Das Mediendesaster
Mal Hand aufs Herz: Wer kann die fünf wichtigsten Pläne aufzählen, die eine Präsidentin Clinton, ein Präsident Trump, umsetzen wollen? Wer kann erklären, wo sie sich unterscheiden, wo sie übereinstimmen? Oh, da drückt das lesende und hörende Publikum auf die Pausentaste oder möchte gerne den Telefonjoker nehmen? Dann eine letzte Frage: Wie kann das sein, wo wir doch in einem Meer von Informationen schwimmen?
Auf der Zielgeraden des US-Wahlkampfs vergeht kein Tag, der nicht neue Enthüllungen über den E-Mail-Verkehr von Clinton oder sexuelle Übergriffigkeiten von Trump bringt. Vor dem Hintergrund, dass in eigentlich allen deutschsprachigen Medien die Meinungen längst gemacht sind: Zumindest sei Hillary das kleinere Übel, wenn es auch bedenklich ist, dass die grossen USA nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben, bei der Besetzung des Amtes des mächtigsten Mannes, der mächtigsten Frau der Welt.
Wo bleibt Informationsvermittlung, Erklärung, Einordnung, Analyse? Wer kann auf eine Zusammenfassung des Parteiprogramms der Demokraten, der Republikaner, auf das Wahlprogramm von Clinton oder Trump zugreifen? Doch, das gibt es, wäre eigentlich auch nur einen Klick entfernt. Nein, ich möchte es dem Leser nicht so leicht machen, hier die Links zu präsentieren, so viel Leistung kann man vom mündigen und politisch interessierten Leser doch erwarten. Immerhin die Leser der NZZ sind etwas privilegiert, sie lieferte am Wochenende eine Darstellung für Clinton.
Ist Clinton nun eine opportunistische und korrupte Politikerin, ist Trump ein windiger Geschäftsmann, charakterlich disqualifiziert, sind beide ungeeignet für das höchste Amt der Welt, wenn wir den Papst aussen vor lassen? Kann die Art der Auswahl, wie sie in den USA gepflegt wird, Vorbild für den Rest der Welt sein, haben wir es in Europa, in der Schweiz besser? Wenn die Hälfte aller potenziellen Trump-Wähler ein «Korb von jämmerlichen Rassisten, Sexisten, Homophoben, Fremdenfeinden und Islamgegnern» ist, wie das Clinton in arroganter Deutlichkeit formulierte, wofür steht dann die andere Hälfte? Und wie lassen sich die potenziellen Wähler von Clinton qualifizieren?
Das Phänomen ist wohl genügend beschrieben: Die mediale Vermittlung des US-Wahlkampfs lässt mehr Fragen offen als sie beantwortet. Die deutschsprachigen Medien bespassen sich und das Publikum mit granulierten Informationsbytes, aus denen keine Schwarmintelligenz, sondern Schwarmdummheit resultiert. Gleichzeitig herrscht eine klare Meinung vor. Es darf der Konsens bedient werden: Trotz Bauchgrimmen und Vorbehalten sollte Clinton gewählt werden. Wer sagt: Trotz Bauchgrimmen und Vorbehalten sollte Trump gewählt werden – eine Auffassung, die immerhin über 40 Prozent der US-Wähler vertreten –, bekommt massiven Gegenwind, dem meistens das Wichtigste fehlt: sachliche Argumente. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?
Dazu drei Thesen:
- Könnte es sein, dass die Medien zu einer Echokammer verkommen sind, in der keine sich widersprechenden Argumente und Analysen ausgetauscht werden, sondern lediglich eine Meinung sich selbst verstärkend spiegelt und den dadurch entstehenden Spiegel für das Abbild der Wirklichkeit hält?
- Könnte es sein, dass die von Algorithmen gesteuerte Informationszufuhr der für uns alle immer wichtiger werdenden Internet-Quellen uns in In-Groups führen, in denen wir lediglich in unseren Präferenzen bestärkt werden?
- Wenn die Nachfrage das Angebot bestimmt, könnte es dann sein, dass man gar kein Angebot mehr bekommt, das uns in Stand setzen würde, uns unsere eigene Meinung zu bilden? Wenn wir im Internet nach Äpfeln suchen, bekommen wir keine Birnen angeboten.
Es gibt aber einen fundamentalen Unterschied zwischen der Befriedigung von Konsumbedürfnissen und der politischen Meinungsbildung. Wenn Informationsplattformen ihre Performance in erster Linie an der Einschaltquote messen, also wie viel Klicks oder Visits erreicht ein Angebot, dann geben sie den Unterschied zu einem Grossverteiler auf, dessen einziges Ziel darin besteht, den Konsumenten möglichst genau das zu bieten, was sie wollen.
«Perception is Reality» lautet die Grundthese jeder Propaganda oder PR. Das ist richtig, wer seine Botschaft – moderner Key-Message – unter das Volk bringen will, darf nicht die Realität abzubilden versuchen, sondern muss mit den richtigen Kampfbegriffen die Lufthoheit in der öffentlichen Meinungsbildung erringen. Dafür, dass Wahrnehmung und Realität nicht allzu weit auseinanderklaffen, wäre eigentlich die vierte Gewalt zuständig, die Medien.
Erfüllen sie diese Aufgabe? Eindeutig nein, und das ist ein Desaster, dessen Auswirkungen weit über die möglichen Folgen hinausgehen, wenn dann höchstwahrscheinlich Clinton oder möglicherweise Trump gewählt wird. Wer es auch immer sein wird, nur ein verschwindend geringer Teil der Öffentlichkeit kann behaupten, vorher darüber informiert worden zu sein, was uns allen bevorsteht. Natürlich handelt es sich dabei auch um Selbstverschulden. Jeder, der über einen Zugang zum Internet verfügt, kann sich alle sachdienlichen Informationen besorgen. Aber es handelt sich in erster Linie um ein Versagen der Medien. Im Vergleich dazu wäre selbst ein US-Präsident Trump ein zumindest vorübergehendes Übel.
Matthias Giger 03. November 2016, 14:46
Was Sie beschreiben, Herr Zeyer, sind die Auswirkungen der Pressekonzentration, der Fremdsteuerung der Information (Filter Bubble) und des Zeitbudgets, das von – übrigens nicht per se mit Medien- und Informationskompetenz ausgestatteten – Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Social Media Kanälen verballert wird. Indirekt bringen Sie die 5. Gewalt, die Medienkritik, ins Spiel.
Übrigens findet am 17. November die Tagung des Vereins Medienkritik Schweiz statt, an der wir eine Standortbestimmung der Medienkritik in der Schweiz vornehmen. Genauere Infos finden Sie unter http://medienkritik-schweiz.ch/2016/10/mitgliederversammlung-und-jahrestagung/
Dieter Kief 13. November 2016, 15:08
Matt Taibbi im aktuellen Rolling Stone sagt ungefähr so: Wir haben das Ding – – als Journalisten – – versemmelt. Keiner von uns – gar keiner aus der New Yorker Blase war sich unfein genug, zu schauen, was die Leute (alle Leute ausserhalb der Blase) bewegt.
Taibbi macht mal einen Anfang – es wird interessant sein zu sehen, was er aus diesem Anfang macht. Das wird entscheidend sein!
Hier der link zu Taibbis mea culpa:
http://www.rollingstone.com/politics/features/president-trump-how-america-got-it-so-wrong-w449783
Hier zwei Zitate:
Trump made idiots of us all. From the end of primary season onward, I felt sure Trump was en route to ruining, perhaps forever, the Republican Party as a force in modern American life.
Und – auch nicht schlecht:
elites lived in both parties, Trump warned. The Republicans were tools of job-exporting fat cats who only pretended to be tough on immigration and trade in order to win votes, when all they really cared about were profits. The Democrats were tools of the same interests, who subsisted politically on the captured votes of hoodwinked minorities, preaching multiculturalism while practicing globalism. Both groups, Trump insisted, were out of touch with the real American voter. Neither party saw the awesome potential of this story to upend our political system.
Ich schließe so:
The question now is: Where – do we go from here?
(Es ist sinnvoll, hier wir zu sagen – es weht da scheints ein großer Wind – – um die halbe Welt).