Berner Modell 2.0 oder eine Kompromisslinie über den «Gölä-Graben»
In Bern versucht man sich an der Quadratur des Kreises: Tamedia führt die so ungleichen Redaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» zusammen. Das geht eigentlich nicht, muss nun aber trotzdem irgendwie funktionieren. Einblick in einen heiklen Transformationsprozess.
Noch führt kein Weg über den «Gölä-Graben». Wenn der «Bund» über den Büezer-Barden schreibt, dann ist schon mal von einem «Machwerk» oder von einer «grobschlächtigen Gesinnung» die Rede. Die «Berner Zeitung» dagegen würdigt die Gesangskunst von Marco Pfeuti nüchtern und neutral mit Sätzen, wie: «Zu Göläs Grundhaltung passt die Idealisierung vermeintlich besserer Zeiten.»
Beide Zeitungen erfüllen mit ihrer Art, den Mundartsänger zu würdigen, die Erwartungen ihres Publikums. Und die liegen – nicht nur in diesem Punkt – weit auseinander. Wenn schon bald nur noch eine einzige Kulturredaktion für beide Publika berichtet, dann muss sie sich auf eine «Kompromisslinie» einigen. Man wolle darum erproben, «ob Klischees und Schärfen in kritischen Texten ev. dosierter eingesetzt werden können». Gleichzeitig solle aber kein «standardisierter verwässerter Journalismus entstehen». So steht es in einem umfassenden Dokument, das den Stand der Dinge zur anstehenden Redaktionsfusion von «Bund» und «Berner Zeitung» festhält. Die MEDIENWOCHE hat Einblick in die 60 Seiten.
Simon Bärtschi, amtierender BZ-Chefredaktor und designierter Chef der neuen Einheitsredaktion, betont den «Bottom-Up»-Charakter des Fusionsprozesses. «Wir haben aus der Vergangenheit gelernt», sagt Bärtschi im Gespräch mit der MEDIENWOCHE. Als die überregionale Berichterstattung der «Berner Zeitung» vor rund vier Jahren innerhalb von Tamedia neu organisiert wurde, hätten sie Fehler gemacht, weil sie zu wenig miteinander gesprochen und die Entscheide nur «Top down» auf der Chefebene getroffen hatten. «Wir arbeiten jetzt enger zusammen, reden jetzt viel systematischer zusammen, etwa über Tonalität oder Arbeitsabläufe der neuen Redaktion», so Bärtschi.
Man ist sich näher, als die gegenseitig gut gehegten Vorurteile all die Jahre glauben liessen.
Überhaupt wird derzeit viel geredet im Berner Tamedia-Gebäude am Nordring. Schliesslich geht es um einiges. Das neue Berner Modell soll möglichst lange Bestand halten und Ruhe in den Betrieb bringen. Je erfolgreicher sich damit «Bund» und BZ verkaufen lassen, desto länger dauert es bis zum nächsten Abbauschritt. Unter diesen Vorzeichen mussten sich die beiden Redaktionen wohl oder übel zusammenraufen. Leute, die sich im Treppenhaus bisher nicht grüssten, sitzen nun gemeinsam in Arbeitsgruppen. Aus Konkurrentinnen werden Kolleginnen. Wie man auf beiden Seiten vernimmt, funktioniert das ganz gut. Einigermassen überrascht stellen manche BZ- und «Bund»-Journalisten fest: Man ist sich näher, als die gegenseitig gut gehegten Vorurteile all die Jahre glauben liessen.
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Lange Zeit galt es in Bern als schlicht unvorstellbar, dass die Redaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» einmal zusammenspannen würden. Doch die wirtschaftliche Entwicklung des Zeitungsgeschäfts und die Geschäftspolitik Tamedias zwingen einen nun, sich das Unvorstellbare doch vorzustellen. Ab Oktober gibt es für die lokale und regionale Berichterstattung der beiden Berner Titel nur noch eine einzige Redaktion; alle anderen Inhalte kommen bereits heute aus der Tamedia-Zentralredaktion. Die Massnahme soll zum Sparziel von 70 Millionen Franken beitragen, das Tamedia sämtlichen Unternehmensbereichen vor einem Jahr verordnet hat. Alternativen zu diesem drastischen Schritt boten sich unter den gegebenen Sparbedingungen nicht. Zwei separate Lokalredaktionen liessen sich nicht mehr vernünftig weiterbetreiben mit den noch vorhandenen Ressourcen.
In der Regel muss jeder Text in beide Titel passen. Das gebieten schlicht die noch vorhandenen redaktionellen Ressourcen.
Seit der Gründung der BZ 1979 steht die Zeitungen in direkter Konkurrenz mit dem 1850 gegründeten «Bund». Selbst als die Blätter 2007 unter das gleiche Verlagsdach rückten, blieben die beiden Redaktionen unabhängig («Berner Modell»). Bis zum letzten Tag vor dem Redaktionszusammenschluss im kommenden Oktober werden sich «Bund» und BZ einen Wettbewerb um die besten Geschichten liefern und sich in Abgrenzung zum Mitbewerber profilieren. Entsprechend unterschiedlich liest sich bis heute die regionale und lokale Berichterstattung der beiden Zeitungen. Und ebenso unterschiedlich sieht das Publikum aus. Während das Gros der «Bund»-Leserschaft in der Stadt Bern wohnt und entsprechend stärker links-urban geprägt ist, erreicht die BZ mit ihren Regionalausgaben die Fläche des gesamten Kantons Bern.
Zwar wird es auch in Zukunft möglich sein, einzelne Artikel exklusiv in der einen oder anderen Zeitung (respektive App oder Website) zu platzieren, die ja als Marken weiterbestehen. Aber in der Regel muss jeder Text in beide Titel passen. Das gebieten schlicht die noch vorhandenen redaktionellen Ressourcen.
Der «Bund» kann sein bisheriges Profil mit einem stärkeren Fokus auf Inland, Ausland, Gesellschaft und Kultur insofern weiter pflegen, als dass er wie bisher mehr Artikel bei der Tamedia-Zentralredaktion bezieht als die BZ. Diese bleibt ihrem Leitspruch «Immer die Region zuerst» treu und präsentiert ihre umfassendere Regionalberichterstattung prominenter.
Der Kompromiss droht das politisch-publizistische Profil des «Bund» zu verwässern, der vom Publikum weiterhin als selbständiger Titel wahrgenommen werden möchte.
Im laufenden Transformationsprozess muss die neue Einheitsredaktion, die da entsteht, eine gemeinsame Sprache finden. Wie sie den «Gölä-Graben» mit einer «Kompromisslinie» überwinden will, so sucht sie auch bei der Politik- und der Regionalberichterstattung nach Mittelwegen. Etwa bei der publizistischen Begleitung der dominanten rot-grünen Politik in der Stadt Bern. «Der Bund verfolgt die rot-grüne Mehrheitspolitik systematisch kritisch, obwohl sein Lesepublikum vor allem rot-grün tickt», hält die Arbeitsgruppe «Storytelling & Sound» fest. Die BZ dagegen schreibe heute «eher situativ kritisch als systematisch kritisch» und hinterfrage die rot-grüne Mehrheit «nicht systematisch». Der naheliegende Kompromiss: «Die fusionierte Redaktion kritisiert nicht nur systematisch die rot-grüne Mehrheit, sondern auch die bürgerliche Opposition.» Das dürfte zwar jene linken «Bund»-Leserinnen und -Leser besänftigen, die sich bisher regelmässig ob der teils überkritischen Berichterstattung an Rot-Grün enervierten. Aber gleichzeitig droht dieser Kompromiss das politisch-publizistische Profil des «Bund» zu verwässern, der vom Publikum weiterhin als selbständiger Titel wahrgenommen werden möchte.
Als weitere Knacknuss erweist sich die regionale Berichterstattung. Auch hier verfolgten die beiden Berner Tamedia-Zeitungen bisher unterschiedliche Ansätze: Während die BZ bislang ausreichend Ressourcen und Personal hatte, um zumindest punktuell aus der «Nahperspektive» zu berichten, liefert der «Bund» sparbedingt schon heute nur noch Artikel aus der «Überfliegerperspektive». Dieser breitere Blickwinkel, der nicht allein das aktuelle Ereignis ins Zentrum der Berichterstattung stellt, sondern stets Kontext und Hintergrundinformation mitliefert, wird künftig die Norm sein. Um ein möglichst breites Publikum anzusprechen, sollen die Geschichten «exemplarisch, emotional, personalisiert» erzählt werden.
Wenn der kommerzielle Erfolg davon abhängt, dass möglichst viele Artikel von möglichst vielen Leuten möglichst lange gelesen werden, dann hat die Ereignisberichterstattung von Gemeindeversammlungen oder Sportanlässen nur noch dann eine Berechtigung, wenn sie wesentlich mehr Leute anspricht als nur jene, die selbst an der Veranstaltung waren.
Den Matchbericht vom Erstliga-Fussballspiel aus der Region liest man künftig nicht mehr in der «Berner Zeitung».
Darum wird die neue «Bund»/BZ-Redaktion auch keinen Regionalsport in Form von Ereignisberichterstattung mehr bringen. Zwei Redaktoren hat Tamedia gekündigt, einer reduzierte sein Pensum freiwillig. Ihr Know-how ist nicht mehr gefragt. Vorschau und Matchbericht vom Erstliga-Fussballspiel aus der Region liest man künftig nicht mehr in der «Berner Zeitung». «Das heisst natürlich nicht, dass regionaler Sport künftig keine Rolle mehr spielt», sagt Simon Bärtschi. Aber auch beim Sport gilt die Vorgabe: Artikel müssen exemplarisch, emotional und personalisiert sein, damit sie ein breiteres Publikum finden, idealerweise auch ausserhalb der Region. Bärtschi nennt als gelungenes Beispiel das Porträt einer Bodybuilderin aus Lyss im Berner Seeland, das auch in allen Tamedia-Titeln der Deutschschweiz veröffentlicht und gut gelesen wurde.
In dieser breiteren Fokussierung der Regionalberichterstattung sieht Bärtschi einen «Wendepunkt des Journalismus». Ihm ist aber auch bewusst, dass es ein Teil der Protagonistinnen und Protagonisten als Verlust wahrnimmt, wenn weniger über sie berichtet wird. Auch darum machten sich Bärtschi und die Tamedia-Leitung seit dem Frühling auf eine Tour durch den Kanton Bern und erklärten Politikerinnen und Verbänden, was zu erwarten sei, wenn hinter «Bund» und BZ nur noch eine Redaktion steht. «Es wurde positiv wahrgenommen, dass wir so offen reden», erinnert sich Bärtschi. Ob der positive Eindruck bestehen bleibt, wenn ab Oktober die beiden Zeitungen neu aufgestellt sind, steht auf einem anderen Blatt.
Auch wenn es gelingen sollte, die unterschiedlichen Profile der beiden Medienmarken zu erhalten, ja sogar die Qualität zu verbessern, bleibt unter dem Strich ein elementarer Verlust: Bern verliert schon bald eine von bisher zwei unabhängigen publizistischen Stimmen. Der Wettbewerb, den liberale Stimmen, als die sich «Bund» und BZ sehen, stets hochhalten, spielt nicht mehr. Umso wichtiger, dass neue, unabhängige Projekte versuchen in die Bresche zu springen, um das Defizit wettzumachen.
Bild: Keystone
Christian Heimann 07. September 2021, 21:11
Ein Abo reicht schon seit einiger Zeit. Zwei Marken weiterzuführen ist in meinen Augen unglaubwürdig für beide Titel.
Jan Holler 19. September 2021, 11:22
Man kann sich nur wundern. TA-Media denkt tatsächlich, die Leser:innen der Schweiz möchten vor allem untrhalten werden. So beliebig wie heute schon der Onlineauftritt all der TA-Media-Mehrlinge daherkommt, der inhaltlich mehr dem Häppchenjournalismus von 20-Minuten gleicht, so beliebig zeigen sich jetzt schon die Papierformate in denen dann auch noch Tage später schon publizierte Onlineartikel erscheinen.
Man bemerkt überdeutlich schon seit einigen Jahren, dass es TA-Media vor allem um Klicks geht und Journalismus auf das Mittel zum Zweck reduziert wird. Statt aufklärendem und recherchierendem Journalismus machen sich Kommentare und Artikel über die Beantwortung selber gestellter, meist bedeutungsloser Fragen und Thesenjournalismus breit.
Wie lange wird es wohl noch dauern, bis sich lokale unabhängige Zeitungen etablieren, die wieder die Aufgaben übernehmen, die TA-Media so schnöde links liegen lässt oder die nicht unter der Fuchtel rechtsnationaler Aufkäufer stehen? Die Lücke öffnet sich. Es wird Zeit, dass sie besetzt wird.
Persönlich werde ich nie mehr ein TA-Medium unter diesem Konzern abonnieren. Dabei bin (war) ich seit den 80er-Jahren bis vor etwa 8 Jahren Abonnent TA-Media-Zeitungen (oder derer, die es geworden sind). Aber weder die ehemals geschätzte WW, noch die 10 Jahre abonnierte NZZ, noch eine Wochenendausgabe und schon gar keine TA-Media-Blätter vermögen heute an ihre frühere Qualität heran zu reichen. „They f*cked it up“ hiesse es auf Englisch etwas derb.