Untaugliche Ethikregeln
Schweizer Radio und Fernsehen SRF und Tages-Anzeiger/Sonntagszeitung wollen Terroristen nicht mehr mit vollem Namen nennen und keine Bilder von ihnen veröffentlichen. Dazu setzten sie im letzten Sommer entsprechende Leitlinien in Kraft. Ein halbes Jahr später ist es mit der Zurückhaltung nicht mehr weit her. Vom Berliner Attentäter finden sich Name und Bild in der Berichterstattung beider Medien. Warum sich das kaum vermeiden lasse, erklären Arthur Rutishauser und Tristan Brenn, die zuständigen Chefredaktoren.
Man kann es nachlesen, schwarz auf weiss. Die Spielregeln sind eigentlich klar: Der «Tages-Anzeiger» zeigt ab sofort keine Bilder mehr von Attentätern und Amokläufern und die Namen der Täter werden wir abkürzen, hielt Arthur Rutishauser, Chefredaktor von Tages-Anzeiger und Sonntagszeitung, Ende Juli vergangen Jahres fest. Einen Monat später legte Schweizer Radio und Fernsehen nach: Man verzichte darauf, Bilder und Namen von Attentätern zu zeigen, hielten damals die Chefredaktionen von Schweizer Radio und Fernsehen SRF fest.
Unter dem Eindruck sich häufender Attentate im letzten Sommer mit Dutzenden von Toten in Deutschland und Frankreich, reagierten Medien in der Schweiz und im Ausland mit Anweisungen an ihre Redaktionen, fortan zurückhaltender über Tatverdächtige und tatsächliche Terroristen zu berichten; neben Tages-Anzeiger und Radio SRF etwa auch die Zeitung Le Monde und der Nachrichtensender BFM aus Frankreich.
Ein halbes Jahr später reibt man sich verwundert die Augen. Sowohl der Tages-Anzeiger, und insbesondere sein Online-Ableger tagesanzeiger.ch, aber auch bei SRF scheinen die hehren Regeln der Medienethik schon wieder vergessen. Der Name des Berliner Attentäters findet sich voll ausgeschrieben und auch Bilder des Tunesiers gibt es zu sehen. Was ist geschehen? Haben die Chefredaktoren die neuen Regeln gelockert oder gar annulliert?
Arthur Rutishauser verneint: «Wir haben die Richtlinie nicht gelockert», teil der Chefredaktor von Tages-Anzeiger und «Sonntagszeitung» auf Anfrage mit. Damit gälte eigentlich weiterhin: Namen nicht voll ausschreiben und grundsätzlich keine Bilder, ausser Beweisbilder, wie etwa Aufnahmen von Überwachungskameras. «Was die Namensnennung anbelangt, waren wir im Print soweit mir bekannt konsequent». Das stimmt nicht ganz. Der gedruckte Tages-Anzeiger schrieb in seiner Ausgabe vom 23. Dezember den Namen des Berliner Attentäters mehrfach voll aus, ebenso die «Sonntagszeitung» in zwei ihrer Ausgaben. Und auch bei den Vorgaben zur Abbildung gibt es Defizite. So findet sich in der «Sonntagszeitung» vom 8. Januar ein Porträtbild des jungen Manns, wenn auch nur ein kleines, das nicht als Beweis- oder Fahndungsbild durchgeht.
Auf tagesanzeiger.ch sei die Richtlinie deshalb nicht konsequent umzusetzen, «da es halt sehr schnell geht und wir und wir teilweise mit ‹20 Minuten› zusammengeschaltet sind», erklärt Rutishauser. tagesanzeiger.ch bezieht einen Teil seiner Nachrichten aus einer Redaktionseinheit, die auch «20 Minuten» beliefert. Da dieser sogenannte Newsexpress nicht im Zuständigkeitsbereich von Arthur Rutishauser liegt, kann es vorkommen, dass Beiträge mit anderen medienethischen Standards einfliessen.
Wie der Tages-Anzeiger kann auch Schweizer Radio und Fernsehen SRF seine selbst auferlegten Zurückhaltung in der Terrorberichterstattung nicht vollumfänglich einhalten. In TV-Sendungen und Onlinebeiträgen finden sich Name und Bild des Berliner Attentäters gleich mehrfach. Tristan Brenn, Chefredaktor Fernsehen SRF, sieht darin aber keinen Regelbruch, sondern legitime Ausnahmen: «Das war ein bewusster Entscheid aufgrund einer anderen Interessengewichtung.»
Solange ein flüchtiger Attentäter eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstelle, so Brenn, verzichte das Schweizer Fernsehen auf eine Anonymisierung. Diese Ausnahme habe man beim Abfassen der neuen Leitlinien so vorgesehen. «Sobald der Täter in Mailand gestellt war, haben wir keine Bilder mehr von ihm gezeigt, auch seinen Namen nie mehr erwähnt, weder in den Sendungen noch online.» Hier irrt Brenn. Die «Rundschau» preist die Sendung vom 11. Januar auf ihrer Webseite mit der Nennung des vollen Namens des Berliner Attentäters an. In der Sendung selbst blieb er dann allerdings regelgetreu anonymisiert.
Wie ernst die Chefredaktoren ihre eigenen Leitlinien nehmen, zeigt auch der nachlässige Umgang mit versehentlichen Namens- und Bildveröffentlichungen. Klar kann es mal vorkommen, dass ein Journalist eine von der Nachrichtenagentur abgefasste Bildlegende mit voller Namensnennung übernimmt. Im Web wäre es allerdings möglich, diesen Lapsus nachträglich zu korrigieren. Das aber machten bisher weder Tages-Anzeiger noch SRF.
Bei all den Ausnahmen und Sonderfällen, sowie einer an Desinteresse grenzenden Nachlässigkeit in Umsetzung und Kontrolle der eigenen Leitlinien, stellt sich unweigerlich die Frage: Was bringt es eigentlich – ausser dem Applaus der Medienethiker – solche Regeln aufzustellen? Strikte Vorgaben vertragen sich im Journalismus schlecht mit der gängigen Praxis des situativen Abwägens im Einzelfall. Erschwerend wirkt zudem das Organigramm moderner Redaktionsorganisationen. Bei Plattformen, die aus zahlreichen Quellen gespeist werden, kann man leicht den Überblick verlieren, wer nun welche Inhalte nach welchen Standards anliefert.
Entscheidend bleibt letztlich, was das Publikum wahrnimmt. Und das sieht Bilder eines Attentäters und liest seinen vollen Namen, obwohl die Redaktionen doch eigentlich genau das vermeiden wollten, um den Terroristen keine zusätzliche Bühne zu geben. Bevor Chefredaktoren vollmundig Versprechen abgeben, wäre es wohl sinnvoller, wenn sie zuerst intern die Praktikabilität neuer Leitlinien prüfen und erst danach an die Öffentlichkeit treten, oder aber die Übung abblasen, wenn ihnen klar wird, dass sich solche Leitlinien nicht einhalten lassen.