Ambivalente Erfolgsgeschichte der Wikipedia
Plattformkonzerne wie Meta und Twitter stehen im Ruf, zur Spaltung der Gesellschaft beizutragen. Wikipedia hält sich dagegen tapfer als «letzte Bastion einer gemeinsamen Realität». Doch der Erfolg hat auch seine Schattenseiten.
Als um die Jahrtausendwende die ersten Wikipedia-Autoren Artikel zu schreiben begannen, blickte das Kultur-Establishment mit einer gehörigen Portion Skepsis und Arroganz auf die Emporkömmlinge aus dem Netz herab. Eine spendenfinanzierte Online-Enzyklopädie, bei der alle mitschreiben können, werde keinen dauerhaften Bestand haben, hiess es. 20 Jahre später ist der Brockhaus vom Markt verschwunden, die gedruckte Encyclopaedia Britannica eingestellt, Wikipedia aber immer noch da – und eine der meistbesuchten Webseiten der Welt. Ärzte schauen hier genauso rein wie Hochschullehrer und Studenten.
Wikipedia ist ein riesiger Wissensspeicher. Es gibt Artikel in allen möglichen Sprachen und Dialekten, von Alemannisch über Plattdeutsch bis hin zu Zulu. Allein die deutschsprachige Version umfasst rund 2,7 Millionen Artikel. Kein Wunder, dass der Trägerverein schon 2011 forderte, die Online-Enzyklopädie zum Weltkulturerbe zu erklären. Das US-Magazin «The Atlantic» bezeichnete Wikipedia einmal als «letzte Bastion einer gemeinsamen Realität».
Wikipedia hat sich – trotz notorischer «Edit Wars» – als erstaunlich robust gegen Manipulation erwiesen.
Zwar gilt es noch immer als verpönt, Wikipedia-Artikel als Quellen in wissenschaftlichen Aufsätzen oder Schularbeiten zu zitieren. Studien belegen aber, dass einzelne medizinische Artikel genauer sind als konventionelle Ärztehandbücher. Wer sich einen thematischen Überblick verschaffen will, findet in der Online-Enzyklopädie verlässliche Informationen. Wikipedia hat sich – trotz notorischer «Edit Wars» – als erstaunlich robust gegen Manipulation erwiesen.
Ein wichtiger Grund dafür ist ebenso simpel wie verblüffend: Im Gegensatz zu milliardenschweren Tech-Konzernen wie Meta oder Twitter setzt Wikipedia viel weniger auf maschinelle und automatisierte Prozesse bei der Hege und Pflege der Inhalte, dafür auf Schwarmintelligenz: Ein Heer von freiwilligen Autoren und Redaktoren betreut die Artikel. Die deutschsprachige Wikipedia zählt aktuell 17’500 aktive Benutzer, die in den letzten 30 Tagen Artikel bearbeitet haben. Sie tun dies transparent für jeden sichtbar. Wer sich die Versionsgeschichte des englischen Artikels über Donald Trump anschaut, trifft dort auf einen zwar kontroversen, aber erstaunlich sachlichen Redaktionsprozess: Da werden Quellen überprüft, Lügen entlarvt, irrelevante Statements rausgeworfen.
Wikipedia als Teamwork: Es gibt Programmierer, Korrektoren oder Vielschreiber wie Steven Pruitt, der es auf die stattliche Zahl von 30’000 Artikel und fünf Millionen Edits bringt und vom «Time Magazine» als eine der 25 einflussreichsten Persönlichkeiten im Internet geadelt wurde. Prominenz ist im Wikipedia-Kosmos jedoch die Ausnahme – die meisten Autoren werkeln anonym im Hintergrund.
Natürlich geht die Sichtung von bis zu einer Millionen Edits pro Tag nicht ohne maschinelle Hilfe. So setzt Wikipedia seit geraumer Zeit zum Schutz vor Vandalismus auf Bots, die automatisch Änderungen rückgängig machen und Versionen wiederherstellen, wenn beispielsweise ein anonymer Nutzer mit vielen Edits etwas hinzufügt. Das sind Verdachtsmomente, bei denen die Computersysteme automatisch aktiv werden.
Die Hierarchisierung zwischen mächtigen Administratoren und unbezahlten Schreibern ist immer wieder Gegenstand von Kritik.
Im Maschinenraum der Wikipedia laufen diverse Skripte, teils simple Bots, die Texte formatieren, zum Teil aber auch komplexere Softwareagenten, die mithilfe maschinellen Lernens Interessenkonflikte erkennen oder gegen Vandalismus vorgehen. Doch ganz ohne Hackordnung funktioniert auch ein kollaboratives Projekt nicht. Über die deutschsprachige Version wachen derzeit 187 Administratoren, die von Nutzern gewählt werden, die mindestens zwei Monate aktiv und 300 Artikel-Edits verzeichnen können.
Das hierarchische Gefälle zwischen Administratoren und Schreibern ist immer wieder Gegenstand von Kritik (nachzulesen unter anderem Dariusz Jemielniaks Buch «Common Knowledge?: An Ethnography of Wikipedia» und bei Wikipedia selbst) – und bereits in der Entstehungsgeschichte des Online-Lexikons angelegt: Die Vorgängerin Nupedia war eine Art Fach-Journal, wo Beiträge von Experten geschrieben und in einem aufwendigen Peer-Review-Verfahren geprüft wurden. Mit dem Konzept der Wikis – einfach editierbare Webseiten – wurde der Prüfprozess zwar vereinfacht, aber an anderer Stelle wieder bürokratisiert und hierarchisiert.
Die Kraftzentren in den komplexen Machtstrukturen der Wikipedia zu überblicken, ist nicht ganz einfach. Der niederländische Soziologe Emiel Rijshouwer hat Wikipedia in Anlehnung an Max Weber einmal als «selbstorganisierende Bürokratie» beschrieben, die dadurch gekennzeichnet sei, dass zu erledigende Aufgaben nicht hierarchisch von oben nach unten delegiert werden, sondern aus Interaktionen heraus erwachsen würden.
Es liegt in der Natur der Sache, dass eine offene Organisationsstruktur anfällig für Manipulationen ist.
Wo Menschen am Werk sind, gibt es auch immer (Interessen-)Konflikte. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine offene Organisationsstruktur anfällig für Manipulationen ist. So wurde das Administratoren-Board der kroatischen Wikipedia-Version zwischen 2011 and 2020 systematisch von einer Gruppe Rechtsextremer unterwandert, die das Online-Lexikon dazu missbrauchten, geschichtsrevisionistische Ansichten zu verbreiteten.
In kleineren Sprachräumen ist das Manipulationspotenzial grösser als in der englischen Version, wo es sehr viele aktive Nutzer gibt. Je populärer ein Thema und der entsprechende Artikel dazu ist, desto mehr Aufmerksamkeit zieht es auf sich und desto schwieriger wird es, absichtlich Falschinformationen einzuschleusen. Dass die Wikimedia-Stiftung den Skandal um die kroatischen Administratoren umfangreich aufarbeitete und einen Administrator sperrte, zeugt von funktionierenden Kontrollmechanismen.
Der australische Kommunikationswissenschaftler Mathieu O’Neil, der an der University of Canberra über Open Software und Wikipedia forscht, hält die «verteilte Editierstruktur» für zentral für die Integrität des Informationssystems. Alle Veränderungen würden archiviert, zudem gebe es eine Diskussionsseite, in dem Meinungsverschiedenheiten moderiert würden. «Das macht es quasi unmöglich, dass haltlose Verschwörungen längere Zeit veröffentlicht stehen», schreibt er in einem Aufsatz.
Die Wikipedia ist weiterhin ein Club von weissen, englischsprachigen Männern ist, die überwiegend in christlich geprägten Ländern auf der Nordhalbkugel leben.
Das alles ändert aber nichts daran, dass Wikipedia weiterhin ein Club von weissen, englischsprachigen Männern ist, die überwiegend in christlich geprägten Ländern auf der Nordhalbkugel leben. Und diese Männer schreiben hauptsächlich für Männer und über Männer. Lediglich rund 17 Prozent der Porträts der deutschen Wikipedia sind über weibliche Personen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 («It’s a Man’s Wikipedia?»), an der Forscher der Universität Koblenz und der ETH Zürich beteiligt waren, kommt in der englischen Wikipedia in Biografien von Frauen vier Mal so häufig das Wort «geschieden» vor wie in Biografien von Männern – was statistisch Unsinn ist, aber auf eine stärkere Akzentuierung des Privatlebens von Frauen verweist. Insofern ist Wikipedia auch ein Spiegel einer männerdominierten Welt.
Die Ursache für diesen Gender Bias verortet Kommunikationsforscher O’Neil in der ökonomischen Sphäre, namentlich der unbezahlten Arbeit auf der die Existenz der Wikipedia basiert: «Die Ablehnung von finanziellen Belohnungen innerhalb von Digital-Commons-Projekten wie Open Source-Software und Wikipedia reproduziert Klassen- und Gender-Ungleichheiten», schreibt er. Unbezahlte Arbeit sei nur einer Minderheit mit einem entsprechenden Einkommen, kulturellen Kapital oder familiärer Unterstützung möglich. Mit anderen Worten: Die Mitarbeit an Wikipedia muss man sich leisten können.
Der Erfolg der Wikipedia als gemeinnütziges Projekt steht und fällt mit der Bereitschaft zu Freiwilligenarbeit und Spenden.
Um die geschlechtsspezifische Unwucht zu reduzieren, hat das Schweizer Radio und Fernsehen SRF gemeinsam mit Ringier und Wikimedia Schweiz einen «Edit-a-thon» ins Leben gerufen, bei dem Medienschaffende – mehrheitlich Journalistinnen – zusammen Frauenbiografien schreiben. Der Schreib-Event, der Ende Oktober zum achten Mal stattgefunden hat, brachte bisher knapp 500 neue Artikel über Frauen hervor. Das ist gemessen an dem Textkorpus eine verschwindend kleine Menge, die an der strukturellen Unterrepräsentation von Frauenbiografien nichts ändert, und letztlich ist der «Edit-a-thon» das Projekt einer Kulturelite, die fürs Schreiben bezahlt wird.
Der Erfolg der Wikipedia als gemeinnütziges Projekt steht und fällt mit der Bereitschaft zu Freiwilligenarbeit und Spenden. Immer wieder gab es Berichte, dass Wikipedia die Autoren davonlaufen. Zuletzt bat Wikimedia Schweiz, die lokale Trägerschaft, um Spenden – auch mit dem Argument der verlässlichen Informationen auf Wikipedia.
Auch Plattformkonzerne wie Google oder Amazon bedienen sich an dem immensen Textkorpus der Wikipedia, um ihre Sprachmodelle für die automatische Textgenerierung zu trainieren oder Informationen in ihre Dienste einzuspeisen. Dass die Sprachsoftware Alexa faktenbasierte Antworten gibt, ist auch der unbezahlten Arbeiter freiwilliger Wikipedia-Autoren zu verdanken – und der Preis, dass jeder eine freie Enzyklopädie nutzen darf. Im Gegenzug spenden die Tech-Konzerne immer mal wieder kleinere Millionenbeträge. Zu wenig, sagen Kritiker. Ihr Vorwurf: Die Plattformökonomie weidet die digitale Allmende zu kommerziellen Zwecken aus und führt dadurch den Grundgedanken ad absurdum.
Kommunikationsforscher O’Neil glaubt, dass in absehbarer Zukunft unbezahlte Arbeit weiterhin eine «notwendige Komponente» gemeinschaftlicher Online-Projekte wie der Wikipedia sein wird. Die Freiwilligenarbeit müsse jedoch stärker anerkannt werden, um der gefährlichen Übermacht der Plattformökonomie entgegenzutreten – beispielsweise durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wikipedia ist wie die Demokratie: nie fertig und zu Ende gebaut, nichts ist auserzählt. Das ist hoffentlich auch der Grund, warum die Online-Enzyklopädie eine Zukunft hat.
A. Hopfenschauer 09. Dezember 2022, 10:29
Vor einiger Zeit habe ich den Artikel über die Deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen gelesen und fast ausschließlich männliche Schreibweisen gefunden. Mittlerweile werden die Frauen dort als „Spielerin“ (statt „Spieler“) bezeichnet, aber Martina Voss-Tecklenburg ist weiterhin „Cheftrainer“ und Alexandra Popp „Kapitän“.
Im Wikipedia-Artikel „Kapitän“ kommen ausschließlich männliche Bezeichnungen vor (Kapitän, Schiffsführer, Schiffer, Kommandant). Frauen tauchen nur in einer Fußnote auf: „„Damals (vor dem Zweiten Weltkrieg) gab’s ja noch keine weiblichen Seeleute. … Es gab sogar Reedereien, da durften die Frauen nicht mal im Hafen an Bord kommen, auch nicht, wenn sie verheiratet waren.“ Annaliese Teetz. Lehrerin und Kapitänin [sic!]. *1910. In: Jörg Otto Meier: Von Menschen und großen Pötten…
Elke 09. Dezember 2022, 12:09
Kleine Anmerkung.
„Zwar gilt es noch immer als verpönt, Wikipedia-Artikel als Quellen in wissenschaftlichen Aufsätzen oder Schularbeiten zu zitieren.“
Das ist auch richtig und wichtig. In der Wikipedia soll keine Theoriefindung stattfinden, sie „bildet bekanntes Wissen ab“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Keine_Theoriefindung). Jede Aussage in der Wikipedia soll belegt sein (ist natürlich in der Praxis nicht so). Man sollte also auch nicht Wikipedia zitieren, sondern die im Artikel zu findenden Informationsquellen.
Flo 09. Dezember 2022, 15:18
„kommt in der englischen Wikipedia in Biografien von Frauen vier Mal so häufig das Wort «geschieden» vor wie in Biografien von Männern – was statistisch Unsinn ist, aber auf eine stärkere Akzentuierung des Privatlebens von Frauen verweist.“
Ist das statistisch zwingend Unsinn? Oder könnten eventuell erfolgreiche Männer tatsächlich seltener geschieden sein als erfolgreiche Frauen?
RTripp 09. Dezember 2022, 16:35
… zudem führen die Richtlinien in der Wikipedia (WP) bisweilen zu Behindertenfeindlichkeit. Menschen mit Behinderung werden in der Gesellschaft nach wie vor marginalisiert. Wenn sie es denn schaffen, an die Öffentlichkeit zu treten, geschieht dies meist in einem überschaubaren Rahmen. Das bedeutet aber, dass infolge die Relevanzkriterien der WP unterschritten werden, Artikel daher gelöscht werden, weil sie unter dem Radar segeln, dass die WP-Entscheider als relevant erachten.
Dies ist mir ein paar Mal mit Artikeln aus diesem Themengebiet passiert (Leichte Sprache – Löschdiskussion, online geblieben, Persönliche Zukunftsplanung – nach dem dritten Anlauf online geblieben, Mensch zuerst (Schweiz) – gelöscht). Aus diesem Grund habe ich die Mitarbeit eingestellt.
Ich war jahrelang in der WP aktiv, habe an Stammtischen teilgenommen und hatte Kontakte mit anderen Wikipedianern im „real life“. Viele von denen haben wegen der rauhen Sitten und der systemimmanenten Einseitigkeit ebenfalls das Handtuch geworfen.
Xario 09. Dezember 2022, 19:59
In diesem Sinne spiegelt Wikipedia die Gesellschaft wider – Behinderte Menschen sind in der WP unterrepäsentiert, weil sie in der Gesellschaft generell unterrepräsentiert sind.