von Nick Lüthi

Sauber auf dem Boulevard: Anstandsregeln für den «Blick»

Die Redaktionen der «Blick»-Gruppe wollen dank News-Richtlinien einen sauberen Journalismus pflegen, der keine imageschädigenden und kostspieligen Klagen mehr nach sich zieht. Die neuen Regeln sind zwar umfassend, weisen aber an entscheidenden Stellen Lücken auf.

Was gestern noch gang und gäbe war, geht jetzt gar nicht mehr. Seit dem 17. Mai 2021 gelten für die Redaktionen der «Blick»-Gruppe neue Spielregeln. «Wir vollziehen einen Paradigmenwechsel in der Crime-Berichterstattung», steht an prominenter Stelle in den News-Richtlinien, die alle Mitarbeitenden der «Blick»-Gruppe erhalten haben und die fortan «immer und für alle» gelten sollen.

Das neue Regelwerk betrifft in erster Linie die Crime-Berichterstattung, die das Image des Boulevardjournalismus traditionellerweise stark prägt. «Der Diener ist nicht der Mörder», stand auf der ersten «Blick»-Ausgabe 1959. Die neuen Regeln bedeuten – vorerst auf dem Papier – ein Abschied vom klassischen Boulevard, der sich meist hart an der Grenze von Gesetz und gutem Geschmack bewegt – und bisweilen auch jenseits davon.

Damit soll nun definitiv Schluss sein. Das jüngst ergangene Urteil gegen «Blick» und Ringier wegen Verletzung der Intimsphäre von Kindern, sowie allfällige weitere Verurteilungen in noch hängigen Verfahren, wären demnach die letzten ihrer Art. Schliesslich geniesst nun der Schutz der Opfer «höchste Priorität». In Bezug auf Opferschutz und Identifikation von Protagonisten verfolge man eine «No Risk Policy».

Dass sich die «Blick»-Gruppe ausgerechnet jetzt neue Regeln für die Crime-Berichterstattung gibt, kommt nicht von ungefähr.

Hintergrund ist die Neupositionierung der Medienmarke; ein Prozess, der vor vier Jahren mit der neuen Chefredaktion der «Blick»-Gruppe unter Christian Dorer seinen Anfang nahm. Nicht nur Crime, auch Sex als zweites traditionelles Boulevard-Element verliert seither an Bedeutung. Mit dem Stellenantritt Dorers verschwand der «Star des Tages» (vormals Seite-3-Girl) und dieser Tage gab Ringier bekannt, dass die Sex-Ratgeber-Kolumne im kommenden Sommer nach 40 Jahren eingestellt wird.

Auch äusserlich hat sich was getan. Seit Anfang April erscheint der «Blick» mit einem neuen Logo und einem neuen grafischen Erscheinungsbild. Zur neuen Markenidentität gehört der Slogan «Ich bin dabei» und die vier Werte «klar, mutig, wegweisend, nah». Dieser Schritt erfolgte nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Expansion in die Romandie, wo «Blick» ab Juni 2021 unter seinem deutschsprachigen Namen Fuss fassen will.

Die Berichterstattung sei in den letzten Jahren «thematisch viel breiter» geworden, «dazu relevanter und seriöser», lautet die Selbsteinschätzung.

Und die Zahlen geben der Zeitung recht. Noch nie hatte die «Blick»-Gruppe mit ihren gedruckten Zeitungen und inzwischen vor allem den digitalen Plattformen so viele Leserinnen und Leser wie heute. Am deutlichsten zeigt sich der Wandel beim Sonntagsblick. Unter Chefredaktor Gieri Cavelty bewegte sich das Blatt in den letzten vier Jahren weg vom klassischen Sonntagsboulevard mit Primeurs und People und positioniert sich stärker mit hintergründiger und politischer Publizistik.

Den eingeschlagenen Weg in einem anspruchsvollen Medienmarkt will Ringier nicht durch einzelne Fehlgriffe und Misstritte gefährden. «Wir sind uns bewusst, dass ein einzelner Fehlschlag die Marke Blick nachhaltig beschädigen kann», steht in den neuen News-Richtlinien. Darum sei «Brand safety», also die Sicherheit der Marke, «immer höher zu gewichten als jede Geschichte.»

Solche Geschichten, die die Marke beschädigten (und den Verlag viel Geld kosteten), gab es in der Vergangenheit immer wieder. Am bekanntesten sind die erfolgreichen Klagen von Thomas Borer, Patty Schnyder oder Carl Hirschmann. Über die Klage von Jolanda Spiess-Hegglin auf Herausgabe des Gewinns, den Ringier mit potenziell persönlichkeitsverletzender Berichterstattung über die Zuger Ex-Politikerin erzielt hat, muss erst noch ein Gericht entscheiden. Bei einem anderen Verfahren, wo gerichtlich festgestellt wurde, dass der «Blick» mit der Nennung ihres Namens die Intimsphäre Spiess-Hegglins verletzt hatte, entschuldigte sich Ringier-CEO Marc Walder öffentlich mit den Worten:

«Es war, ist und wird nie unsere Absicht sein, mit unserer Berichterstattung Leid zu verursachen.»

Mit den neuen News-Richtlinien versuchen die «Blick»-Redaktionen diesem Gebot ihres obersten Chefs im Redaktionsalltag nachzukommen.

Erarbeitet hat das Regelwerk Sandro Inguscio, der dieser Tage vom Nachrichtenchef zum Chefredaktor von «Blick.ch» und «Blick TV» befördert wurde. Die Autorschaft Inguscios überrascht insofern, als dass er in der Vergangenheit nicht unbedingt für seine Zimperlichkeit bekannt war. Immer wieder spannte er mit dem für seine Skrupellosigkeit berüchtigten Reporter Ralph Donghi zusammen. Erstmals vor elf Jahren, zuletzt Mitte April, als sie nach einem Drogenfund im Aargau einen Verdächtigen ausfindig machten.

Die Frage, welche seiner früheren Artikel er heute nicht mehr veröffentlichen könnte aufgrund der von ihm selbst formulierten Richtlinien, mag Sandro Inguscio nur summarisch beantworten: «Ich würde jede Geschichte, die den heutigen News-Richtlinien nicht mehr entspricht, heute auch nicht mehr so machen.» Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sähe anders aus. Früher hätten halt andere Regeln gegolten, so Inguscio. Nun sei der «Blick nach vorne gerichtet und ich werde meine Arbeit an den jetzigen Herausforderungen orientieren, entlang der neuen News-Richtlinien.»

Auch wenn die Crime-Berichterstattung nun unter veränderten Vorzeichen stattfindet, macht das die Vergangenheit nicht ungeschehen.

Schliesslich kann man das Dokument auch als eine Art Schuldeingeständnis lesen: Bisher galt es offenbar nicht als verwerflich, wenn «Blick»-Mitarbeitende Protagonisten bedrängten, Auskunftspersonen materielle Anreize boten, Jugendliche und Kinder unter 16 Jahren kontaktierten oder Bilder von minderjährigen Opfern zeigten. Eine lange Liste von Gerichtsentscheiden und Presseratsrügen bestätigt die bisherige Praxis.

Abgeschlossene oder hängige Verfahren hätten aber keine Rolle gespielt, diese Regeln zu erlassen, heisst es bei Ringier. Auch werde die alte «Blick»-DNA nicht gekappt, kommentierten Ladina Heimgartner und Christian Dorer, die CEO und der Chefredaktor der «Blick»-Gruppe: «Crime bleibt ein wichtiger Pfeiler und eine Kernkompetenz.» Es gehe lediglich darum, einen fairen und verantwortungsbewussten Umgang mit allen Beteiligten und insbesondere mit den Opfern zu gewährleisten, so die beiden Ringier-Kader weiter. «Es ist weder Schubumkehr noch Hexerei. Es geht einzig darum, dass wir in jeder Situation journalistisch korrekt arbeiten.»

Ein erstes Anschauungsbeispiel, wie sich die Berichterstattung mit den neuen Richtlinien verändern könnte, lieferte ein Ereignis von letzter Woche. Am Zürichberg entzog sich ein Mann der bevorstehenden Zwangsräumung, indem er das Haus in Brand steckte und sich später selbst richtete.

Früher wäre das ein gefundenes Fressen für den «Blick» gewesen. Tagelang hätten sich mit dem tragischen Schicksal Zeitungs- und Webseiten füllen lassen.

Doch jetzt blieb «Blick» auffällig nüchtern, nannte weder die Initialen noch den Beruf des Mannes. Andere Medien von «20 Minuten» bis «Weltwoche» taten das ausgiebig.

Die nächste Probe aufs Exempel konnte man mit dem Seilbahnabsturz von Stresa machen, wo 14 Menschen den Tod fanden und nur ein Bub überlebt hat. Wie geht der «Blick» mit dem minderjährigen Opfer um? In den neuen News-Richtlinien steht in der Rubrik «Fotos/Videos»: «Opfer zeigen wir nur, wenn sie volljährig sind, und immer gepixelt.» «Blick.ch» und «Blick TV» zeigen mehrere gepixelte Bilder des einzigen Überlebenden des Unfalls. Ein Einverständnis der Erziehungsberechtigten, wie ein anderer Punkt der Richtlinien fordert, konnte die Redaktion nicht einholen – beide Eltern sind tot.

Ringier hält das gewählte Vorgehen mit den Richtlinien für kompatibel. Anstelle des angefragten Sandro Inguscio antwortet Mediensprecherin Johanna Walser. Sie legt das Dokument wie folgt aus: «Wir zeigen das Bild des Buben nicht. Ein ‹Bild zeigen› bedeutet: einen Menschen kenntlich machen. Unser Bild ist völlig verpixelt und zwar deutlich stärker als in anderen Medien. Wir schützen die Persönlichkeit des Buben und der Eltern in höchstem Mass.»

Auf das Kriterium der Volljährigkeit geht Walser indes nicht ein. Ausserdem zeigt Blick auch ein unverpixeltes Bild, wo man den Fünfjährigen in der Kabine von hinten neben seinem Urgrossvater stehen sieht, Minuten bevor der Unfall geschieht. Das Foto stammt von Facebook, wo es die Eltern des Jungen gepostet haben.

Gemäss den neuen «Blick»-News-Richtlinien dürfen Bilder von Social Media benutzt werden, «wenn diese öffentlich und für alle einsehbar sind».

Doch es gibt auch eine Privatsphäre in der digitalen Öffentlichkeit. Etwa dann, wenn ein Bild erkennbar für eine private Nutzung vorgesehen war und erst durch ein unvorhersehbares Ereignis das öffentliche Interesse weckt. Ringier lässt das nicht gelten: «Personen, die auf Facebook ihre Profile öffentlich halten, machen sie damit bewusst für 2,7 Milliarden Facebook-Mitglieder zugänglich.»

In manchen Punkten, wie etwa zur Frage der Verwendung von Bildmaterial aus dem Internet, bleiben die News-Richtlinien unscharf, ja, sie ermuntern nachgerade zu problematischem Verhalten. Andere heikle Aspekte kommen gar nicht erst vor, so der Umgang mit Quellen, die Anhörung bei schweren Vorwürfen, oder die Wahrheitspflicht. Wenn diese Punkte schon nicht aufgeführt werden, dann hätte immerhin ein Verweis auf den Pressekodex diese Lücke schliessen können. Das sei darum nicht nötig, weil man sich ja sowieso an diese Regeln halte, wendet ein Redaktor aus der «Blick»-Gruppe ein.

Regeln und Richtlinien sind nur so gut, wie sie akzeptiert und befolgt werden. Dass das mit den News-Richtlinien geschieht, davon gehen die Verantwortlichen aus: «Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Richtlinien nicht eingehalten werden», heisst es aus der Chefetage der «Blick»-Gruppe. Wenn das trotzdem mal nicht der Fall sein sollte, würden «die Gründe eruiert und Lehren gezogen». Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzten es, dass sie jetzt «in jeder Situation genau wissen, was zu tun und was zu lassen ist». Das gelte auch für jene Reporter, die bisher Methoden angewendet haben, die gemäss den neuen Richtlinien verpönt sind, versichern Christian Dorer und Ladina Heimgartner auf Anfrage.

Die neuen Regeln sind ein Puzzleteil in einem ganzen Gefüge an Massnahmen zur publizistischen Neupositionierung der «Blick»-Gruppe.

Auch wenn die Verantwortlichen stärker die Kontinuität als den Wandel betonen, markiert das Dokument dennoch eine Zäsur in der Geschichte der ältesten Boulevardzeitung der Schweiz. Die Wirkung wird sich einfach messen lassen an der künftigen Zahl von Presseratsrügen und Gerichtsentscheiden wegen Persönlichkeitsverletzung und anderen Mediendelikten.

Update: In einer ersten Version des Artikels stand geschrieben, Sandro Inguscio habe Mitte April bei einer gemeinsamen Recherche mit Ralph Donghi, Vorname und das Initial des Nachnamens eines Verdächtigen genannt. Das stimmt nicht. Der Name des Drogendealers wurde abgeändert und dies unten am Artikel vermerkt. Wir bitten um Entschuldigung für die unzutreffende Unterstellung unethischen Verhaltens.

Leserbeiträge

REaliste 28. Mai 2021, 12:05

Und was will Donghi künftig machen?

Nick Lüthi 28. Mai 2021, 14:19

Spannende Frage. Ich habe dazu noch einen Abschnitt ergänzt:

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzten es, dass sie jetzt «in jeder Situation genau wissen, was zu tun und was zu lassen ist». Das gelte auch für jene Reporter, die bisher Methoden angewendet haben, die gemäss den neuen Richtlinien verpönt sind, versichern Christian Dorer und Ladina Heimgartner auf Anfrage.

Karl Lüönd 29. Mai 2021, 08:27

Lieber Nick Lüthi

Dein Beitrag kommt mir ein bisschen zu schulmeisterlich daher. Erstens kann und soll der Blick seine «Brand identity» nicht verleugnen. Nur hat er in den letzten zwanzig, dreissig Jahren zuschauen müssen, wie immer mehr «seriöse» Blätter «blickiger» geworden sind. Ein schönes Beispiel dafür war gerade diese Woche zu beobachten. Die seit Wochen mit Abstand knackigste  Boulevardgeschichte – die Hintergründe um den Arzt, der am Zürichberg seine Villa und sich selbst vernichtet hat – stand am gleichen Tag, an dem Du Deine Moralpredigt veröffentlicht hast, im Tages-Anzeiger.

Zweitens: Redaktionelle Entscheide müssen innert kürzester Zeit gefällt werden. Monate hinterher – mit dem inzwischen angesammelten Wissen im Gepäck – zu urteilen, ist einfacher, als im täglichen Zeitdruck das Richtige zu tun.

Drittens: Marc Walder und Christian Dorer haben öffentlich den Kurs des Blick korrigiert und frühere Fehler nicht unter den Teppich gekehrt. Sie haben sich verbindlich auf neue Richtlinien verpflichtet und werden daran gemessen werden. Diese Offenheit war bis jetzt in der Branche nicht üblich. Man wartet gespannt auf Nachahmer. (P.S. Was läuft eigentlich jetzt weiter mit dem Protest der Tamedia-Frauen in Sachen Sexismus? Wird wenigstens die Medienwoche verhindern, dass dieses Dossier nach den ersten hinhaltenden Kommentaren und Versprechungen des Oberchefredaktors und seines Verlegers eingeschläfert wird?)

Viertens: Den Fall Spiess-Hegglin kann man meinetwegen  schon als Medienopfer-Geschichte darstellen. Aber als unbeteiligter Aussenstehender frage ich auch: Ist diese endlose Geschichte nicht (auch) der Grossversuch, die Deutungshoheit über ein Geschehen durchzusetzen, an dem man selbst beteiligte Partei war? Warum sonst wurde der brillanten und unbescholtenen Kollegin Michèle Binswanger schon auf Vorrat verboten, ein Buch über den Fall zu schreiben?

Victor Brunner 08. Juni 2021, 17:11

Lüönd hat recht, JSH will die Deutungshohheit über die Causa Landammannfeier nicht verlieren. Kritisches Nachfragen duldet siee nicht, was hat sie zu verbergen?

Jolanda Spiess-Hegglin 05. Juni 2021, 10:49

Hoi Marc Walder!

Ich habe hier grad gelesen, dass ihr mit «Blick» nun einen Paradigmenwechsel vollzieht. Das finde ich grossartig! Weg vom Bedrängen von Opfern von Gewalttaten hin zum Respektieren der Privat- und Intimsphäre.
«Eine Abkehr vom alten Boulevard, der zu oft voyeuristisch und verletzend gewesen ist», hat sich Hannes Britschgi, euer Chef-Ausbildner, zitieren lassen. Super!

Es ging ja irgendwie nicht mehr weiter so, nicht? Ich meine, in einer emanzipierten Gesellschaft haben eure Blut-Busen-Büsi-Geschichten kein Fundament mehr. Das habt ihr, glaube ich, selbst gemerkt. Wirklich gut. Man kann nicht in einer neuen und lila-aufgemachten Berichterstattungsreihe Opfern sexueller Gewalt eine wichtige Stimme geben, am nationalen nationalen Frauenstreik eine Extraausgabe drucken, um dann andere Frauen, willkürlich ausgewählt, medial teeren, federn und vierteilen zu lassen, weil sichs grad gut verkauft. Lange konnte der Blick Ereignisse oder Zitate erfinden oder erschütterte Witwen solange schütteln, bis unten die Fotos der Liebsten herausfielen. Und wenn doch was moralisch schief ging, wurde bis vor Gericht in sündhaft teuren Prozessen einfach abgestritten, überhaupt Fehler gemacht zu haben. Die erstrittenen Genugtuungen habt ihr dann amigs aus dem Porto-Kässeli bezahlt und die Gewinne behalten.

Aber nicht du, Marc! Du stehst zu den Fehlern der Vergangenheit. Auch in meinem Fall. Du hast dich letzten Sommer in einem eigenen Blick-Artikel mit Foto, in welchem du gut gekleidet seitlich in die Kamera schaust, für den ganzen Mist, den ihr über mich geschrieben habt, entschuldigt. Stark! Eben auch, dass du dich für alles entschuldigt hast, für die gesamte Medienkampagne. Man sagt, es sei die sexistischste und frauenverachtendste Hetze der Schweizer Mediengeschichte gewesen. Aber das wisst ihr alten Boulevardgurgeln am Besten. Über 200 konstruierte, persönlichkeitsverletzende, menschenverachtenden Artikel voller Sex– und Männerfantasien über mich, nach allen Regeln der Schmierfinken-Kunst. Sagen wir es so: Es war eine Medienhetze from Hell, gibt ja nichts schönzureden.

«Entschuldigung, Jolanda Spiess-Hegglin!» Grosse Worte für den Blick! So hast du dich zitieren lassen, ich fand das nett, ich mein, so nach all dem. Und, wie du mehrfach betont hast: Du sagtest dies, ganz ohne das sagen zu müssen!
Man habe im Rückblick gemerkt, dass Jolanda Spiess-Hegglin durch die Berichterstattung verletzt worden sei, konnte man da lesen. «Es war, ist und wird nie unsere Absicht sein, mit unserer Berichterstattung Leid zu verursachen.» – Das konnte ich allerdings weniger glauben. So unsensibel kann ja gar niemand sein. Ich vermutete stets, dass notorische Persönlichkeitsverletzungen, also euer jahrzehntelanger USP und das Leid, welches diese Grenzüberschreitungen mit sich bringen, wenn Personen in die öffentliche Arena gezerrt werden, das Businessmodell sind, auf dem dein gesamter Wohlstand und der Wohlstand der Familie Ringier fussen. Ihr nennt das “das ist halt Boulevard-Journalismus”. Ich nenne es ein menschenverachtendes Geschäftsmodell. Aber item, ihr sagt ja jetzt, damit sei es vorbei. Wirklich?

Ich habe noch so meine Zweifel, ob ihr das wirklich ernst meint und euren schönen Worten Taten folgen lasst. Denn hey, lieber Marc, schau, ich hab hier – as we speak – unter einem Stapel Büroarbeit, jedoch noch nicht allzu weit unten, ein aktuelles Gerichts-Dokument gefunden.
Da drin – auf über 70 Seiten und mehrere Monate nach deiner öffentlichen Entschuldigung –  formuliert Ringier in deiner Verantwortung Sätze gegen mich, wie:

«Die Klägerin ist kein Medienopfer, sondern hat sich – bisher recht erfolgreich – als solches inszeniert.»
«Es gab keine Persönlichkeitsverletzung.»
«In den eingeklagten Artikeln ist nichts falsch, nichts diffamierend, nichts verletzend, sondern alles die schlichte, banale, einfache Wahrheit.»
«Die nachhaltige Stigmatisierung der Klägerin ist und bleibt ihre unbegründete Erfindung.»
«Den Gedächtnisverlust erfindet man, um sich nicht an Einzelheiten erinnern zu müssen.»
«Bestritten und irrelevant die Behauptung, die Klägerin habe Morddrohungen und dergleichen erhalten.»
«Die Klägerin hat keinen Reputationsschaden, schon gar keinen massiven.»
«Unrichtig ist der klägerische Gedanke, die Beklagte habe mit diesen Artikeln viel Geld verdient.»
«Die Beklagte hat mit den eingeklagten Artikeln keinen Gewinn erwirtschaftet.»
«Wo es keine Persönlichkeitsverletzung gibt, gibt es auch keine Gewinnherausgabe.»
«M. H. als den «Lover» zu bezeichnen, ist (…) zulässig.»
«Den Ehemann als den «Gehörnten» zu bezeichnen, ist nach Lage der Dinge ebenfalls zulässig.»

Als hätte es die inzwischen rechtsgültige, gerichtliche Verurteilung von Ringier nie gegeben. Das Urteil hätte deutlicher nicht sein können. Wegen “krasser Verletzung” meiner Persönlichkeit. Jetzt geht alles weiter, wie bis anhin. Ihr akzeptiert: Nichts! Denn es geht um die zivilrechtliche Auseinandersetzung. Sprich: Es geht jetzt um das Geld, welches ihr auf dem Buckel der Opfer erzielt. Und das gehört den Opfern, nicht euch. Die widerrechtlich erzielten Erlöse gehören nicht in deine Massanzüge und nicht in die Ringier-Kunstsammlung. Darum geht es.

Ein Sorry kommt dir über die Lippen. Bravo. Aber wenn es darum geht, dass es etwas kosten könnte, da kennst du offenbar kein Pardon. Da macht ihr einfach weiter mit dem Victim Blaming. Mit der Frauenverachtung, dem Sexismus, der Verhöhnung einer Frau, welche den Platz nicht einnehmen will, welchen die Männer mit Macht ihr zugewiesenen haben.

Ihr macht einfach dort weiter, wo ihr euch stark fühlt. Mächtig und potent, zumindest finanziell. Nämlich in den sehr aufwändigen und enorm teuren Zivilverfahren. Da fahrt ihr fort mit Täter-Opfer-Umkehr und maximalem Zynismus.
Diese Zivilverfahren sind als normale Betroffene fast nicht zu stemmen, aber weisst du was, die sind absolut notwendig, damit nicht nur mein  Glaube an Gerechtigkeit und Aufarbeitung nicht ganz verloren geht. Damit endlich etwas geschieht, was mehr bewirkt, als schöne Worte. Damit ihr endlich das Geld herausrückt, welches ihr zu Unrecht erwirtschaftet habt. Bis jetzt seid ihr immer gratis bis billig weggekommen. Und weisst du noch was. Ich bin wild entschlossen, dass das nicht mehr passiert. Im Sinne aller Medienopfer, in meinem Sinne und im Sinne der Ankündigungen zum neuen Blick. Wenn euch das in Zukunft wirklich teuer zu stehen kommt, ist das die beste Garantie, dass diese ganz perfide Art an Gewalt, insbesondere gegen Frauen, endlich aufhört. Aber das ist ja neuerdings ganz in eurem Sinne.

„Wir können aber Tag für Tag dazulernen und immer und immer wieder versuchen, es besser zu machen. Das ist unsere erklärte Absicht,“, hast du in deinem Entschuldigungstext geschrieben. Gute Idee. Es freut mich ausserordentlich, dich in deinem Anliegen zu unterstützen. Wir haben übrigens sogar einen Hashtag lanciert, #derletzteKlatsch. Damit auch der Boulevard-Journalismus eine anständige Zukunft hat.

Bleib da dran.
Beste Grüsse, Jolanda

Victor Brunner 08. Juni 2021, 17:06

CEO Marc Walder:

«Es war, ist und wird nie unsere Absicht sein, mit unserer Berichterstattung Leid zu verursachen.»

Was fehlt: aber aus dem Leid Anderer darf schon etwas Kapital geschlagen werden. BLICK kann nicht aus seiner DNA, sonst sinkt die Auflage und Likes bei den Kommentaren.