von Adrian Lobe

Direkter Weg vom Brüssel-Bashing zum Brexit

Boris Johnson hat erfolgreich einen Feldzug gegen ein Zerrbild der EU geführt, das er als Brüssel-Korrespondent des «Daily Telegraph» selbst schuf. Es könnte sich als Pyrrhussieg erweisen: Der Brexit hat einen Flurschaden in der Presselandschaft hinterlassen.

In den Tagen nach dem Entscheid der Briten, die EU zu verlassen, konnte man den Eindruck gewinnen, das Land habe das Ergebnis bereut oder zumindest die Implikationen des Entscheids nicht richtig abgeschätzt. So manchem Brexit-Befürworter überkamen Zweifel über die juristischen Modalitäten eines Austritts, mehrere hunderttausend Briten unterzeichneten eine Petition für eine erneute Volksabstimmung für einen «Breturn». Auch nach Abzug zehntausender manipulierter Stimmen dürfte die elektronische Umfrage die erforderlichen 100’000 Unterzeichner erreicht haben, damit sich das Parlament dem Begehren annimmt. Und auch bei den Zeitungen, die selten wie nie zuvor polarisiert waren und eine aktive Rolle im Wahlkampf spielten, begann so etwas wie eine zaghafte Selbstreflexion.

Der Journalist Nick Cohen schrieb in einem bemerkenswerten Artikel für den «Guardian» unter der Überschrift «Es gibt Lügner und dann gibt es Boris Johnson und Michael Gove»: «Die Medien verurteilen sich nicht selbst, deshalb tanze ich jetzt aus der Reihe, wenn ich sage, dass, wenn man die Herrschaft von Berufspolitikern für schlecht hält, man nur warten sollte, bis die Journalisten-Politiker kommen.» Cohen spielte auf die berufliche Karriere von Boris Johnson und Michael Gove – Johnson war unter anderen Brüssel-Korrespondent beim «Daily Telegraph» und Redakteur beim «Spectator», Gove Kolumnist der «Times» – an. «Johnson und Gove sind die schlechtesten Journalisten-Politiker, die man sich vorstellen kann: Experten, die gross wurden, indem sie das öffentliche Leben als ein Spiel behandeln. Und so spielen sie es. Sie erlangen die Aufmerksamkeit der Medien, indem sie einen grossen, dramatischen Gedanken rausbrüllen. Versagt eine Institution? Mach sie dicht! Patzt eine Person des öffentlichen Lebens? Schmeiss sie raus!» Es ist die fulminante Anklage eines Journalisten, der die eigene Zunft – zumindest zwei exponierten, ehemaligen Vertretern – im Stile eines «J’accuse» der Lüge zeiht und ihnen vorwirft, die Wähler hinters Licht geführt zu haben.

Nun sind die Diskussionen in Grossbritannien zwar häufig scharf, aber dennoch erstaunlich diszipliniert. Niemand würde auf die Idee kommen, die Invektive einer «Lügenpolitik» (analog zur «Lügenpresse») zu verbreiten. Und doch hat sich in der Diskursmechanik in den vergangenen Wochen etwas dergestalt verschoben, nämlich dass zu den wortgewaltigsten Wortführern der Kampagne – angefeuert vom Dauertremolo der Boulevardpresse – zwei Journalisten gehören.

Dass Johnson das Brüsseler Geschehen als Korrespondent des «Daily Telegraph» mehrere Jahre lang verfolgte, gereichte ihm im Leave-Lager nicht zum Nachteil, im Gegenteil, es verschaffte ihm zusätzliche Autorität. Der Eindruck war: Da sprach jemand, der weiss, was er sagt. Johnson weist einen fast bilderbuchhaften Lebenslauf vor, der selbst in den elitären Zirkeln der Tories eine Seltenheit ist: Privatschule in Eton, Altertumsstudien in Oxford, dann Karriere als Journalist und Bürgermeister von London. Johnson kultiviert das Bild des schrulligen, eloquenten Vertreters der englischen Oberklasse, der in piekfeinem Queen’s English parliert und seine Reden gerne mit einem manierierten Stottern garniert, das er sich als einen elitären Code und Habitus aus seiner Studienzeit beibehalten hat. Dass der Churchill-Biograph zu Höherem – er ist weiterhin als Premierminister im Gespräch – berufen ist, ist kein Geheimnis.

Doch das Bild des ehrlichen Maklers bekam Kratzer. Am Freitag vor der Abstimmung postete der Journalist Martin Fletcher einen vielbeachteten Kommentar auf Facebook, in dem er seinen alten Kollegen Johnson scharf attackierte. Fletcher wurde 1999 als Brüssel-Korrespondent der altehrwürdigen «Times» berufen, ein paar Jahre nach Johnsons Wirken. Und was Fletcher darin schreibt, war alles andere als ein Loblied: «Seit 25 Jahren hat unsere Presse die britische Öffentlichkeit mit verzerrten, lügnerischen und unerbittlich feindlichen Geschichten über die EU gefüttert. Und der Journalist, der den Ton setzte, war Boris Johnson.»

Bevor Johnson als Korrespondent aus Brüssel berichtete, wurde er 1988 von der «Times», wo er seine journalistische Karriere begann, wegen eines erfundenen Zitats entlassen. In Brüssel waren die Grenzen der Imagination offensichtlich weiter, weshalb die Redaktion des «Daily Telegraph» den versierten Historiker dorthin versetzte. Fletcher schreibt über seinen ehemaligen Kollegen: «Er ergriff jede Gelegenheit, sich über die EU lustig zu machen oder sie denunzieren und lieferte Artikel, die unzweifelhaft bunt, aber auch grotesk überzogen und komplett unwahr waren.» An Johnsons Bürowand, so berichtete der «Independent» 1995, hing ein Zettel seines Redaktionskollegen Max Hastings, der ihn daran gemahnte, noch «bombastischer» zu schreiben.

Johnson soll später bekundet haben: «Alles, was ich aus Brüssel schrieb, fand ich, war eine Art Rausschmeissen von Steinen über den Gartenzaun und dabei dem unglaublichen Einschlag im Gewächshaus nebenan in England zuzuhören, denn alles, was ich aus Brüssel schrieb, hatte diesen erstaunlichen, explosiven Effekt und es gab mir wirklich dieses ziemlich verrücktes Machtgefühl.» Dieses Zitat ist entlarvend. Es zeichnet das Bild eines machtbesessenen Zündlers, eines Hasardeurs, der publizistische Bomben bastelt und sie genüsslich hochgehen sieht von seiner Brüsseler Schreibstube aus.

Vom Brüssel-Bashing zum Brexit ist es nicht mehr weit – es existiert eine historische Kontinuität. Ist der Geist erst aus der Flasche, ist er bekanntlich schwer wieder einzufangen. Erstaunlich ist, warum dieser pro-europäisch sozialisierte und gesinnte Intellektuelle eine solche Genugtuung an destruktiven Ideen findet. David Gardner, ein Freund und Rivale aus alten Tagen und damals Journalist bei der «Financial Times», beschrieb Johnson als «gespaltene Persönlichkeit».

Offensichtlich gab es auch systemische Zwänge für diese EU-feindliche Berichterstattung. Fletcher berichtet, dass auch die Ressortleiter der «Times» damals nur Artikel über «gesichtslose Brüsseler Eurokraten wollten, die Britannien absurde Regeln aufoktroyieren. (…) Es war das einzige Narrativ, woran sie interessiert waren.» Der publizistische Boden für eine Austrittskampagne war lange bestellt. Fletcher konstatiert: «Boris Johnson macht jetzt Kampagne gegen eine Cartoon-Karikatur der EU, die er selbst kreierte. Er macht Stimmung gegen eine grösstenteils fiktionale EU, die keinen Bezug zur Realität hat.»

Der ehemalige Londoner Bürgermeister machte mit vereinfachten Formeln Politik wie ein Boulevard-Journalist, und die Boulevardpresse machte Wahlkampf wie die Altparteien. Es zeigt sich hier ganz deutlich eine Verschmelzung von Politik und Medien, die nach einer ähnlichen Systemlogik funktionieren: dem Gesetz der maximalen Aufmerksamkeit. Dass in diesem alarmistischen Geheul die leisen Töne kein Gehör finden, versteht sich von selbst.

Der «Guardian»-Kolumnist Peter Preston fragte selbstkritisch: «Die Bürger haben sich über den Brexit ausgesprochen. Aber haben die Medien ihnen die Wahrheit erzählt?». Das Brexit-Votum ist nur vordergründig ein Erfolg für die Boulevardpresse und «Journalisten-Politiker». In Wirklichkeit ist es eine fatale Niederlage der Presse, die ihre Leser mit selektiven und falschen Informationen versorgte und gegen die reihenweise Beschwerden vor der Regulierungsbehörde «Independent Press Standards Organization» (vergleichbar mit dem Presserat in Deutschland) anhängig sind. Die britische Presse ist laut einer Umfrage der EU-Kommission vom September vergangenen Jahres die am schlechtesten beleumundete Presse in allen EU-Staaten: 73 Prozent aller Briten misstrauen der Presse. Die Brexit-Kampagne hat mit ihren Schmutzkampagnen nicht gerade zur Glaubwürdigkeit der Presse beigetragen.

Bild: Flickr/Andrew Parsons (CC BY-ND 2.0)