Wenn die Jury versagt
Die Jury des renommierten Henri-Nannen-Preis hat dem Spiegel-Reporter René Pfister den am Freitag verliehenen Preis für die beste Reportage nach nur zwei Tagen wieder aberkannt. Hätten die Preisrichter ihre Arbeit richtig gemacht, wäre es nie zu dieser peinlichen Situation gekommen. Nicht nur die Oberfläche muss ein Kriterium für die Preiswürdigkeit sein, sondern auch die Machart des Beitrags und die Arbeitsweise des ausgezeichneten Journalisten.
Die Freude währte nicht lange. René Pfister durfte am letzten Freitag den renommierten Henri-Nannen-Preis entgegennehmen für sein Porträt des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. Doch schon zwei Tage später stand der Spiegel-Reporter ohne die begehrte Auszeichnung da. Mit einem Mehrheitsentscheid sprach sich die Jury für eine Aberkennung des Preises aus. Reporter Pfister leitete sein Seehofer-Porträt mit einer detaillierten Schilderung ein, wie der Politiker mit einer Modelleisenbahn im Keller seines Ferienhauses spielt. Diese Passage sollte dem Spiegel-Journalisten zum Verhängnis werden. Denn Pfister berichtete nur vom Hörensagen und stand selbst nie an der Seite Seehofers vor dem Stellpult der Märklin H0, wie bei der Lektüre der Eindruck entstehen konnte. Pfister gab dies denn auch freimütig und unumwunden zu, als ihn bei der Preisübergabe die Moderatorin darauf ansprach. Eine aktive Täuschungs- oder gar Fälschungsabsicht kann dem Reporter also nicht unterstellt werden. Womit der Ball bei der Jury liegt.
Das hochdekorierte Gremium hatte es offensichtlich versäumt, die preiswürdigen Texte vorgängig auf handwerkliche Mängel abzuklopfen. Ein solcher Aufwand wäre den 14 Jurymitgliedern und der 22-köpfigen Vorjury, allesamt erfahrene Medienmacher, zuzumuten gewesen. Nicht, dass sie jede der fast 800 eingereichten Arbeiten hätten durchleuchten müssen, aber wenigstens die rund 30 auf der Shortlist. Damit wäre der Jury die Peinlichkeit einer Preisaberkennung erspart geblieben. Es mutet geradezu bizarr an, wenn ein professionelles Preisgericht die Spielregeln nicht einhält, die es von den Kandidaten erwartet. Die Arbeit von Medienpreisjurys beschränkt sich offenbar auf eine Beurteilung der Oberfläche. Wenn die funkelt und glänzt, dann gibts einen Preis. Gerade so, als wenn bei einer Berufsolympiade die Richter nur die äussere Beschaffenheit des fertigen Werkstücks bewerten würden und nicht auch den Entstehungsprozess und das Innenleben, die verborgene Mechanik etwa. Journalismus ist auch ein Handwerk. Auszeichnungen, die das unberücksichtigt lassen und sich primär auf ein Geschmacksurteil abstützen, erweisen dem Journalismus einen Bärendienst.
Die Hamburger Posse ist kein Einzelfall. Erst kürzlich hielt eine Jury im Auftrag der Berner Tageszeitung «Der Bund» einen Essay für preiswürdig, der bei einer näheren Betrachtung nicht hielt, was er auf den ersten Blick zu versprechen schien. Leicht nachweisbare Faktenfehler und offensichtliche Mängel in der Argumentation gaben jedoch keinen Anlass, den Text aus der engeren Auswahl für die Auszeichnung zu entfernen. Nicht sehr souverän agierte die Jury des Zürcher Journalistenpreises, als 2007 Zweifel an der Preiswürdigkeit eines ausgezeichneten Beitrags laut wurden. Zwei Mitarbeitende der NZZ am Sonntag erhielten damals den Preis für ihre Recherchen zur Fusion der Banken Bellevue und Swissfirst. Nachträglich stellte sich heraus, dass die Zeitung in einzelnen Punkten daneben lag und sich später sogar öffentlich dafür entschuldigen musste. Für die Jury war das kein Grund für eine nachträgliche Aberkennung des Preises. Man müsse sich auf das verlassen können, was man zum Zeitpunkt der Verleihung wisse. Auch in diesem Fall hätte die Jury mit eigenen Recherchen den Gehalt der Artikelserie überprüfen und sie rechtzeitig aus dem Preisrennen nehmen können.