Die SRG kommt ins Bundeshaus – und keiner geht hin
So souverän der Auftritt der TV-Aushängeschilder am Wahlsonntag auch war: Aus logistischer Sicht war die Premiere des SRG-Wahlstudios im Bundeshaus ein Reinfall. Nur die wenigsten Politiker bemühten sich in die Wandelhalle. Denn der Nabel der Schweizer Politik befindet sich am Wahltag woanders.
Das Aufatmen aus Bern war weit herum zu vernehmen, als die SRG im Juli bekannt gab, ihr Wahlstudio zum ersten Mal nicht mehr im Studio am Leutschenbach aufzubauen. Die altehrwürdige Wandelhalle sollte es diesmal sein. Die Radio- und Fernsehgesellschaft kam damit einem seit vielen Jahren gehegten Wunsch der Bundesstadt entgegen. Welch demokratiepolitische Negativsymbolik, wenn am wichtigsten Tag des politischen Vierjahres-Zyklus ausgerechnet im Bundeshaus kein Licht brennt – so der Tenor, der das Umdenken auslöste.
Gestern brannte es also, das Licht im Bundeshaus. Grell sogar. Über 100 Scheinwerfer waren montiert, dutzende Kameras installiert. Alleine fürs Deutschschweizer Fernsehen standen fast vierzig Techniker und Journalisten im Einsatz. Kurz: Die SRG scheute keinen Aufwand – und zeigte damit eindrücklich, wer im Medienland Schweiz das Sagen hat. Wenn man als Zeitungsjournalist gestern durch die Wandelhalle schritt, fühlte man sich gleichsam als Eindringling und Artfremder. Sofern man denn überhaupt konnte: Lief gerade eine Live-Sendung, war der Durchgang ohnehin blockiert.
Was im journalistischen Alltag auch sonst gilt, zeigte sich dabei exemplarisch: Zuerst die SRG, dann der Rest. Bei Pressekonferenzen im Bundeshaus-Medienzentrum lautet die Hackordnung jeweils folgendermassen: Print- und schreibende Onlinejournalisten haben ihre Fragen im Plenum zu stellen – womit sie die anderen Journalisten mitunter auf ihre Recherchepiste aufmerksam machen –, danach kommen in der bilateralen Fragerunde zuerst die SRG-Journalisten und dann die privaten Radio- und TV-Stationen. Nur wenn Printler und Onliner insistieren und Glück haben, dürfen sie der Bundesrätin oder dem Parteipräsidenten am Ende auch noch eine direkte Frage stellen. Auf den gestrigen Wahlsonntag umgemünzt hiess das: Der auf 20 Uhr angesetzte Point de Presse mit Christian Levrat fand erst mit zwanzigminütiger Verspätung statt, weil der SP-Präsident länger als erwartet und bei mehreren regionalen SRG-Stationen Red und Antwort stehen musste. Ist der Redaktionsschluss eine Stunde später und wie beim Artikel meines Kollegen die Einschätzung des Parteipräsidenten zentral, können zwanzig Minuten eine halbe Ewigkeit sein.
Was fairerweise zu sagen ist: Die SRG unterstrich ihren medialen Hoheitsanspruch zwar mit jeder verlegten Kabelrolle, sie leistete gestern jedoch auch Grosses. Wie Jonas Projer, Urs Leuthard und insbesondere Susanne Wille während zwölf Stunden durch die Live-Sendungen führten, verdient Respekt. Sattelfest, mit der nötigen Distanz und doch charmant. Mit einem Wort: Souverän. Auch kurz vor Mitternacht wirkten sie noch einiges geistesgegenwärtiger als mancher Politiker, der ihnen vor die Linse gezerrt wurde. Dass man sich zu Recht fragen kann, ob eine zwölfstündige Sendung angesichts der behäbig hereintröpfelnden Resultate aus den Kantonen nicht dem audiovisuellen Overkill gleichkommt, ist nicht ihr Problem.
Die zentrale Frage ist aber vielmehr: Aus welchen Gründen wollte man gestern überhaupt im Bundeshaus sein? Die Antwort: Eigentlich aus keinem. Wer glaubte, dass Wandelhalle und Co. am Wahlsonntag Nabel der Schweizer Politik war, irrte. Falls überhaupt, dürfte es während des ganzen Tages wenige Momente gegeben haben, an dem dort nicht mindestens doppelt so viele Journalisten wie Parlamentarier anwesend waren. Man realisierte eindrücklich, dass eidgenössische Wahlen in erster Linie eine kantonale Angelegenheit sind. Abgesehen von den Parteipräsidenten und Fraktionschefs, verirrten sich gestern kaum Politiker ins Parlamentsgebäude. Als ich um 18.30 Uhr, also kurz vor der berühmt-berüchtigten Elefantenrunde der Parteipräsidenten, einen SVP-Politiker suchte, um mit ihm oder ihr über die Wahlerfolge von Roger Köppel und Magdalena Martullo-Blocher zu sprechen, musste ich das Vorhaben schnell abblasen. Es war im ganzen Bundeshaus schlicht kein Vertreter der grössten Partei des Landes zugegen.
Was für ein Unterschied zum SRG-Wahlstudio vor vier Jahren im Leutschenbach. Wo man nur hinschaute, standen den Journalisten damals Politiker zur Verfügung. Die soeben als bestgewählte Nationalrätin gefeierte Natalie Rickli schritt von Mikrophon zu Mikrophon. Mit CVP-Frau Barbara Schmid-Federer konnte man mitfiebern, wie sie sich an den bereitgestellten Computern über ihr eigenes Abschneiden informierte. Und SVP-Übervater Christoph Blocher stieg gar auf ein Podest, um in möglichst viele Kameras gleichzeitig referieren zu können. Klar stammen sie alle drei aus dem bevölkerungsstärksten Kanton der Schweiz, klar sind dort die Wahlresultate jeweils schneller bekannt als in Bern. Dennoch hatte der gestrige Blick auf TeleZüri kurz nach 19 Uhr mehr als nur Symbolgehalt: Inmitten von Zürcher Parlamentariern versuchte die Bernerin Aline Trede den Niedergang ihrer Partei zu erklären. Bitterböse Ironie der Geschichte: Wenige Stunden nach ihrem TV-Auftritt erfuhr die quirlige Grüne, dass sie abgewählt wurde.