, wie am Anfang.

Wie unterscheidet sich der wirtschaftliche Druck, den du heute bei Watson spürst von demjenigen früher bei 20min.ch?
Bei 20min.ch war ich Teil eines grossen Konzerns. Unsere Existenz stand nie in Frage. Dafür konnten oft Chancen, die sich boten, nicht genutzt werden. Wir hatten nie das Mass an Handlungsfreiheit und kreativem Spielraum, wie wir es jetzt erleben und was ich als absolut notwendig erachte, um in dieser digitalen Revolution nicht nur zu überleben sondern auch zu profitieren.

Ist es weiterhin dein Ziel, mit Watson nach vier Jahren unter den Top 3 der schweizerischen Online-Nachrichtenplattformen zu figurieren?
Ja.

Wenn man aber die Zahlen von Net-Metrix anschaut, dann sieht es bereits heute nach einer Stagnation aus.
Aber nur wenn man die Zahlen anschaut, die man bewusst gegen Watson verwenden kann. Bei den Page Impressions haben wir ein Jahr nach dem Start nzz.ch quasi eingeholt, bei den Visits sind wir im letzten Monat um 50 Prozent gewachsen und die Zahl der Unique Clients, die täglich auf uns zugreift wächst kontinuierlich. Man sollte sich nicht von einem Wert wie den Unique Clients pro Monat ins Bockshorn jagen lassen. Hier genügt eine erfolgreiche Geschichte auf Facebook, und das gesamt Bild wird verfälscht. Aber auch hier werden wir im Januar glänzende Zahlen ausweisen.

Hat Watson nach einem Jahr Spuren hinterlassen im Online-Journalismus?
Ich beobachte schon das eine oder andere, das man vielleicht bei uns gesehen hat, aber auch andere reine Online-Medienprodukte wie Storyfilter oder das Likemag hinterlassen Spuren. Und auch der Blick am Abend bringt Online-Formate, die sich nicht auf Papier drucken lassen. Die Ansparche und den kreativen Umgang bei der Titelsetzung könnte man bei uns gesehen haben. Wir würden wahrscheinlich noch viel mehr imitiert, wenn es das CMS der anderen Medien zulassen würden. Wir können unheimlich schnell neue Formen des Storytelling präsentieren. Hier haben wir schon eine Stärke.

Nun wollt ihr euer CMS anderen Medienunternehmen anbieten. Damit gebt ihr euren grössten Trumpf aus der Hand.
Es kommt natürlich drauf an, wem man das CMS verkauft, was man verkauft oder nur lizensiert – und vor allem wem nicht.

Warum passt die NZZ als Käufer?
Ich sehe die NZZ nicht als unsere grösste Konkurrenz.

Leserbeiträge

Josef Maag 11. Februar 2015, 13:07

Ein Gefälligkeits-Interview erster Güte.