von Nick Lüthi

«Wir probieren vieles aus und schauen, was funktioniert»

Masterplan gibt es keinen: «Blick TV» ist ein grosses Experiment. Einfach ausprobieren. Mittendrin steht Jonas Projer und versucht als Chefredaktor die Fäden zusammenzuhalten. Das gelingt ihm bisher ganz zur Zufriedenheit seines Chefs. Im Gespräch zieht Projer eine Zwischenbilanz nach der turbulenten Corona-Startphase und spricht über den permanenten Spagat zwischen Arbeit und Familie.

MEDIENWOCHE:

Als Chefredaktor von «Blick TV» arbeitest du mehrheitlich hinter den Kulissen. Bei SRF standest du anfänglich Tag für Tag, später Woche für Woche, im Rampenlicht. Vermisst du manchmal die grosse Bühne?

Jonas Projer:

Nein. Aber mein Lebensziel war es auch nie, vor der Kamera zu stehen. Ich bin da einfach hineingerutscht. Als ich nach Brüssel kam, ging gerade die Euro-Krise los. Als Korrespondent stand ich plötzlich jeden Tag vor der Kamera. Nur darum kam bei SRF die Idee auf, ich solle doch eine Sendung moderieren. Aber es stimmt schon, bei «Blick TV» stehe ich deutlich weniger im Rampenlicht.



MEDIENWOCHE:

In seiner Grundstruktur wirkt «Blick TV» sehr konventionell: Fernsehen, wie man es seit Jahrzehnten kennt. Warum kommt ein neues Projekt so altbacken daher?

Projer:

Grundsätzlich ist das Fernsehen erfunden. Aber wir machen doch vieles anders. Wir produzieren sehr viel schlanker. Für vieles braucht es nicht viel mehr als ein Handy. Wir sind zudem voll integriert in den Online- und Print-Newsroom der «Blick»-Gruppe. Und auch formal ist einiges anders: So beginnen wir die Beiträge nicht mit dem Moderator, sondern mit der besten Szene, mit der besten Aussage. So können wir die Live-Sendung nach der Ausstrahlung einfacher in Stücke schneiden, um sie in Form von On-Demand-Videos auf der Webseite einzubetten, jedes Video auf dem passenden Artikel.

MEDIENWOCHE:

Wer ist das Zielpublikum von «Blick TV»? Gibt es eine idealtypische Zuschauerin?

Projer:

Wir haben vor dem Start lange darüber diskutiert. Als reichweitenstarkes Medium erreicht «Blick» eine sehr grosse Breite von Nutzerinnen und Nutzern, die nun auch «Blick TV» schauen können. Darum wäre es wenig zielführend, einen typischen Zuschauer definieren zu wollen.

MEDIENWOCHE:

Wenn man es allen recht machen will, läuft das doch auf einen unbefriedigenden Kompromiss hinaus.

Projer:

Überhaupt nicht. Wir probieren vieles aus und schauen, was beim Publikum funktioniert. Und wenn es nicht funktioniert, machen wir morgen wieder etwas anderes. Wir haben in den vier Monaten seit dem Start schon den halben Sender auf den Kopf gestellt. Beispielsweise realisieren wir jetzt mehr Schwerpunktsendungen, weil wir gemerkt haben, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer längere Sendungen mögen. Wenn sie dran sind, bleiben sie dran.

MEDIENWOCHE:

Gemäss einer Vorgabe von Ringier-CEO Marc Walder muss «Blick TV» mit relevanten News innert 3 Minuten auf Sendung sein. Wie häufig gibt es solche «Feuerwehrübungen»?

Projer:

Das kam in den letzten Monaten natürlich sehr regelmässig vor wegen Corona. Und jetzt müssen wir es unter normalen Bedingungen nochmals neu entwickeln. Der Punkt ist: Innert drei Minuten auf Sendung zu gehen, das können wir. Aber wie generieren wir neuen Content, während wir bereits live sind? Sobald wir jemanden vor Ort haben, können wir zwischen dem Reporter und einem Experten im Newsroom hin- und herschalten. Wir versuchen dieses Setup so oft wie möglich umzusetzen.

«Im klassischen Fernsehen gibt es gelernte Sendeplätze. Bei ‹Blick TV› ist die Pushmeldung der neue Einschaltimpuls.»

MEDIENWOCHE:

Ist die Geschwindigkeit wirklich matchentscheidend?

Projer:

Ich denke schon. Eine Erkenntnis aus den ersten vier Monaten «Blick TV» ist, dass die «Blick»-Pushmeldung der neue Einschaltimpuls ist. Im klassischen Fernsehen gibt es gelernte Sendeplätze. Die Leute wissen, wann sie einschalten müssen, um eine bestimmte Sendung zu sehen. Bei uns hat diese Funktion der Push: Wenn wir live gehen, schickt das Digital-Team gleichzeitig eine Push-Meldung raus. Dann wissen die Leute, jetzt kommt die Sendung zu einem bestimmten Thema. Und das Digital-Team hat natürlich keine Lust, mit dem Push zu einem bestimmten Thema zu warten – schliesslich schläft die Konkurrenz nicht. Deshalb ist der Zeitdruck auch fürs TV ziemlich hoch.

MEDIENWOCHE:

Ein wichtiger Bestandteil eures Programms sind Gespräche mit Studiogästen. Vor dem Start äusserten sich Politikerinnen und Politiker positiv zu «Blick TV», weil sie eine zusätzliche Plattform für ihre Auftritte kriegen. Müsst ihr nur mit dem Finger schnippen und die Leute kommen?

Projer:

Tatsächlich freuen wir uns über sehr grosses Interesse aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Aber das ist für den «Blick» ja nichts Neues. Vom Bank-CEO bis zur Bundesrätin sieht man im Blick-Newsroom alle Entscheidungsträger. Und dazu trägt jetzt neu sicher auch TV noch etwas bei, dass wir für Gesprächsrunden oft hochkarätige Gäste begrüssen dürfen.

MEDIENWOCHE:

Und da es oft schnell gehen muss, habt ihr nur Leute aus Zürich auf dem Sender?

Projer:

Uns ist es ein Anliegen, dass wir auch Leute aus anderen Regionen berücksichtigen. Zum Glück haben wir im Bundeshaus eine starke «Blick»-Redaktion, die Gegensteuer gibt. Und auch über Skype können wir selbst in Breaking-News-Situationen alle Regionen berücksichtigen.

«Wir alle mögen uns an eindrückliche Live-TV-Momente erinnern, und das funktioniert auch heute noch.»

MEDIENWOCHE:

Was ist eigentlich der Nutzen eines Live-Programms?

Projer:

Live-Fernsehen weckte schon immer das Publikumsinteresse. Wenn 15’000 Leute auf die Strasse gehen wie aktuell wegen Black Lives Matter, obwohl die Demo verboten wäre, dann willst Du das dann sehen, während es passiert. Und nicht in einem Ticker alle paar Minuten einen Satz lesen. Wir alle mögen uns an eindrückliche Live-TV-Momente erinnern, und das funktioniert auch heute noch. Die grosse Herausforderung ist dann vielmehr, auch die Zeit zwischen den Live-Momenten vollzukriegen.

MEDIENWOCHE:

Wenn live so wichtig ist, wird es auf «Blick TV» irgendwann Live-Sport geben?

Projer:

Das musst du unseren CEO Marc Walder fragen. Was ich sagen kann: Sport ist von grösster Wichtigkeit für den «Blick» überhaupt und für «Blick TV» im Speziellen. Darum freue ich mich sehr, dass Steffi Buchli als Sportchefin zur «Blick»-Gruppe kommt. Sie bringt zusätzliche Sport- und zusätzliche Sport-TV-Kompetenz mit. Das ist auch für «Blick TV» eine Riesenchance.

«Wenn Du ein neues Medienprojekt lancierst, dann ist Corona natürlich eine Katastrophe.»

MEDIENWOCHE:

Die ersten Monate von «Blick TV» waren geprägt von Corona. Was überwiegt stärker: Die Freude am grossen Publikumsinteresse oder der Frust über die Werbeflaute?

Projer:

Wenn Du ein neues Medienprojekt lancierst, dann ist Corona natürlich eine Katastrophe. Da kann man sich noch lange freuen, dass Leute zuschauen, wenn der gesamte Werbemarkt, ja wenn die gesamte Wirtschaft, einfach steil nach unten geht. Wir hoffen alle, dass sich nun auch der Werbemarkt rasch wieder erholt.

MEDIENWOCHE:

Aber auch unabhängig von Corona ist das Werbegeschäft härter geworden. Wie wollt ihr euch behaupten und eure 50 Stellen nachhaltig mit Werbung finanzieren?

Projer:

Indem wir neben klassischer Werbung stark auf Kooperationen setzen. Wir bieten Kunden ein attraktives Umfeld und gleichzeitig dem Nutzer guten Content. Solche Formate zu Themen, die den Kunden interessieren, scheinen mir persönlich attraktiver zu sein als die klassische Publireportage.

MEDIENWOCHE:

Wie sehen solche Kooperationen dann aus auf dem Sender?

Projer:

Wir haben zum Beispiel ein Digital-Magazin, in welchem wir Tipps geben zu Fragen des digitalen Alltags – etwa, wie man ein Passwort sicher wählt. Dieses Format wird ermöglicht durch PostFinance. Wir werden bald eine grosse Spielshow im Programm haben in Zusammenarbeit mit einem Versandunternehmen. Corona hat natürlich auch diese Formate erschwert, aber es zieht bereits wieder an. Und die ersten Kunden, die wir haben, sind sehr zufrieden.

«Dass unser Team diese Abläufe ab Tag eins praktisch fehlerfrei hinbekommen hat, darauf sind wir schon stolz.»

MEDIENWOCHE:

Ringier-CEO Marc Walder zeigte sich jüngst mit der Entwicklung von «Blick TV» zufrieden. Wie sieht es bei dir aus?

Projer:

Wir produzieren mit weniger Mittel denn je einen ganzen Sender – so schlank, wie noch nie in der Schweiz Fernsehen gemacht wurde. Wir haben keine Satellitenwagen, sondern Reporter mit einem kleinen Rucksack. Wir haben im Studio keine Kameraleute, keinen Bildmischer, keinen Tonmeister, sondern nur einen einzigen Regisseur, der den ganzen technischen Ablauf des Senders schmeisst. Fast alles ist automatisiert. Dass unser Team diese Abläufe ab Tag eins praktisch fehlerfrei hinbekommen hat, darauf sind wir schon stolz. Auch wenn wir an Vielem, auch am Inhalt, noch weiter arbeiten.

MEDIENWOCHE:

«Blick TV» hat drei Jahre Zeit, um auf eigenen Beinen zu stehen. Ist das viel oder wenig?

Projer:

Drei Jahre sind eine super Frist. Das ist doch ein unglaubliches Zeichen von Vertrauen. Das spüren wir täglich. Ringier-CEO Marc Walder sowie das gesamte Unternehmen stehen hinter uns. Dieses Vertrauen ist letztlich auch der Grund, warum wir den Job überhaupt machen dürfen.

MEDIENWOCHE:

Wie stark bist du als Chefredaktor im Tagesgeschäft präsent? Lässt du die Leute an der langen Leine oder kontrollierst du jeden Beitrag?

Projer:

Definitiv die lange Leine. Erstens, weil die Leute vieles schlicht besser können als ich. Zweitens wegen meiner ganz persönlichen Erfahrung bei der «Arena». Bei der «Arena» war ich ja gleichzeitig Redaktionsleiter und Moderator. Als Chef gab ich die grossen Linien vor – und als Moderator bestimmte ich am Schluss die letzten Details in der Ausführung. Fürs Team war das nicht immer einfach, es hatte viel zu wenig Bewegungsspielraum. Darum habe ich mir persönlich das Ziel gesetzt, das in meinem nächsten Job anders zu machen. Nun fühlt es sich richtig an.

«Wir haben keinen Masterplan, sondern machen einen Schritt nach dem anderen.»

MEDIENWOCHE:

In welche Richtung soll sich «Blick TV» längerfristig weiterentwickeln?

Projer:

Wir haben keinen Masterplan, sondern machen einen Schritt nach dem anderen. Natürlich haben wir ein Ziel vor Augen: Wir wollen möglichst attraktiv und einfach zugänglich News, Sport und Unterhaltung im Bewegtbild anbieten, sowohl live wie auch on-demand. Um dorthin zu kommen, packen wir einfach eine Herausforderung nach der nächsten an. Aktuell arbeiten wir an unserem Player: Wir möchten, dass man «Blick TV» auch parallel zu anderen Aktivitäten schauen kann.

MEDIENWOCHE:

Wird man «Blick TV» auch irgendwann am «richtigen» Fernsehen schauen können, etwa auf Swisscom TV oder UPC TV?

Projer:

Das ist sehr gut möglich, aber im Moment konzentrieren wir uns voll auf das Smartphone. Wer drei Minuten Zeit hat, im Bus sitzt, kann «Blick TV» schauen. Darum sind wir neu auch im Pendlerverkehr präsent. Seit Kurzem werden kleine Ausschnitte unseres Programms in den Regionalbussen gespielt, auf den Bildschirmen von Livesystems. Wir zeigen dort mehrmals pro Tag aktuelle News, 15 Sekunden, ohne Ton. Als Einstiegspunkt in unser Programm scheint mir das attraktiv: Du sitzt im Bus, langweilst Dich, siehst aktuelle News von «Blick TV» am Bildschirm. Die Chance ist gross, dass Du dann Dein Handy nimmst und auf «Blick TV» weiterschaust.

MEDIENWOCHE:

Du hast lange bei SRF gearbeitet. Seit einem Jahr bist du bei Ringier. Wie unterscheidet sich die Unternehmenskultur der beiden Medienunternehmen? Was ist dir als erstes aufgefallen?

Projer:

Die beiden Unternehmen sind unterschiedlich, beide haben ihre Stärken. Weiter möchte ich mich hier nicht äussern, denn das wäre ja zum Nachteil des einen oder anderen.

MEDIENWOCHE:

Aber man vergleicht doch automatisch. Zum Beispiel das Essen in der Kantine.

Projer:

Okay, die Kantine an der Dufourstrasse ist wirklich sensationell. Da wird mit extrem viel Liebe jeden Tag gekocht, so dass man sich in einem erstklassigen Restaurant wähnt. Und während der Corona-Zeit war’s noch besser. Wir waren trotz Lockdown ein paar Leute im Büro. Da hat die Kantine für uns fünf oder zehn Nasen gekocht, und sie haben uns jeden Wunsch erfüllt.

«Mir fallen auch mal Bälle bei der Arbeit zu Boden, weil ich halt nach Hause gegangen bin für die Gutenachtgeschichte.»

MEDIENWOCHE:

Du bist Vater von fünf Kindern, die du zusammen mit deiner berufstätigen Frau grossziehst. Gleichzeitig arbeitest du als Chef eines arbeitsintensiven Start-ups. Das kann eigentlich nicht aufgehen.

Projer:

Natürlich geht es nicht auf. Das können dir alle berufstätigen Eltern bestätigen. Wenn du das Glück hast, eine Familie zu haben, und das Glück, einen fordernden und begeisternden Job, dann lebst du in einem ständigen Spagat zwischen Arbeit und Familie.

MEDIENWOCHE:

Kommt auch das Geschäft zu kurz oder nur die Familie?

Projer:

Beides kommt vor. Natürlich habe ich oft das Gefühl, zu wenig zu Hause zu sein, weil die Arbeitstage oft lang sind. Aber es gibt auch das andere: Mir fallen auch mal Bälle bei der Arbeit zu Boden, weil ich halt nach Hause gegangen bin für die Gutenachtgeschichte. Dieses Hin- und Hergerissensein, das ist eine Realität.

MEDIENWOCHE:

Du bist noch keine 40, hast also die längere Zeit deines Berufslebens noch vor dir. Heisst das auch: Einmal Medien, immer Medien?

Projer:

Ich habe meine Karriere noch nie geplant. Ich merkte einfach immer, wenn sich eine Chance bot, die ich packen musste. Man muss nicht an Gott glauben um zu erkennen, dass man sein Leben nur sehr eingeschränkt planen kann. Beruflich und privat. Irgendeiner schenkt Dir sein Vertrauen, und dann sagst du ja oder nein. Klar ist, dass mich beruflich sehr vieles interessiert. Ich fand nie, es müsse exakt in diese oder jene Richtung gehen. Und darum mache ich vielleicht irgendwann mal auch etwas ganz anderes.

Das ist eine gekürzte und für eine bessere Leserlichkeit bearbeitete Abschrift des KOM-Talks der Bernischen PR-Gesellschaft BPRG. Nick Lüthi sprach am Mittwoch, 17. Juni mit Jonas Projer.

Bild: Ringier/Bearbeitung: Marco Leisi

Leserbeiträge

Peter Eberhard 24. Juni 2020, 09:58

„Ringier-CEO Marc Walder steht hinter uns“. Hmm – das kann man natürlich unterschiedlich interpretieren…

Ueli Custer 24. Juni 2020, 10:16

TV im Internet ist nicht lineares TV. Wenn man im Internet von Geschwindigkeit redet, muss der Nutzer den neusten Beitrag sofort ansehen können. Er will nicht warten bis dann vielleicht irgendeinmal eine Aktualität kommt. Es wäre doch ganz einfach, wenn man nach dem Aufstarten ein Menü sehen könnte aus dem man die aktuellsten Beiträge direkt anwählen könnte. Ich begreife nicht, dass Leute, die ja etwas von Medien verstehen, da nicht drauf kommen. Ich möchte doch nicht, wie jetzt gerade, eine langfädige Medienkonferenz anschauen müssen um dann vielleicht per Zufall auch noch interessante Erkenntnisse mitzubekommen. Genau dafür gibt es eine Redaktion, die sich das ansieht und dann das wichtige herauspickt und für das Publikum aufbereitet. Die Übertragung von Medienkonferenzen ist das Gegenteil von schnell. Schnell ist, wenn ich in wenigen Minuten über das Wichtigste informiert bin.

Pius Bürki 24. Juni 2020, 12:10

Blick TV hat zu wenig Zuschauer, macht deshalb zu wenig Reichweite und deshalb nie den geplanten Umsatz und Projer ist so ziemlich der unbeliebteste Mitarbeiter im Laden – es stand sogar schon andeutungsweise so in der Presse. Das hier ist ein Gefälligkeitsinterview der Extraklasse.