von René Zeyer

Tragt dem Nachrichtenmagazin Sorge!

Das «Sturmgeschütz der Demokratie», wie es sein Gründer Rudolf Augstein nannte, ist in die Jahre gekommen. Es feiert seinen 70. Geburtstag, feiern wir mit. «Der Spiegel» ist weiterhin unverzichtbar, aber beim Rückblick kommt Nostalgie auf.

Montag war «Spiegel»-Tag. Das galt für die deutsche Politik, das galt für ach so viele Leser, die sich für Politik, Kultur, Gesellschaft und einen informierten Blick in die Welt interessierten. Dazu für gnadenlos gut geschriebene Artikel und immer wieder journalistische Sternstunden in Form von Reportagen. Vor einigen Jahren, nach immer lustloserem Durchblättern, fand ich heraus, dass es auch ein Leben ohne «Spiegel» gibt. Daran änderte auch die Verlegung auf den Erscheinungstermin Samstag nichts. Warum? Wohl weil das Sturmgeschütz Ladehemmung bekam, vieles beliebig wurde, vorhersehbar, repetitiv. Meinung, Kommentar und Rechthaberei immer mehr ersetzten, zu «schreiben, was ist» (auch von Augstein).

Welche Skandale hat der «Spiegel» in den 70 Jahren seiner Geschichte aufgedeckt: Den Fall Flick und die gekaufte Demokratie mit Parteispenden, die Affäre um die «Neue Heimat», welche dicken Bretter bohrte er in der Finanzkrise eins, wie intelligent vermied er, sich an der Ausschlachtung irgendwelcher «Leaks» zu beteiligen, die das Image des Investigativjournalismus ruinierten. Neuerdings ist er auch auf diesen Zug aufgesprungen und verwertet die sogenannten «Fussball-Leaks», die ihm von einer eher obskuren Quelle zugespielt wurden. Dafür war er bei Snowden und der NSA vorne dabei, und, und, und.

Über welche Ressourcen verfügt der «Spiegel» bis heute: Seine Journalisten dürfen noch recherchieren, vor Ort sein, Teams bilden, unterstützt von einer Dokumentationsabteilung, die alleine schon grösser ist als die gesamte Belegschaft einer gehobenen Tageszeitung. Mit berechtigtem Stolz führt er die 14 Stationen vor, vom Manuskript des Autors bis zum Druck, die jeder Artikel durchläuft. Welch andere Welt im Vergleich zu allen übrigen deutschsprachigen Medienerzeugnissen. Wo der Redaktor nur mit Hilfe eines Korrekturprogramms sein Werk direkt ins vorgegebene Layout fliessen lässt, oberhalb von telefonieren, skypen, googeln und viel Copy-and-paste nicht recherchiert, ein überforderter Tageschef entscheidet, welche News mit wie vielen Zeilen auf engem Raum ins Blatt kommen, und der Chefredaktor lediglich überprüft, ob die Inhalte Kosten verursachenden juristischen Ärger geben oder ob einer der wenigen verbleibenden Grossinserenten sauer werden könnte. Und über allem schwebt die Klickrate im Internet auf Grossbildschirmen im Newsroom.

Der «Spiegel» kann es sich noch leisten, Mächtigen und Wichtigen auf die Füsse zu treten, ohne Furcht vor den wohlbestückten Legal Departments von Banken, Grosskonzernen und ohne Rücksichten auf politische Befindlichkeiten. Er kann sich immer noch an seinen ewigen Vorbildern messen, «Time», «New York Times» und gelegentlich sogar am «New Yorker». Ab und an auch am «Wall Street Journal», der «Financial Times» und dem «Economist». Vom englischsprachigen Journalismus hat er auch den Sound übernommen, der ihm seinen einmaligen Ton gab, weshalb lange Jahre die meisten Artikel nicht gezeichnet waren. Die Message stand im Vordergrund, nicht der Autor. Mit ganz wenigen Ausnahmen wie Gerhard Mauz, dem Übervater der Gerichtsberichterstattung, bis heute das unerreichte Vorbild für alle. Hier lässt sich der Niedergang personifizieren. Seine Nachfolgerin Gisela Friedrichsen erwies sich nicht nur im Fall Kachelmann als eitle Selbstdarstellerin, die sich in Talkshows und unzähligen Medienauftritten selbst für wichtiger hält als die von ihr zu beschreibenden Rechtsfälle.

Die Abwege, auf die der «Spiegel» geraten ist, lassen sich an zwei Titelblättern festmachen. «Stoppt Putin» fordert das eine, das andere rief «Das Ende der Welt» aus, illustriert mit einer Supernova in Form einer Trump-Fratze, die die Erde verschlingt. Und während Rudolf Augstein in seinen späten Jahren immer kantigere, aber gleichbleibend intelligente Kommentare schrieb, darf inzwischen sein Adoptivsohn Jakob Augstein davon faseln, dass in den USA der Faschismus an die Macht gekommen wäre, weil Trump ein Faschist sei. Auch im seit einiger Zeit eingeführten Leitartikel geht es in der Jubiläumsausgabe um alles: «Unsere Art zu leben, die Pressefreiheit, viele andere Freiheiten und die Demokratie des Westens stehen auf dem Spiel.» Als ob das seit 1947 jemals anders gewesen wäre. Bei allem trotzigen Aufbegehren gegen Vorwürfe wie «Lügenpresse» und die Troll-Armeen des Internets, die Journalismus zu einer Leistung ohne Wert machen, die in Blogs, Foren und Social Media meist auch nichts wert ist: Es herrscht Verunsicherung im «Spiegel». Auch wenn «Spiegel online» eine der ganz wenigen News-Webseiten ist, für die viele Leser auch bezahlen würden (und es auch tun): Wo soll die Reise hingehen? Längst ist jeder Tag «Spiegel-Tag», seit vielen Jahren hat das Nachrichtenmagazin sein Alleinstellungsmerkmal verloren, seit es die von ihm anfänglich überheblich unterschätzte Konkurrenz «Focus» gibt. Längst sind die «Spiegel»-Interviews mit dem ewigen Schlusssatz «wir danken Ihnen für dieses Gespräch» nicht mehr immer Kabinettsstückchen eines redigierten und konzentrierten Dialogs, immer seltener werden die grossen Reportagen, immer mehr verdrängen Fotos und Kurzfutter längere Lesestücke.

Natürlich, der Zeitgeist, das Wisch-und-Weg-Konsumverhalten gegenüber Welterklärungsversuchen, die naturgemäss komplizierte Sachverhalte nicht auf wenige Schlagwörter reduzieren können. Die ewige Suche nach einem den Kioskverkauf steigernden Titel, wo Sex, Gesundheit, Schlankheitskuren, Glück oder Liebe das Pièce de Resistance, Hitler und das Dritte Reich, einrahmen. Das anhaltende Nachhecheln hinter jedem Earthshaker, Krieg, Katastrophe, Unfall, Mordfall, ohne zu beachten, dass fast alles, was am Schluss gedruckt im Blatt steht, schon längst von den elektronischen Medien im Internet abgetrocknet wurde. Und, fatal, die Teilhabe am Mainstream, am Justemilieu, wo aus Unsicherheit und Verwirrung geborene Rechthaberei, missionarischer Eifer, das Behaupten des vermeintlich Richtigen und das Verurteilen des angeblich Falschen, also die apodiktische Meinung immer mehr die Nachricht, Analyse, Einordnung, Argumentationshilfe ersetzt.

Im grossen Jubiläumsstück setzt eine der wenigen verbliebenen Edelfedern, der «Senior Writer» wie es auf seiner Visitenkarte so schön heisst, Ullrich Fichtner, zur grossen Abrechnung mit den aktuellen Zeiten an. Er raunt von einer möglicherweise bevorstehenden Revolution, räumt selbstkritisch ein, dass der Vorwurf «im Einzelfall» durchaus berechtigt sei, dass ein «pflichtvergessener Politik- und Medienbetrieb» die Sorgen und Nöte der Bürger allzu lange ignoriert habe und nun «die Quittung dafür» bekomme. Dann teilt er aber kräftig aus und beklagt das unkontrollierte Wirken von Google, YouTube, Facebook, Twitter und Apple, das Versagen der Politik, das ungerechtfertigt schlechte Abschneiden von Medien in Sachen Glaubwürdigkeit, um die es im Übrigen, man muss nur die richtigen Statistiken hernehmen, gar nicht so übel stünde. Und malt das Idealbild an die Wand: «Der klassische Journalismus verknüpft den Akt der Publikation mit der Prüfung von Faktizität und Relevanz. Er liefert ein Wertgerüst für das öffentliche Sprechen.» Eine schöne Definition des Medienwissenschaftler Pörksen, die Fichtner da zitiert. Aber wird ihr der «Spiegel» selbst denn gerecht? Ist das nicht mehr Ausdruck von Nostalgie als eine taugliche Handlungsanleitung für heute? Ist es nicht symbolisch, dass sich in dieser Serie anlässlich des 70. Geburtstags im nächsten Heft Hans Magnus Enzensberger zu Wort melden wird? Der letzte grosse deutsche Feuilletonist und Denker, aber immerhin auch schon 88 Jahre alt. Also wo soll’s denn hingehen in den nächsten 70 Jahren «Spiegel»? Aus der Vergangenheit in die Zukunft, aber wie?

Wo es mit der Welt hingeht, weiss Fichtner: «So viel Argwohn, so viel Hass gegen die Macht und die Mächtigen war nach dem Krieg kaum je, höchstens Ende der Sechzigerjahre. Damals endete eine Epoche. Und eine neue begann.» Das mag ja so sein, aber wie will der «Spiegel» diese Epochenwende, gar das mögliche «Ende der Welt», widerspiegeln? Vielleicht war ja ein Spritzer Selbstkritik in der Unterzeile unter dieser unsäglichen Reaktion auf den Sieg Trumps, denn sie lautete: «wie wir sie kennen». Oder stellen wir die Frage anders: Was ist das für eine Welt, zumindest eine Medienwelt, in der «Der Spiegel» immer mehr Recherche und Reportage durch Rechthaberei ersetzt, Aufdeckung, Einordnung und Analyse durch Handlungsanleitung und Ratschläge – und dennoch unverzichtbar bleibt? Eigentlich gelesen (und gekauft!) werden muss, weil sein mögliches Verschwinden eine Lücke hinterliesse, die im deutschen Sprachraum bislang durch nichts Gleichwertiges, geschweige denn Besseres ersetzt werden könnte. Weil ohne ihn die Mächtigen ruhiger schlafen würden, so viele Schweinereien unaufgedeckt blieben. Man ist versucht, seinen Mitarbeitern, die ja auch Mehrheitsbesitzer sind, zuzurufen: Tragt dem Nachrichtenmagazin Sorge. Spielt wieder mehr den alten Rock’n’Roll des Journalismus: hinschauen, hingehen, recherchieren, beschreiben. Die Welt widerspiegeln, nicht die eigene Befindlichkeit. Und im Hinterkopf immer die wohl beste Definition des Handwerks von George Orwell: «Journalismus heisst, etwas zu drucken, von dem jemand will, dass es nicht gedruckt wird. Alles andere ist Public Relations.»