von Nick Lüthi

«Blick» und «Watson» pfeifen auf Westschweizer GAV-Tradition

Seit über 50 Jahren regelt ein Gesamtarbeitsvertrag GAV die Sozialpartnerschaft in den Westschweizer Medien. «Watson» und «Blick» sehen keinen Anlass, mit ihren neuen Ablegern in der Romandie den GAV zu unterzeichnen. Branchenorganisationen kritisieren das Verhalten, hoffen aber, dass sich die Neulinge doch noch anders besinnen werden.

In der Deutschschweiz gibt es seit bald 17 Jahren keinen Gesamtarbeitsvertrag mehr für die Medienbranche. Im Sommer 2004 kündigte der Verlegerverband den Presse-GAV. Seither herrscht ein vertragsloser Zustand. Nach Jahren des Stillstands kam 2017 zwar wieder etwas Bewegung in die Sache. Verleger und Verbände setzten sich an den Verhandlungstisch. Aber ein neuer Vertrag ist bis heute nicht unterzeichnet. Zentraler Streitpunkt bleiben die verbindlichen Bestimmungen über die Lohnhöhe.

Anders in der Westschweiz. Seit den 1960er-Jahren existiert dort ein GAV für die Medienbranche. Durch alle Turbulenzen hindurch, die den Markt auch in der Romandie durchschüttelten, blieb das Vertragswerk erhalten. Neben kleinen und mittelgrossen Verlagen tragen auch die Tamedia-Tageszeitungen und die Titel der französischen ESH Médias das Vertragswerk mit. «Der Gesamtarbeitsvertrag schafft ein Klima des Vertrauens und des Respekts gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern», sagt Dominique Diserens, Zentralsekretärin des Journalistenverbands impressum.

Doch es gibt auch prominente Abwesende. So sind die Medien von Ringier Axel Springer Romandie nicht mehr Teil des GAV, weil sie 2015 den Westschweizer Verlegerverband verlassen haben. Sie taten dies im Zuge des Streits zwischen Ringier und Tamedia um die Werbevermarkterin Admeira; ein Konflikt, der sich in Zürich abspielte. «Wir haben immer ausgezeichnete Beziehungen zu Ringier Romandie unterhalten», erklärt Daniel Hammer, Geschäftsführer vom Verlegerverband Médias Suisse. «Deshalb bedauern wir es heute noch, dass wir in gewisser Weise ein Kollateralopfer eines Zürcher Streits wurden.»

Dass Ringier, respektive Ringier Axel Springer, nicht mehr Mitglied der Verlegerverbände in Deutsch- und Westschweiz ist, nennt das Unternehmen jetzt auch als Grund dafür, warum man mit «Blick» Romandie den GAV nicht unterzeichnen werde. Das neue Angebot startet am 1. Juni 2021. Gleichzeitig betont eine Ringier-Sprecherin auf Anfrage, die Arbeitsbedingungen seien «in vielerlei Hinsicht mindestens so gut, wie die im GAV festgelegten». Mit der Gewährung eines vierwöchigen Vaterschaftsurlaubs gehe Ringier gar über das Branchenübliche hinaus.

Mit dem Verweis auf die eigenen, besseren Leistungen, begründet auch Michael Wanner, warum «Watson» in der Westschweiz den GAV nicht unterzeichnen werde.

«Wir haben gerade 20 redaktionelle Stellen geschaffen, das sollte auch für die Gewerkschaften mehr wert sein als jeder GAV», teilt der «Watson»-Geschäftsführer Wanner auf Anfrage mit. Seit 1. März 2021 erscheint die News- und Unterhaltungsplattform auch in französischer Sprache.

Nur: Es sind nicht «die Gewerkschaften» die den GAV hochhalten, sondern Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen gleichermassen. Getragen wird der Westschweizer GAV vom Journalistenverband Impressum (der sich explizit nicht als Gewerkschaft verstanden wissen will) und dem regionalen Verlegerverband Médias Suisse. Dessen Geschäftsführer Daniel Hammer zeigt sich enttäuscht ob des Verhaltens von «Blick» und «Watson»: «Ihre Weigerung, den GAV zu unterzeichnen, setzt das Vertragswerk in der Westschweiz unnötig unter Druck, besonders in der heutigen wirtschaftlichen Lage.» Es ist die Befürchtung, die Neulinge könnten als Spaltpilz wirken und andere Verlage animieren, aus dem Vertrag auszusteigen. Wie die Deutschschweiz zeigt, ist ein GAV für die Medienbranche alles andere als selbstverständlich.

Daniel Hammer ist überzeugt: «Blick» und «Watson» könnten die Bedingungen des GAVs problemlos einhalten. «Deshalb wird unsere Tür weiterhin offen bleiben.» Auch mit Blick auf die übermächtige Konkurrenz durch die Giganten aus dem Silicon Valley sei es wichtig, dass die Branche geeint auftrete – und dazu gehöre auch eine geregelte Sozialpartnerschaft.