von Ronnie Grob

Neues aus dem Kinderkiez

Publizistische Angebote im Web decken längst alle Lebensbereiche ab. Wirklich alle? Nicht ganz. Im Hyperlokalen klaffen auffällige Lücken. Während sich um das Geschehen in der grossen weiten Welt Myriaden von Online-Publikationen kümmern, existieren – zumindest im deutschsprachigen Raum – vergleichsweise wenige Quartieranzeiger und Kiezpostillen im Netz. Eine Ausnahme sind die Prenzlauer Berg Nachrichten in Berlin.

Zwar widmen sich auch Blogger ihrer nächsten Umgebung und berichten davon, was vor ihrer Haustür geschieht. Mit Journalismus hat das aber nur selten zu tun. Schon deshalb nicht, weil sie nicht kontinuierlich berichten und ohne redaktionelle Filter für Themenwahl und Qualitätssicherung auskommen.

Gründe für das Fehlen von hyperlokalen journalistischen Angeboten gibt es vor allem zwei: einen publizistischen und einen wirtschaftlichen, wobei beide direkt zusammenhängen. Im Zeitungsland Schweiz existiert weiterhin ein grosses Angebot an gedruckten Quartierzeitungen, deren Bedeutung gerne unterschätzt wird. Wer spricht schon davon, dass er regelmässig den Anzeiger für das Nordquartier liest? Da diese Blättchen oft konkurrenzlos dastehen, haben sie die letzten Jahre auch nicht besonders krisenhaft erlebt. Das lokale Gewerbe schaltet seine Inserate wie eh und je. Diese Werbegelder wiederum fehlen hyperlokalen Online-Publikationen. Dass es in der Schweiz keinen Quartierjournalismus im Netz gibt und sich der Online-Lokaljournalismus generell schwer tut, zeigte auch die magere Ausbeute beim diesjährigen Preis für Lokaljournalismus: In der Online-Kategorie konnte die Jury mangels qualifizierter Eingaben keine Auszeichnung vergeben.

Anders sieht es in Berlin aus. Im Trendkiez Prenzlauer Berg erscheint seit Ende 2010 die «Lokalzeitung» prenzlauerberg-nachrichten.de, deren Redaktion sich im Erdgeschoss eines Miethauses im Hinterhof befindet. Wir haben mit Gründer und Herausgeber Philipp Schwörbel gesprochen. Er ist 39 Jahre alt, kommt ursprünglich aus Hamburg, hat zwei Kinder und wohnt seit 2003 im Bezirk. Schwörbel trägt eine braune Hornbrille und ein blau-weiss-kariertes Hemd, darüber einen dunkelblauen Pullover. Seine Sätze sind wohlüberlegt formuliert, fast alle beginnen mit dem Wort «wir». Wir trinken Milchkaffee im Café Goldapfel.

Wie bist Du auf die Idee gekommen, ein Hyperlocal-Blog zu eröffnen?
Es gab vor eineinhalb Jahren eine relativ intensiv geführte Debatte auf dem Blog «Carta» zur Zukunft des Journalismus, damit einhergehend eine Diskussion zur Zukunft des hyperlokalen Journalismus in den USA, der Niedergang des klassischen Zeitung und der Frage, wie sich Journalismus in Deutschland finanzieren kann. Diese Diskussion habe ich verfolgt, aufgegriffen und mich gefragt, wie das vor meiner eigenen Haustür ist, ob es hier auch so etwas gibt. Und ich habe festgestellt, dass sich die grossen Berliner Tageszeitungen aus der Lokalberichterstattung zurückgezogen haben und dass da eine Lücke entstanden ist, die gefüllt werden will. Diese Lücke wird zu einem Teil mit vielen kleinen Blogs aus dem Viertel gefüllt. Wir versuchen, hochwertigen Qualitätsjournalismus auf Bezirksebene zu etablieren, als Ergänzung zu den grossen Blättern. Berliner Zeitungen schreiben zwar über Lokales, tun das aber nicht in der Tiefe, wie wir das können.

Was macht ihr anders als klassischer Lokaljournalismus?
Generell machen wir gar nichts anders. Wir versuchen, das Geschehen vor Ort kritisch und journalistisch abzudecken, die Dinge unabhängig aufzufangen, die um uns herum passieren. Wir bezeichnen uns als Zeitung, organisieren unsere Inhalte aber nicht als «Blatt», sondern angelehnt an Blogstrukturen. Und zum Teil sind wir schneller und haben Themen, die andere nicht haben. Ein weiterer Vorteil sind die besseren Beziehungen in den Bezirk hinein.

Ersetzt prenzlauerberg-nachrichten.de die Lokalzeitung?
Wir konkurrieren um das Online-Zeitbudget der Leser. Ich glaube, die grossen Printzeitungen verlieren nicht unseretwegen an Auflage.

Habt ihr einen Vollständigkeitsanspruch für den Bezirk Prenzlauer Berg?
Wir berichten bisher nicht vollständig, weil wir noch zu klein sind. Im politischen Bereich haben wir uns ganz gut festgesetzt, dafür kommen der Sport und die Sportvereine bisher zu kurz.

Wie viele regelmässige Leser habt ihr?
Über 12.000 Unique Visitors im Monat. Unsere Leserschaft kommt zum Teil täglich, es gibt aber auch eine ganze Reihe von Nutzern, die wöchentlich vorbeischaut – und dann lange bleibt.

Es sind einige Werbebanner mit lokalen Anzeigen zu sehen. Habt ihr die rangeschafft? Was wird dafür bezahlt?
Wir gehen mögliche Werbekunden direkt an, manchmal per Telefon, manchmal per E-Mail, manchmal per Brief. Das Ziel ist es, ein Beratungsgespräch zu vereinbaren. Es gibt zwei Gruppen von Anzeigen. Einerseits das klassische Bannergeschäft: Je nach Modell kostet das pro Monat 150 − 300 Euro für ein Medium Rectangle. Die lokalen Anzeigen werden nur in Berlin ausgeliefert. Andererseits haben wir mit „Unsere Partner“ gerade mit einem Partnerprogramm begonnen, das weniger ein Werbe- und mehr ein PR-Format ist. Firmen bezahlen uns monatlich 50 Euro und kriegen dafür eine Unternehmensdarstellung auf unseren Seiten, deklariert ist das, wenn man darauf klickt, aber klar als Anzeige. Mein Vorbild in diesem Bereich ist meine-suedstadt.de aus Köln.

Welcher Beitrag hat bisher am meisten Reaktionen ausgelöst?
Die grossen Themen sind bei uns derzeit der Umbau der Kastanienallee und alle Themen rund um die Gentrifizierung. Zum Start unserer Website hat Andrej Holm einen Blogartikel geschrieben und zusammengefasst etwa geschrieben, wir seien das Blatt zur Gentrifizierung. Das stimmt nicht: Ich möchte alle, die hier leben, zu Wort kommen lassen und ein gemeinsames Gespräch herstellen. [Anmerkung der Redaktion: Im Blogartikel war zu lesen: «Die etwa zehn namentlich aufgeführten Redakteur/innen sind zwischen 28 und 47 Jahre alt, sind bis auf eine Ausnahme alle im Westen geboren und haben mindestens ein Studium absolviert. So ungefähr lesen sich auch die Sozialstudien in den Sanierungsgebieten. Und so ungefähr stellt sich das Feuilleton den Bionade-Biedermeier vor. Nicht nur, dass fast alle aus dem Westen zugereist sind, sie machen auch noch alle was mit Medien…», hier eine Entgegnung]

Habt ihr denn einen Urberliner in der Reaktion?
Nein, derzeit haben wir keinen Ur-Prenzlauer-Berger. Aber wer beispielsweise über Naturwissenschaften schreibt, muss ja auch kein Naturwissenschaftler sein.

Wie werden Eure Autoren entlöhnt?
Wir haben eine kleine Kernredaktion, die bezahlt wird. Dann gibt es einen Kreis von ehrenamtlichen Redakteuren, die unregelmässig etwas beitragen. Darüber hinaus gibt es Gastbeiträge, meistens aus dem politischen Feld.

Ist Prenzlauer Berg als Stadtteil für ein Medium besonders geeignet, weil besonders viele Akademiker, also Leser hier wohnen?
Wir machen kein Blatt für Akademiker, es soll alle Menschen ansprechen. Richtig ist, dass es im statistischen Durchschnitt in Prenzlauer Berg einen hohen Bildungsstand und viele Kinder gibt. Und für die ist ein Onlinemedium die geeignete Art der Ansprache, das zeitgemässe Medium. Ältere Menschen sind dagegen vermehrt mit der Papierzeitung verbunden.

Wie reagieren etablierte Medien auf Euch?
Die lokalen Anzeigenblätter haben ihre Prenzlauer-Berg-Berichtstattung verstärkt. Tagesspiegel.de hat Bezirksseiten eingeführt. Wir merken, dass wir unter einer sehr hohen Beobachtung stehen.

Rentiert das Projekt?
Journalistisch und publizistisch ist es ein Erfolg, ein gutes Produkt. Es gibt auch Werbeformate, die gut angenommen werden – wir sind aber noch nicht so weit, dass wir die Kosten damit decken können. Derzeit finanziere ich das Projekt aus meinem Ersparten. Entscheidend wird die Entwicklung des lokalen Online-Marktes sein, ein bisher noch nicht weit entwickeltes Feld. Worüber es nicht gehen wird, ist die Vermengung zwischen redaktionellen und werblichen Aktivitäten. Da bleiben wir sauber, denn das wäre der sichere Tod.

Was für Erfahrungen hast Du gemacht bisher nach einem halben Jahr mit dem Projekt?
Das einzige, was mich wirklich ärgert, ist der undifferenzierte Schwaben-Hass. Der Satz «Alle Zugezogenen sind Schwaben» ist einfach dumm. Es ist unfair, die Zugezogenen über einen Kamm zu scheren, das ist undifferenziert und wird dem Bezirk nicht gerecht. Es gibt aber dennoch einen sehr kreativen Protest gegen die Veränderungen, die hier stattfinden. Der ist viel wirksamer als die Pauschalurteile, da kriegt man den Spiegel vorgehalten.

Wie sind die Erfahrungen mit den Kommentatoren?
Wir haben ein System, wo man sich vorgängig anmelden muss. Die eine Hälfte kommentiert unter einem Pseudonym, die andere Hälfte unter dem Klarnamen. Die Kommentare sind sachlich und zum grossen Teil konstruktiv. Manchmal haben wir es mit rassistischen Kommentaren zu tun, deren Opfer meistens «Schwaben» sind. Die löschen wir.

Das Gespräch mit Philipp Schwörbel wurde am 11. Juli 2011 in Berlin geführt. Am Artikel mitgearbeitet hat Nick Lüthi.