Jetzt wäre erst recht Präzision gefragt
Die Realität wäre eigentlich schon düster genug. Doch manche Medien meinen die Verfehlungen des US-Präsidenten umso dramatischer erscheinen zu lassen. Zwei aktuelle Beispiele von Washington Post und Tages-Anzeiger unter der Lupe.
«Die Wahrheit ist konkret», sagte Bertolt Brecht ganz richtig. Gerade hat sich die «Washington Post» die Mühe gemacht, alle Aussagen von Donald Trump seit seinem Amtsantritt von Faktencheckern überprüfen zu lassen. Sie kam, Stand 25. Februar, auf 140 «falsche oder irreführende Behauptungen» (Stand 26.2.). Unbestreitbar eine beeindruckende Zahl, die gerade die Runde macht in vielen Medien. Schauen wir sie uns genauer an: Wenn wir das Kriterium «falsch» nehmen, das in der Auflistung zusätzlich mit vier Pinocchio-Köpfen ausgezeichnet ist, schrumpft die Gesamtzahl bereits auf bescheidene 10 – , Mehrfachzählungen ausgenommen. Dabei wird Trumps Behauptung, er habe bereits Milliarden an Staatsausgaben eingespart, insbesondere bei der Bestellung einer neuen Air Force One, vier Mal gezählt, seine Behauptung, illegale Einwanderer hätten mitgewählt, drei Mal. Bei ganz genauer Betrachtung ist lediglich Trumps Aussage, die Mordrate sei in den USA auf einem neuen Höchststand, einwandfrei falsch. Für alle anderen ihm als Fake unterstellten Aussagen, beispielsweise dass er schon immer gegen den Irak-Krieg gewesen sei, dass er Auszeichnungen für Beiträge zum Umweltschutz bekommen habe, wurden einfach keine ausreichenden Belege gefunden und sie deshalb als falsch qualifiziert.
Damit bleiben 130 «irreführende Behauptungen», also schlichtweg Äusserungen, die innerhalb des breiten Spektrums der Interpretation, dem Zurechtbiegen von Darstellungen der Wirklichkeit sind. Wie es überall Gang und Gebe ist, wenn beispielsweise ein Unternehmen einen Verlust bekanntgeben muss, aber in erster Linie darauf hinweist, dass sein Gewinnrückgang kleiner als bei vergleichbaren Konkurrenten ausgefallen sei und man daher grossartig gewirtschaftet habe. Weil sich aber die meisten Journalisten, die diese Meldung der «Washington Post» weiterverbreiteten, nicht die Mühe genommen haben, die Beweislage genauer anzuschauen, kann sich Trump leider nicht zu Unrecht darüber beschweren, dass Fake News über ihn verbreitet werden. Es ist unbestreitbar, dass er selbst es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt. Es ist aber genau so unbestreitbar, dass neben unsäglichen Verunglimpfungen als Faschist, Diktator und Wahnsinniger die Medien auf der Faktenebene ebenfalls den Bereich der erlaubten Interpretation verlassen – oder zu wenig kritisch nachfragen, wenn es Experten mit den Fakten nicht so genau nehmen.
Aktuelles Beispiel dafür ist das Interview des «Tages-Anzeiger» mit dem US-Historiker Robert Kagan. Kagan ist eine einflussreiche konservative Stimme, Mitbegründer von Think Tanks und ehemaliges Mitglied der Republikanischen Partei, deren Präsidentschaftskandidaten er lauthals unterstütze, bis er sich gegen Donald Trump aussprach.
Mit der Wahl Trumps ist nun ein «Alptraum» für ihn Realität geworden. Als Begründung führt Historiker Kagan unter anderem an, dass Trump, was die Aussenpolitik betrifft, ignoriere, «dass sich die USA 70 Jahren lang für eine liberale Weltordnung stark gemacht haben». Nicht nur Länder wie Guatemala, Chile oder Vietnam dürften das etwas anders sehen, weil sich hier die USA für eine militärisch-imperialistische Politik im Kampf gegen den Kommunismus und was sie dafür hielten stark gemacht haben, mit schmutzigen Methoden demokratisch gewählte Regierungen stürzten oder im Fall Vietnams zahllose Kriegsverbrechen begangen. Nebenbei Kambodscha in die Steinzeit bombten und in Laos Hunderttausende von Minen zurückliessen, ohne sich bis heute der Verantwortung für begangene Taten zu stellen.
Im Interview wird Kagan seine Aussage im Präsidentschaftswahlkampf vorgehalten, dass «der Faschismus nach Amerika komme», sollte Trump gewählt werden. Ob das nun der Fall sei, wird Kagan gefragt, und kommt mit der Antwort davon, Originalübersetzung «Tages-Anzeiger»: «Amerika sind nicht faschistisch geworden unter Trump – noch nicht.» Weiter wird Kagan mit seiner damaligen Unterstützung des Einmarschs der USA in den Irak konfrontiert, ob das nicht ein Fehler gewesen sei? Kagans launige Antwort: «Als Historiker weigere ich mich, die Geschichte rückwärts zu schreiben. Tatsächlich hatte der Krieg negative Folgen, er wurde schlecht geführt und basierte auf falschen Annahmen der Geheimdienste. Aber ich bin dankbar, dass Saddam Hussein nicht mehr an der Macht ist.» Warum? «Saddam Hussein war nicht nur ein schrecklicher Diktator, er hatte bereits zwei Nachbarländer angegriffen, den Iran und Kuwait.»
Was Kagan in seiner «alternativen» Geschichtsschreibung zu erwähnen vergisst: den Jahre dauernden und grausamen Krieg gegen den Iran führte Hussein mit Einwilligung und mit militärischer Unterstützung (Stichwort Irangate) durch die USA. Und vor dem Einmarsch Saddams in Kuwait signalisierten ihm die USA, dass sie weder eine Meinung zu innerarabische Streitigkeiten hätten noch ein Verteidigungsabkommen mit Kuwait. Was der Diktator als Carte Blanche für die Invasion nahm. Eine frühe Sternstunde «alternativer Fakten» war dann die sogenannte Brutkastenlüge. Eine junge Kuwaiterin erzählte vor dem US-Kongress unter Tränen, dass sie eine Hilfsschwester in einem kuwaitischen Spital gewesen sei und gesehen habe, wie irakische Soldaten eindrangen und Neugeborene aus den Brutkästen gerissen hätten. Erst nach der «Befreiung» Kuwaits wurde bekannt, dass das Mädchen in Wirklichkeit die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA war und der Propaganda-Coup von der PR-Agentur Hill & Knowlton, bezahlt von der kuwaitischen Exil-Regierung, inszeniert worden war.
Getoppt werden diese «alternativen Fakten» nur noch durch die Erfindung von «Massenvernichtungswaffen» im Besitz des irakischen Diktators, deren Existenz vom damaligen US-Aussenminister Colin Powell vor dem Weltsicherheitsrat der UNO mit höchster Autorität vorgetragen wurde, um die Notwendigkeit einer Invasion des Iraks zu begründen. Eine der grössten Fake-News dieses Jahrtausends. Später bezeichnete Powell diese Lügengeschichte als «Schandfleck» in seiner Karriere.
Natürlich machen diese Beispiele und der zumindest selektive Umgang Kagans mit historischen Tatsachen Trumps Umgang mit der Wahrheit nicht besser. Aber die Erregung darüber, dass er eins ums andere Mal lügt oder zumindest irreführende Behauptungen aufstellt, ist reine Heuchelei. Das war und ist ein normaler Bestandteil der Politik. Dagegen wäre es die Aufgabe der Presse, in diesem konkreten Beispiel Aufgabe des «Tages-Anzeiger», einen einflussreichen Historiker damit zu konfrontieren, dass er tatsächlich die Geschichte rückwärts umschreibt, verantwortungslos die Faschismus-Keule geschwungen hat und sehr «alternative Fakten» bei der Beschreibung historischer Ereignisse verwendet. Aber das stillschweigende Einverständnis zwischen Interviewer und Interviewtem, dass Trump ganz furchtbar ist, verhindert das. Und gibt Trump, sehr bedauerlich, einmal mehr recht, wenn er sich über die Berichterstattung vieler Medien beschwert.