von Nick Lüthi

Innovation schafft Abhängigkeit

Wenn sie niemand sieht, ist die spektakulärste Live-Aufnahme nichts wert. Jederzeit- und Überallvideo funktioniert nur, solange auch ein Netz für die Übertragung bereitsteht. Eigentlich banal. Aber deshalb nicht weniger zentral. Schliesslich geht es um die Zukunft des Journalismus beim mobilen Videostreaming.

Sie heissen Meerkat, Periscope, Riff, YouNow oder Stre.am. Die Apps mit den fantasievollen Namen können Bewegtbilder in Echtzeit vom Smartphone in die ganze vernetzte Welt hinaustragen.

Rund um das mobile Videostreaming hat sich in den letzten Wochen ein regelrechter Hype aufgebaut. Es vergeht kein Tag, ohne dass nicht irgendwo ein Experte die leuchtende Zukunft des Journalismus preist, wenn nur erst alle, jederzeit und überall On-air gehen können. Richard Gutjahr bringt die Videoeuphorie auf den knackigen Nenner: «Livestream ist der neue Mainstream».

Gegenwärtig experimentieren Medienschaffende munter mit den neuen Möglichkeiten. «Bild»-Chefredaktor Kai Diekmann zeigt Ziegen, aus Oslo erreicht uns eine Rundsicht vom Dach der Schibsted-Mediengruppe, NZZ-Chefredaktor Eric Gujer filmt das Sechseläuten. Ihre ersten Gehversuche wirken genauso ungelenk wie jene der breiten Masse – um die es ja geht beim ganzen Gerede von einer Demokratisierung der Bewegtbildübertragung. Keine Katastrophe wird den Linsen der Smartphone bewehrten Crowd entgehen, Jedermann-Stream schlägt Breaking News.

Bezeichnenderweise spielt in solchen Szenarien die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Bildübertragung keine Rolle. Ein funktionierendes Datennetz, idealerweise LTE/4G oder Wlan, setzen praktisch alle Experten und selbsternannten Promotoren als gegeben voraus.

Solange nur ein paar Geeks in ihren wohlversorgten Komfortzonen das neue Spielzeug testen, spielt die Frage nach der Netzqualität tatsächlich keine Rolle. Sollten aber die gepriesenen Visionen eines permanenten Panoptikums dereinst Wirklichkeit werden, kommt es sehr wohl darauf an, ob und mit welchem Durchsatz die Daten den Weg durch den Äther finden. Videostreams sind Datenfresser sondergleichen. Die vielen abgebrochenen Übertragungen zeugen davon.

Der aktuelle Videotrend zeigt sehr schön, wie Innovation bei Diensten (hier: Apps) nicht zwingend synchron verlaufen muss mit den Anforderungen an die Infrastruktur (hier: Datennetze). Zwar zählt der Ausbau der Netzkapazitäten zu den Daueraufgaben von Telekomanbietern, aber Engpässe lassen sich nunmal nicht vermeiden. Bei Grossanlässen aller Art, wo sich der Einsatz einer Live-Übertragung aufdrängt und wo schon heute massenweise digital kommuniziert wird, werden sich Netzausfälle kaum vermeiden lassen. Der erschwerte, ja oft unmögliche, Zugang zu mobilen Datennetzen in Fussballstadien, zeugt bereits heute von der Schwierigkeit einer lückenlosen Versorgung.

Genauso schwierig bis unmöglich erweist sich das Streaming in nur schwach mit Mobilfunk versorgten Landstrichen. Auch 2015 gibt es weite Gegenden, wo sich Mobilfunk nur auf Edge reimt, das mobile Internet also nur auf der Displayanzeige des Smartphones existiert. Spontane Aufnahmen von Wolf oder Bär finden daher weiterhin nur zeitverzögert den Weg ins Netz.

Wenn aber die technologische Roadmap und der Businessplan von Telekomfirmen darüber entscheiden, ob und wie ein Arbeitsinstrument von Journalisten und übertragungswilligen Privatpersonen funktioniert, sind das denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Medienrevolution. Klar kann auch eine Kugelschreibermine im Ernstfall versagen, aber wer einen Ersatz dabei hat, ist nicht komplett aufgeschmissen.

Anders als bei den Diskussionen zu Überwachung und Verschlüsselung oder zur publizistischen Offensive von Facebook warnt im Zusammenhang mit Videostreaming niemand vor gefährlichen Abhängigkeiten und fordert, die technologische Souveränität zurückzugewinnen. Das Netz ist einfach da. Klar liegt es auch im Interesse der Telekomanbieter, den wachsenden Datenbedarf zu befriedigen und damit Geld zu verdienen.

Für Medien und mobilen Journalismus ging die Rechnung bisher ganz gut auf. Davon zeugen etwa die Zilliarden Bilder von «Leserreportern» und der vermehrte Live-Einsatz von Smartphones im professionellen Medienschaffen. Was man freilich nicht sieht, sind all die Bilder und Videos, die gar nie gesendet werden konnten, weil gerade ein Funkloch klaffte oder das Netz überlastet war.

Eine defekte Druckmaschine kann man im eigenen Haus reparieren. Auch wenn sich das nicht ohne externe Fachleute bewerkstelligen lässt, hat doch der Verlag Einblick in den Reparaturvorgang und kann den absehbaren Schaden rechtzeitig kalkulieren und ein Krisenmanagement aufziehen. Bei einem externen Dienstleister ist man auf eine transparente Kommunikation angewiesen, um zu erfahren, was (nicht) läuft. Der Erfolg der Medien, und damit im Kern der Journalismus, hängt zunehmend von unkontrollierbaren Faktoren ab.

Vor Facebook fürchten sich die Verleger völlig zurecht. Wer die letzte Meile kontrolliert, kennt den Kunden. Die Inhalte produzierenden Medien haben das Nachsehen. Neue Technologien ziehen immer neue Abhängigkeiten nach sich. Mit den meisten lässt sich umgehen, Geschäftsprozesse kann man anpassen. Meist handelt es sich um Partnerschaften mit neuen Akteuren und Dienstleistern, in denen beide Seiten von einander profitieren.

Doch die Entwicklung weist klar in eine Richtung: Über die Verbreitung ihrer Inhalte verlieren die Medien zunehmend die Kontrolle. Auch gibt es kaum Anstrengungen, hier Terrain zurückzugewinnen. Nicht Medienhäuser investieren in Telekominfrastruktur, umgekehrt läuft das hingegen schon. In der Schweiz fährt etwa Swisscom mit ihrer Marke Bluewin eine aktive Contentstrategie. Neben der Abhängigkeit vom Netzbetrieber tritt dieser nun auch noch als Konkurrent auf im angestammten Geschäftsfeld der Inhalte; das sind keine schönen Aussichten.