Die missverstandene Stadt
Kommt Biel in den nationalen Medien vor, zeichnen die Journalisten selten ein ausgewogenes Bild. Biel ist entweder hui oder pfui – aber meistens pfui. Das soll sich nun ändern: Biel findet Gefallen an der Idee von Pressereisen in die missverstandene Stadt. – Ein Gastbeitrag aus dem Bieler Tagblatt.
«Wie schwul ist Biel?», titelte der «Sonntagsblick» am 30. September. Man möchte zurückfragen: Wie schwul ist der «Sonntagsblick»? Und zwar mit der jugendsprachlich konnotierten Interpretation von schwul als Adjektiv für doof, dämlich, dümmlich. Das allerdings wäre zu dumm – schliesslich ist schwul kein Schimpfwort.
Aber wie dumm ist es, einen Artikel so zu betiteln, wenn es letztlich darum geht, zwei volle Seiten über Biel zu schreiben und dies durchaus sachlich? Abgesehen davon zeigt dieses jüngste Beispiel, dass die Wahrnehmung Biels in der Aussenperspektive speziell ist. Als Grundsatz lässt sich festhalten: Die Stadt Biel lässt niemanden kalt und dies seit Jahrzehnten. Das zeigt ein Querschnitt von Artikeln in den grossen Publikationen aus Zürich der letzten 18 Jahre. Beim Durchblick dieser Artikel stellt sich sehr schnell das Gefühl ein, dass Biel nicht als die Stadt wahrgenommen wird, die sie ist.
Nick Lüthi von der «Medienwoche», der in Bern lebt und Biel gut kennt, sagt es so: «Biel war in den Medien schon immer eine Attribut-Stadt: zum Beispiel Auto-Partei-Stadt, Sozialhilfe-Metropole, Expo-Stadt, Boom-Stadt, Auto-Stadt, Uhren-Stadt und nun eben Homosexuellen-Stadt. Quasi alle fünf Jahre erhält Biel ein neues Attribut.» Man könnte auch sagen: Die immer gleichen Attribute bleiben, und ab und zu kommt ein neues dazu. Zum Beispiel: «Biel der Analphabeten» («Weltwoche», 27. 9. 2012, geschrieben von Alain Pichard, Stadtrat der GLP in Biel) oder die «Goldgräberstadt» («Der Bund», 29.12.2012, Benedikt Loderer, Stadtwanderer, Wahl-Bieler und BT-Kolumnist) oder das «ungezähmte» Biel («Wochenzeitung», 24.03.05) oder alternativ auch das «Liebesnest der Islamisten» («Weltwoche», 29.04.2010).
Alle diese Artikel zeugen auch davon, dass Biel-Texte meist grundsätzlich mit einem Gefühl der Sehnsucht oder der Abscheu gezeichnet werden. Peter Rothenbühler kombinierte beides in der «Schweizer Illustrierten» im August 1996: «Bei der Durchfahrt nach Biel war ich schockiert. […] Warum lässt man diese Stadt einfach verlottern? Was ist los mit Biel?», schrieb Rothenbühler, der Heimweh-Bieler, damalige Wahlzürcher und heutige Wahl-Lausanner. Nur einen Monat später schrieb der «Tages Anzeiger»: «In Biel werden in den nächsten Jahren Millionen investiert. Alles mit dem Ziel, die Stadt attraktiver zu gestalten.» Und mit dem Kennerblick aus Zürich fügte der Autor an. «Die Frage ist bloss, ob sie das braucht.» Wenn Zürich unter der höchsten Arbeitslosigkeit im Land und einem permanenten Einwohnerschwund leiden würde, wie Biel damals, würde der Autor dies kaum fragen.
Heute, 18 Jahre später, wurden die Millionen investiert, die zentrale Achse von Guisanplatz bis und mit Nidaugasse saniert, das Manor-Gebäude steht in der Innenstadt. Rolex, Sputnik, DT-Swiss und andere Firmen haben im Bözingenfeld gebaut, bald wird die Swatch-Group ein neues architektonisches Wahrzeichen aufstellen. Die Stadien werden wohl gebaut (im Gegensatz zu Zürich), unzählige Wohnungen sind entstanden, im Zentrum entsteht ein neuer Platz.
Und doch fragte der «Tages-Anzeiger» im August 2011: «Was ist los in dieser Stadt?» Der erste Satz des Textes von Dario Venutti beginnt mit den zwei Worten: Jürg Scherrer. Jürg Scherrer, der Wieder-Präsident der Autopartei, ehemalige Bieler Gemeinderat und ehemalige Nationalrat, hatte sich damals schon längst aus der Politik und dem öffentlichen Leben verabschiedet. Weil man in Zürich offenbar nur ihn kennt, hat Venutti Scherrer aus der Mottenkiste geholt und sein Porträt über Biel mit einem Spruch des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci beschlossen: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.»
Monster-Biel? Monströs ist höchstens, dass Scherrer nicht kleinzukriegen ist. Der Mann, der die Gaskammern im Zweiten Weltkrieg gegenüber dem Radio RTS im Jahr 2002 als ein «Detail der Geschichte» bezeichnet hat, gilt trotzdem immer wieder als kompetenter Auskunftspartner. Auch im «Sonntagsblick»-Artikel hatte er einen prominenten Auftritt: «Sie werden sehen, am Nachmittag wird es dunkel in Biel», diktierte Scherrer dem Sobli-Schreiber. Dieser schrieb zwei Absätze später: «Tatsächlich am Nachmittag wird es dunkel. Immer mehr dunkle Gesichter auf der Strasse.» Die «Wochenzeitung» vertritt eine andere Haltung. Der «Bund»-Journalist Christoph Lenz schrieb im April unter dem Titel «Bonne nuit, Bienne»: «Biel war einst die Hochburg von Hip-Hop, Punk, alternativer Subkultur. Doch jetzt regiert die Bauspekulation, Wohnbaugenossenschaften geraten unter Druck, alternativ genutzte Fabriken werden abgerissen und Plätze privatisiert. All das unter sozialdemokratischer Regie.»
Dass die Steuereinnahmen pro Kopf in Biel weit unter dem Durchschnitt der anderen Städte liegen und Biel dank der steigenden Anzahl Kinder rund 250 Millionen Franken in den nächsten zehn Jahren in die Schulen investieren muss und auch in der «Seeland-Metropole» (noch so ein Attribut) das Geld nicht auf der Strasse liegt, blendet der Autor aus. Er sehnt sich nach diesem anarchistischen Biel, während sich viele Bewohner Biels nicht mehr damit zufriedengeben wollen, dass alte Sandsteinhäuser mit Gerüsten gesichert werden müssen, um die Passanten vor Steinschlag zu schützen. Ausser in Biel gibt es das nur in den ausgestorbenen Vorstädten in Ostdeutschen Bundesländern.
Stadtpräsident Erich Fehr sagt dazu: «Die Synthese aus den Artikeln im ‹Tages-Anzeiger› und in der ‹Wochenzeitung› käme der Wahrheit schon näher.» Auch dem Stadtoberhaupt ist aufgefallen, dass Biels Wahrnehmung in den Deutschschweizer Medien nicht optimal ist. Er hat deswegen den Kontakt zu den Medienhäusern an der Limmat gesucht und hat sich und seine Stadt in Gesprächen auf höchster Ebene vorgestellt. «Damit die Journalisten beim nächsten Mal auch unsere Meinung einholen.»
Peter Rothenbühler, heute stellvertretender publizistischer Leiter bei Edipresse, analysiert das Problem etwas anders: «Der Artikel im Tages-Anzeiger war eine Frechheit, zu einseitig. Ich kann in jede Stadt gehen und nur mit den Extremisten sprechen. Das ist einfach. Der Autor hatte nie das Bestreben, diese Stadt zu verstehen und zu entdecken.» Aus Rothenbühlers Sicht sollte die Bieler Presse streng sein mit Biel. «Aber von Aussen kommen und nur das Negative berichten, das geht nicht.» Allerdings fügt er an: Wenn ein solcher Artikel komme, müsse sich eine Stadt fragen, was sie falsch gemacht hat. Er plädiert dafür, dass Biel für Journalisten Pressereisen anbietet und die Leute ansonsten mit ihren Attraktionen nach Biel lockt. Zudem solle der Stadtpräsident ein neues Projekt aufziehen. Den «Sonntagsblick»-Artikel hat Rothenbühler nicht gelesen, aber: «Dass die Homosexualität in Biel kein Thema war, ist sensationell. Das zeigt wie hochentwickelt die kulturelle und gesellschaftliche Toleranz in Biel ist.» Insgesamt komme Biel in der Berichterstattung in den nationalen Medien zu wenig gut weg. «Es gibt eine Tendenz, Biel als Stadt zu vieler Sozialfälle und zu vieler Muslime zu stigmatisieren. Das ist gefährlich, da muss man Gegensteuer geben.»
Das versucht Fehr derzeit. Auch die Pressereisen-Idee wird derzeit diskutiert. Allerdings will Fehr nicht einfach mit der Ankündigung eines neuen Grossprojektes positive Meldungen generieren: «Für die Grösse der Stadt sind wir, was Anzahl und Grösse der Projekte betrifft, derzeit stolz unterwegs. Jetzt setzen wir unsere Kraft in den Campus der Fachhochschule und die Detailarbeit bei Littering, Wohnqualität und so weiter. Das ist vielleicht ein Unterschied in unserer Kommunikation zu früher: Wir sprechen die Probleme an und arbeiten an ihnen. Gleichzeitig sprechen wir über die Vorzüge Biels. Wir haben das Ganze auf eine realistischere Ebene geholt.» Jetzt müssten nur noch die Journalisten aus Zürich den Realismus für sich entdecken.
Dieser Artikel erscheint heute im Bieler Tagblatt. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion durfte die Medienwoche den Text übernehmen.