von Redaktion

«Medienförderung soll helfen, die journalistische kreative Leistung zu erhalten»

Otfried Jarren beobachtet einen zunehmend ungleichen Wettbewerb zwischen redaktionellen Medien und Plattformen wie Google und Facebook. Der emeritierte Professor für Publizistikwissenschaften an der Uni Zürich sorgt sich deshalb um die Zukunft des Journalismus. Staatliche Förderung hält er für wichtig: «Damit kaufen wir den Medien ein wenig Zeit.»

Das folgende Interview mit Otfried Jarren ist eine gekürzte und redigierte Abschrift eines Gesprächs aus der Serie ComSumCast im Auftrag der Zürcher Berufsverbände ZPV und ZPRG. Die Fragen stellte SRF-Moderator Reto Lipp.

Reto Lipp:

Eine Frage, die ich meinen Gästen am Anfang stelle: Was hat Corona Sie ganz persönlich gelehrt?

Otfried Jarren:

Dass man vor Überraschungen überhaupt nicht geschützt ist und dass es Überraschungen sind, die doch relativ tief ins Leben eingreifen, in das individuelle Leben. Sonst sind es immer nur die anderen, die betroffen sind. Hier war man selbst und mit vielen anderen betroffen. Normalerweise hat man Angst vor technischen Unfällen und plötzlich ist es etwas Natürliches, vor dem man sich nicht wirklich schützen kann.


Lipp:

Monatelang war ja der persönliche Kontakt gekappt und man konnte nicht mehr so viele Leute treffen und musste zu Hause bleiben. Hat das die Bedeutung der Medien erhöht?

Jarren:

Eindeutig. Man hatte weniger unmittelbare Eindrücke und ist stärker darauf angewiesen, was vermittelt wird. Deshalb habe ich auch argumentiert, die Medien stehen in einer besonderen Pflicht. Denn das, was in der Welt passiert, und auch in der kleinen Welt, wird plötzlich wesentlich über die Medien vermittelt.

Lipp:

Wie gut haben die klassischen Medien während Corona ihre Aufgabe erfüllt?

Jarren:

Das kann man schlecht gesamthaft beurteilen. Ich würde nicht sagen, dass sie sich schlecht geschlagen haben. Sie sind genauso in diese Krise hineingefallen und mussten sich zuerst selbst damit auseinandersetzen. Sie mussten zuerst einmal informieren. Dann mussten sie die Diskussion mitverfolgen und gleichzeitig sollten sie die Behörden kritisieren. Das ist nicht ganz einfach in einem solchen Umfeld. Darum haben die Medien, wie wir alle, eine gewisse Zeit gebraucht, um den Weg zu finden, wie man mit dieser Sache umgehen kann.

Lipp:

Waren die klassischen Medien zu wenig kritisch?

Otfried Jarren:

Ich glaube, sie hätten von Beginn bewusster, klarer trennen können: Wo habe ich eine Behördeninformation die man vermitteln kann oder sollte und wo beginnt die Analyse? Das war am Anfang sehr vermischt. Mit der Zeit haben die Medien aber gelernt, dass sie aufpassen müssen, sich nicht eins zu machen mit dem Vermittlungsorgan.

«Anfänglich hatte auch die Wissenschaft keine so klaren Antworten zu Corona. Und auch heute wissen wir nicht sicher, wie lange diese Situation noch anhält.»

Lipp:

Gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen Medien? Die SRG ist ja in einer speziellen Situation als öffentlicher Sender.

Otfried Jarren:

Ich habe eigentlich keine Unterschiede beobachtet. Natürlich hat die SRG einen besonderen Auftrag, was die Information angeht. Sie hat im öffentlichen Interesse zu handeln und sie ist näher an den Behördenstrukturen als die privaten Medien. Aber grundsätzlich standen alle vor der gleichen Situation: Schock! Was ist das eigentlich? Wie gehen wir damit um? Anfänglich hatte ja auch die Wissenschaft keine so klaren Antworten. Und auch heute wissen wir nicht sicher, wie lange diese Situation noch anhält. Eine Pandemie mag es nicht mehr sein, aber pandemieähnlich ist es immer noch.

Lipp:

Ich nehme an, die Wissenschaft wird die Rolle der Medien in der Corona-Krise aufarbeiten.

Jarren:

Die Frage, wie sich die Kommunikationsbedingungen in der Isolationssituation verändert haben und was es heisst, wenn Kinder und Jugendliche oder auch Studierende unter ganz anderen Bedingungen aufwachsen, interessiert die Forschung. Was heisst das eigentlich, wenn der unmittelbare Kontakt zu Personen in schwierigen Situationen fehlt? Wie wird die Wirklichkeit wahrgenommen, wie wird sie gedeutet und wie geht man mit Befunden und Ergebnissen um? Auch die Frage, wie Medien mit der Ambivalenz von Expertise umgehen sollen, wie sie den Widerstreit sichtbar machen, den es ja bei den Expertiseträgern gibt.

Lipp:

Welche Rolle haben die Sozialen Medien gespielt in dieser Krise?

Jarren:

Ich denke eine grosse. Allein deshalb, weil unter diesen veränderten Bedingungen die Menschen Informationen miteinander teilten auf den Sozialen Medien. Man teilt miteinander und vertraut den Kolleginnen und Kollegen. Die Sozialen Medien haben sich gewisserweise dazwischengeschaltet. Der Journalismus produziert, Teile davon kommen dann in diesen Informations- und Interaktionsprozess und werden dort gemeinsam ausgetauscht und bewertet. Das ist eine neue Qualität. Das hat auch Risiken, wenn man nur noch das teilt, was man glaubt mit jenen teilen zu sollen, die man schon kennt. Das ist ein Problem.




Lipp:

Auf den Sozialen Medien sind viele selbst zu einer Art Journalisten geworden. Es gibt ja sehr viele, die sich da äussern.

Jarren:

Das hat natürlich zugenommen. Insgesamt hat sich der Anbieter- und Angbebotsmarkt massiv ausdifferenziert. Wir haben zugleich bei der klassischen Publizistik eine Reduktion. Im Onlinebereich haben wir aber, auch bei den traditionellen Medien, eine Vervielfachung des Angebots. Insgesamt ist das Angebotsvolumen massiv gewachsen. Zu diesem Angebot gehören Blogger ebenso wie die Organisationskommunikation oder PR. Wir haben es mit einem Wachstumsmarkt zu tun, der dennoch Finanzprobleme hat, zumindest zu Teilen, nämlich beim Journalismus, wo die Zahlungsbereitschaft eher schwach ist oder schwindet.

«Man kann und muss aus immer mehr auswählen. Die Nutzerinnen und Nutzer sind jetzt im Markt entscheidend.»

Lipp:

Wir haben zwar ein unglaubliches Wachstum des Angebots, aber wir haben nicht mehr Zeit zur Verfügung. Was heisst das?

Jarren:

Die Effekte sind dreierlei. Auf der einen Seite haben wir mehr Anbieter, die dazugekommen sind im Onlinebereich. Der Anbieter- und der Angebotsmarkt haben sich massiv ausdifferenziert und wir haben eine andere Nutzungssituation: Man kann und muss aus immer mehr auswählen. Die Nutzerinnen und Nutzer sind jetzt im Markt entscheidend. Sie wählen aus, greifen sich Teile heraus, teilen sie, schauen sich selektiv die Dinge – meist nur kurz – an. Das führt logischerweise dazu, dass algorithmische Verteilung oder Personalisierung wichtiger werden, wenn ich überhaupt noch versuchen will, als Anbieter Information oder Unterhaltung an irgendeine Gruppe zu bringen. Der Markt ist auch dynamischer geworden und nicht mehr so stabil, eben aufgrund der Konkurrenzsituation. Rund um die Uhr, ständig muss Neues kommen. Journalismus setzt aber auf Stabilität, Planbarkeit, Sicherheit.

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Lipp:

Und der instabile Markt gefährdet den Journalismus.

Jarren:

Der instabile Markt erhöht die Risiken der Finanzierung. Wären Sie bereit, vier Korrespondentinnenstellen für die Afrikaberichterstattung zu sprechen? Sind Sie bereit, ein solches Angebot auf Dauer zu finanzieren? Gebündelt, etwa als Zeitung, konnten sie das machen: Mischkalkulation. Jetzt aber müssen sie einzelne Angebote verkaufen können. Das heisst, Sie müssen überlegen, wie Sie mit den Informationen umgehen: Was bieten sie an? Bestimmte dauerhafte Beobachtung durch den Journalismus wird verschwinden, weil niemand sicher weiss, ob es nachher zu einer Rezeption kommt, weil auch die Werbung dahin geht, wo die Rezeption stattfindet. Die gesamte Vorabfinanzierung durch Werbung, über Abos oder mit Gebühren, wird kritisch hinterfragt und schwindet. Damit nehmen die Risiken der institutionellen Finanzierung des Journalismus deutlich zu.

«Die Bindung an den einzelnen Anbieter und die Aufmerksamkeit für das einzelne Angebot geht zurück.»

Lipp:

Man spürt ja auch, dass es weniger Journalisten gibt. Ich spreche jetzt mal vom Wirtschaftsjournalismus, es gibt viel weniger Wirtschaftsjournalisten, aber immer mehr Leute in den Kommunikationsabteilungen. Was ist die Konsequenz davon?

Jarren:

Die Konsequenzen sind vielfältig und man darf sie nicht unterschätzen. Wir haben ein grösseres Angebot, wir haben mehr Anbieter. Das heisst, die Bindung an den einzelnen Anbieter und die Aufmerksamkeit für das einzelne Angebot geht zurück. Dementsprechend müssen alle versuchen, die Aufmerksamkeit immer wieder neu zu finden und zu steuern. Das führt dazu, dass die News reisserisch oder boulevardesk werden, dass sie unterhaltender und attraktiver sein müssen. Das führt zu einer bestimmten Machart von Produkten. Dann kommt die Technik ins Spiel, Algorithmen, die genau gucken, was Otfried Jarren konsumiert, also spielt man ihm das zu und liefert personalisierte Angebote. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil: Man bekommt das, was man will. Als Nachteil: Es bleibt wenig Zeit, sich andere Dinge anzusehen. Erst recht wird man nicht auf gebündelte Information zugreifen wollen.

Lipp:

Und diese Funktion der Journalisten, dass sie bündeln, dass sie vorselektionieren, dass sie das sammeln, was interessant sein könnte und wovon die Journalisten glauben, dass es ankommen könnte, das wird immer schwieriger, das fällt immer mehr weg.

Jarren:

Das wird schwieriger und das zweite, was hinzukommt: Wir haben eigentlich eine ganz klare Trennung von Werbung und Journalismus. Wir haben Trennnormen auch in Bezug auf Informationen und Meinung. Diese Grenzen sind im Netz nicht mehr vorhanden. Wir haben nicht nur den Verlust von Funktionen und Leistungen der Journalisten, sondern erleben zudem eine Auflösung an gewohnten Formaten. Und mit den Formaten ist ja eine bestimmte Erwartung und Nutzungsgewohnheit verbunden. Wir wissen, das ist ein Fernsehsender, in welchem Land auch immer ich bin, erkenne ich, was eine Nachrichtensendung ist. Damit weiss ich auch, dass ich mich auf die Nachrichten, ob die gut oder schlecht sind sei dahingestellt, verlassen kann, dass stimmt, was dort kommt. Wenn aber die Formate im Sinn von Orientierungsmarken nicht mehr sicher sind, dann wird es schwieriger sich zu entscheiden und sich zu informieren.

Lipp:

Wie wichtig ist denn eigentlich das Image, das Journalisten haben?

Jarren:

Die Forschung zeigt relativ klar die Bindung an die Marke, wie zum Beispiel an eine SRG oder eine NZZ. Das nimmt aber ab. Die Bindung an Journalistinnen oder Journalisten ist nicht die Regel. Ausnahmen sind die Anchormen, die grossen Sprecher von Nachrichten oder bekannte Moderatorinnen und Moderatoren. Das ist aber eine ganz kleine Gruppe. Mehrheitlich ist die Bindung an eine Organisation, weil wir von einer dauerhaften Leistung ausgehen können. Bei Bloggern wissen wir ja nicht, ob er morgen krank ist und seine Aktivitäten ausfallen werden. Wir delegieren solche Verantwortungsfragen immer an Organisationen und deswegen sind sie wichtig. Doch deren Chancen, Vertrauen aufzubauen, Glaubwürdigkeit zu entwickeln, sinkt, weil die Organisationen in scharfer Konkurrenz stehen und weil sie immer kleinere Publika erreichen. Sie agieren spezialisierter.

«Plattformen spielen eine zunehmend wichtigere Rolle für die gesellschaftliche Information und Kommunikation.»

Lipp:

Neben den lokalen oder nationalen Marken, die eine gewisse Glaubwürdigkeit haben, gibt es Plattformen wie Facebook und Google. Welche Rolle spielen diese Giganten, die ja unheimlich viel Werbung anziehen, die den klassischen Medienmarken dann fehlt? Bei Google und Facebook stellt sich ja auch die Frage, ob das journalistische Angebote sind oder nur Plattformen.

Jarren:

Das sind Plattformen und sie wollen auch Plattformen bleiben. Wenn sie Medien wären, dann kämen sie unter die medienrechtliche Regulierung, also Presserecht oder Rundfunkrecht.

Lipp:

Aber müsste man sie als Medien definieren?

Jarren:

Ich finde: Unbedingt. Weil sie faktisch eine mediale Leistung erbringen, sie wirken zudem auf die Medien und den Journalismus ein. Sie stellen zwar keine Inhalte her, aber sie bieten den Medien Distributionskapazitäten an. Die Rahmenbedingungen der Plattformen, wie sie Werbung schalten, wie sie den Kontext für die Verbreitung von Informationen gestalten, bestimmen sie selbst. Plattformen spielen eine zunehmend wichtigere Rolle für die gesellschaftliche Information und Kommunikation.

Lipp:

Das heisst, die klassischen Medien geraten völlig in Abhängigkeit von diesen Plattformen.

Jarren:

Die Plattformen bestimmen die Distribution. Sie haben den Grössenvorteil und können skalieren. Das kann eine SRG nicht, dass können ARD und ZDF nicht, die BBC vielleicht, weil die internationaler im gesamten englischsprachigen Markt unterwegs ist. Die Plattformen sind zudem unter Netzwerkbedingungen tätig. Die Werbung setzt auch auf Netzwerkeffekte. Je mehr Leute sie in einem Netzwerk haben, desto attraktiver ist es von den Kosten her, diese sinken und alle Anbieter, auch die Werbung, haben grössere Chancen, noch mehr Leute zu erreichen. Die Distributionsmacht ist erheblich und die bietet den Plattformen einen starken Hebel.

«Die Mehrzahl der Medienunternehmen ist aber nicht in der Lage, die Technologie selbst zu stemmen.»

Lipp:

Sie sagen also, die Bedeutung der klassischen Medien nimmt immer mehr ab, und die Bedeutung der Plattformen als Distributionskanäle nimmt immer mehr zu. Wie sehen sie die Entwicklung in den nächsten Jahren?

Jarren:

Ich habe gerade mit Kolleginnen und Kollegen in Deutschland ein Gutachten verfasst, zur Frage, ob es kooperative Plattformen für die Medien braucht. Das wird ja auch in der Schweiz diskutiert. Aber ich glaube nicht daran, dass die Branche das alleine und ohne Moderation schafft. Die Widersprüche zwischen den Akteuren in der Branche steigen ständig. Plattformen böten die Chance, die Auffindbarkeit zu erhöhen, den Wettbewerb neu zu organisieren. Wettbewerb soll und muss bleiben, aber nicht mehr auf der Ebene der Technologie, sondern auf der Ebene der Inhalte. Die Mehrzahl der Unternehmen im Medienbereich ist aber nicht in der Lage, die Technologie selbst zu stemmen und attraktives Personal für die Technologieentwicklung wie den Betrieb zu finden. Die Medien können natürlich versuchen, die Geschäftsmodelle der Plattformen zur kopieren. Das tun sie auch, im News-Bereich – aber ohne wirklichen ökonomischen Erfolg. Imitation macht man häufig im Markt, aber sie müssen ja neue Modelle für den Journalismus entwickeln und dann wird es aufwändig – denn die müssten sie durchsetzen gegen Facebook und Google. Ich sehe kaum ein Medienunternehmen in Europa, das in der Lage ist, da voll mitzuspielen.

Lipp:

Und da kommt der Staat ins Spiel. Sie sind ja auch Präsident der Medienkommission EMEK. Muss man Medien stärker unterstützen und von Staates wegen fördern?

Jarren:

Der Förderansatz ist ja nur ein Teilansatz, eine Hilfsmassnahme: Wir kaufen den Medien ein wenig Zeit. Wenn man so will, ist das eine Möglichkeit, zu versuchen, dass nun auch die Medien sich technologisch und inhaltlich neu aufstellen, sich reorganisieren, neue Geschäftsmodelle entwickeln. Die derzeitige Förderung bringt keine substanzielle, keine grössere Förderung. Denn alle Online-Geschäftsmodelle, die wir bislang kennen im Medienbereich, haben das Problem, dass sie nicht die gleichen Erträge einbringen wie im klassischen Markt. Zudem verhält sich das Publikum nicht zwingend loyal. Eine richtige Refinanzierung der journalistischen Leistung wird kaum stattfinden. Daran ändert auch die Medienförderung nichts. Ausserdem ist die Nutzung auf den grossen Plattformen wie auf Online-Portalen überwiegend unterhaltungsgetrieben. Es gibt eben weniger Interesse an Hintergründigem und Vertiefendem unter digitalen Nutzungsbedingungen.

«Die Entbündelung führt dazu, dass sich die Anbieter fragen müssen: Wer bin ich eigentlich? Bin ich eine Marke oder bin ich ganz viele Marken?»

Lipp:

Die SRG möchte das aber jetzt vermehrt tun, sie möchte mehr Hintergrund auch online anbieten. Kann das funktionieren?

Jarren:

Das kann funktionieren, wenn man versucht, die Leute auf die eigene Plattform zu ziehen oder auf die eigene Mediathek. Aber warum sollte jemand auf eine Mediathek gehen, wenn das gleich Angebot auch bei Youtube steht? Dazu kommt die algorithmische Logik. Das heisst, die digitalen Plattformen kennen mein Profil und spielen mir nur noch das aus, was meinen Vorlieben entspricht. So wird alles entkoppelt und entbündelt, so dass ich nur noch – und zudem: immer mehr – Einzelleistungen angeboten erhalte. Suche ich dann noch? Woran binde ich mich dann? Will ich weiterhin Gebühren zahlen? Will ich dann noch ein Abo haben? Nicht zwingend. Die Entbündelung führt dazu, dass sich die Anbieter fragen müssen: Wer bin ich eigentlich? Bin ich eine Marke oder bin ich ganz viele Marken? Die Segmentierung, die in der gesamten Gesellschaft vorherrscht, nimmt nun auch im Medienbereich zu.

«Die Attraktivität des Journalismus dürfte sinken, zumindest wenn man ihn als Berufskarriere begreift, die am Schluss in die AHV münden soll.»

Lipp:

Weshalb ist Journalismus für eine Gesellschaft wichtig und weshalb soll er gefördert werden?

Jarren:

Journalismus kann man mit der Wissenschaft vergleichen. Physiker beschäftigen sich mit irgendwelchen Themen, finden dann plötzlich die schwarzen Löcher. Dieser ergebnisoffene Beobachtungs- und Entdeckungsprozess ist auch von zentraler Bedeutung für den Journalismus.

Lipp:

Und diese Leistung wird nicht abgegolten, sagen Sie.

Jarren:

Ein Landwirt leistet ja auch Dinge, die nicht unmittelbar abgegolten werden. Er kümmert sich um die Kulturlandschaft wie um die Ökosysteme. Damit leistet er etwas für die Allgemeinheit, weil wir letztlich auf die Artenvielfalt angewiesen sind. Er trägt eine gesellschaftliche Verantwortung, die nicht sich nicht unmittelbar ökonomisch auszahlen muss. Genauso ist die Medienförderung wichtig, weil es darum geht, die journalistische kreative Leistung zu erhalten, auszubauen, zu ermöglichen und zu unterstützen.

Lipp:

Ist Journalismus eigentlich noch ein attraktiver Beruf?

Jarren:

Die Attraktivität des Journalismus dürfte sinken, zumindest wenn man ihn als Berufskarriere begreift, die am Schluss in die AHV münden soll. Das sieht man jetzt schon, dass in einer gewissen Phase zwischen 40 und 50 viele den Beruf verlassen. Aber der Beruf ist eigentlich weiterhin attraktiv, weil man die Welt beobachten und gestalten kann. Die Frage ist nur: Lässt sich darauf noch eine ganze Karriere aufbauen?

«Der Journalismus wird so zunehmend industrialisiert, Medien werden industrialisiert.»

Lipp:

Ist das nicht genau das Problem, dass unsere Medien aus Spargründen vor allem auf junge Leute setzen, weil eben viele zwischen 40 und 50 aus dem Journalismus aussteigen?

Jarren:

Wenn es keine stabile Perspektive im Beruf gibt, dann könnte es sein, dass bestimmte Leute abgeschreckt werden, das zu machen. Zudem wird der Beruf immer technischer, sie müssen lernen, alles was sie machen, über mehrere Kanäle auszuspielen. Sie sitzen teilweise in einem Raum mit vielen anderen zusammen. Ich nenne es «War Room» …

Lipp:

… statt Newsroom.

Otfried Jarren:

Genau. Man beobachtet, was andere machen und macht dann das Gleiche wie andere, rund um die Uhr. Nachrichten, News als strategisches Geschäft. Wann aber sind die Journalistinnen und Journalisten mal draussen? Wie viele Leute machen eigentlich noch Reportagen? Wie viele sind eigentlich unterwegs, einfach mal so? Der Journalismus wird so zunehmend industrialisiert, Medien werden industrialisiert. Das zieht auch bestimmte Typen eher an.

Lipp:

Sie sind kein Fan von Newsrooms.

Jarren:

Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung. Sie hat Vorzüge, die sehe ich schon auch. Aber sie führt nicht dazu, dass die kreative Leistung verbessert wird. Und: Steht Fachexpertise in den Newsrooms, etwa in Form von Wissenschaftsjournalismus, jetzt rund um die Uhr zur Verfügung? Eben nicht mehr.

Lipp:

Ich habe noch fünf Sätze, die sie doch bitte beenden für mich. Ich lese auch im Zeitalter der Sozialen Medien Zeitungen, weil …

Jarren:

… ich dort auf Überraschendes stosse, das ich vorher nicht wusste.

Lipp:

Journalismus ist für mich unverzichtbar, weil …

Jarren:

… auch er Überraschendes liefert und Eindrücke vermittelt, die ich nicht kannte.

Lipp:

Medienfreiheit ist für eine Demokratie ungemein wichtig, weil …

Jarren:

… wir ohne diese Medienfreiheit das Risiko hätten, dass wir von anderen Gruppen und Mächten beeinflusst würden.

Lipp:

Medienförderung in der Schweiz ist notwendig, weil …

Jarren:

… ohne eine Förderung auch eine substanzielle Entwicklung im Bereich Technologie oder Kreativität nicht mehr gelingen könnte.

Lipp:

Die Herstellung von Öffentlichkeit ist eine zentrale Aufgabe von Journalisten und Medien, weil …

Jarren:

… ohne Öffentlichkeit das Grundverständnis unserer demokratischen Gemeinschaft in Frage gestellt werden würde. Der Anspruch, dass vieles öffentlich sein soll, muss aufrechterhalten und durchgesetzt werden und das macht der Journalismus, das machen die Medien. Das ist eine zentrale Aufgabe.

Bild: Keystone

Leserbeiträge

Pascal Sigg 15. September 2021, 15:18

Herr Jarren sagt richtig: „Dieser ergebnisoffene Beobachtungs- und Entdeckungsprozess ist auch von zentraler Bedeutung für den Journalismus.“ Und auch richtig: Er werde eben nicht abgegolten. Nun essentialisiert er damit aber leider auch den Journalismus (Wo liegt die Grenze dieser ergebnisoffnenen Prozesse bei gleichzeitiger Vermessung des Publikums und seines Engagements? Was ist mit all der Effekthascherei und dem Clickbaiting der werbefinanzierten Medien?) und suggeriert im Rest des Interviews, dass eben dies mit der Medienförderung geschehen würde. Wie genau bleibt jedoch weiterhin schleierhaft. Insbesondere wenn nicht inhaltlich bestimmt wird, was Journalismus ist und was eben nicht. Welche Leistungen beruhen auf diesem ergebnisoffenen Prozess? Der Mechanismus, über das Bezahlmodell das zu unterstützen wofür Leute bereits bezahlen, ist sicher nicht ganz falsch. Doch wer stellt sicher, dass das Geld auch dort eingesetzt wird?