Risiko bewusst in Kauf genommen
Seit Anfang Jahr gibt es in der Schweiz keine aktuellen TV-Zuschauerzahlen mehr. Technische Probleme mit der neuen Erhebungsmethode verzögern die Auslieferung der Daten. Der Quotenausfall hätte sich vermeiden lassen. Doch der Preis dafür wäre zu hoch gewesen. Die Branche reagiert auf die ungewohnte Situation mit einer Mischung aus Langmut und Irritation.
Nächste Woche soll es endlich so weit sein. Dann werden erstmals Zuschauerzahlen aus dem neuen Panel für den schweizerischen TV-Markt veröffentlicht. Das zumindest wollen gut informierte Kreise vernommen haben. Seit Anfang Jahr wartet die gesamte Fernsehbranche sehnlichst auf aktuelle Quoten. Aufgrund technischer Probleme mit der neuen Messmethode entschied sich die dafür verantwortliche Firma Mediapulse AG die Zahlen vorerst zurückzuhalten.
Neu werden zur Ermittlung der Quote in 2000 Schweizer Haushalten die Tonsignale der Fernsehprogramme erfasst und den jeweiligen Sendern zugeordnet («Audiomatching»). Damit lässt sich der TV-Konsum umfassender, wenn auch noch nicht vollständig, dokumentieren. Nicht mehr die Nutzung des Fernsehgeräts, sondern der Programme steht im Zentrum. Die Inbetriebnahme des von der Firma Kantar Media entwickelte und betriebene System ist nicht ohne Tücken, wie sich nun zeigt. So konnte bei identischen Programmen, die gleichzeitig auf verschiedenen Sendern ausgestrahlt werden, das Signal nicht einwandfrei dem richtigen Sender zugeordnet werden. Eine Freigabe von Daten – auch nur mit kleineren Unstimmigkeiten – sei deshalb ausser Frage gestanden, teilte Mediapulse am 15. Januar mit und kündigte eine Veröffentlichung bis spätestens Ende Januar an. Diesen Termin scheint man nun einhalten zu können.
Derweil steigt in der schweizerischen TV-Branche die Ungeduld. Man will nun endlich wissen, woran man mit den neuen Zahlen ist. Dominik Kaiser, Geschäftsführer der 3 Plus TV Network AG, beschreibt den quotenlosen Zustand als «ziemliche Katastrophe». Kaiser weiter: «Ohne Zuschauerzahlen kann man keinen Privat-TV-Sender sinnvoll betreiben. Die Zuschauerzahlen sind in jedem Bereich essentiell.» Ähnlich klingt es auch bei Ringier, die den französischen Sender TF1 in der Schweiz vermarkten. Man leide «sehr» unter der momentanen Situation, teilt Daniel Gauchat, Leiter TV-Vermarktung Ringier, mit. Selbst bei SRF, dessen kommerzieller Erfolg in geringerem Mass von der Quote abhängt, ist die anfängliche Gelassenheit einer steigenden Ungeduld gewichen. Gleichzeitig zeigt man aber auch Verständnis für die Verzögerung.
Das aktuelle Dilemma der TV-Branche auf den Punkt bringt Stephan Küng, Inhaber der Mediaagentur TWmedia: «Lieber eine Woche länger warten, dafür verlässliche Daten erhalten.» Lange mag aber auch Küng nicht mehr warten: «Wichtig ist, dass die Daten nun möglichst bald ausgeliefert werden und Mediapulse die Gewissheit schafft, dass die neuen TV-Quoten plausibel sind.» Küng sitzt als Präsident der Interessengemeinschaft Elektronische Medien IGEM im Stiftungsrat der Mediapulse Stiftung für Medienforschung, hat aber in dieser Funktion keinerlei Einfluss auf die aktuellen Vorgänge um die verzögerte Datenauslieferung.
Auch wenn nun allenthalben mit Unverständnis bis Empörung auf den missglückten Start des neuen TV-Panels reagiert wird, gibt es zumindest eine plausible Erklärung für die Verzögerung: Mit der nahtlosen Ablösung der alten Messmethode durch ein komplett neues System ging Mediapulse ein gewisses Risiko ein. Ohne zeitlichen Puffer mit der Überlappung der beiden Panels geriet die Einführung des neuen Systems zu einem ungesicherten Hochseilakt.
Der Grund für dieses Wagnis liege auf der Hand, meint Media-Spezialist Stephan Küng: «Eine Übergangsfrist mit einem Parallelbetrieb war offenbar aufgrund des sehr engen Timings und auch aus finanzieller Sicht nicht möglich gewesen.» Auch andere von der MEDIENWOCHE kontaktierte Fachleute teilen diese Einschätzung. Die Mediapulse AG will dazu keine Stellung nehmen. Geschäftsführer Manuel Dähler liess eine entsprechende Anfrage unbeantwortet.
Dähler bestätigt hingegen, dass Mediapulse zu einem früheren Zeitpunkt damit gerechnet hatte, dass nicht alles rund laufen und es zu einer Verzögerung bei der Auslieferung der Daten kommen könnte: «Aufgrgund des Testbetriebs im Dezember war dieses Szenario aber eher unwahrscheinlich.» Nun ist das Unwahrscheinliche eingetroffen. Alles halb wo wild, beschwichtigt Dähler: «So lange die Daten nachgeliefert werden können, ist diese Verzögerung zwar sehr unerfreulich, aber gerade noch tragbar.» Ob das die betroffenen Fernsehmacher, Vermarkter und Mediaagenturen auch so locker nehmen, wird ein mögliches Nachspiel zeigen. Heute geben sich alle bedeckt. Niemand will die Frage nach allfälligen Schadenersatzforderungen beantworten. Gut möglich, dass bereits in ein paar Tagen niemand mehr über die Panne spricht, weil dann die neuen Zuschauerzahlen für viel mehr Gesprächsstoff sorgen werden.
Matthias Giger 27. Januar 2013, 09:32
Das erinnert mich an den TV-kritischen Film „Free Rainer“. Dort stehen die Sender zwar nicht ohne Quoten da, aber sie werden von Aktivisten manipuliert, um die Information statt Unterhaltung auf die Schirme zu bringen. Ein Film, der einen zumindest nachdenklich stimmt.
Dazu passt, um den Bogen noch etwas weiter zu spannen, auch Kurt W. Zimmermanns aktuelle Kolumne in der Weltwoche „Intelektuelle Zeitenwende“ in der er schreibt, dass die Reality-Show „Dschungelcamp“, wenn nicht salon-, so doch feuilletonfähig geworden ist und den Öffentlich-Rechtlichen jeglicher Unterhaltungswert abhanden gekommen ist.
Ob im bimedialen SRF eifrig selbst beworbene Sendungen, die dann zur Primetime laufen, etwas daran ändern? Voice of Switzerland beispielsweise? Ein bisschen wohl schon, denn sonst wäre bereits Musicstar kaum in der Tagesschau beworben worden und die Prime Time würde ihrem Namen nicht mehr gerecht.
Unterhaltsamer als ein Feuilletonbeitrag (die Quotenschlusslichter der Tageszeitungen), der in Dschungelcamp Brüche mit der herrschenden Prädestinationslehre“ sieht, ist Voice of Switzerland mit Sicherheit.
Fazit: Medienkritik ist der Tacho in unserer Gesellschaft. Wenn sie die journalistischste aller Fragen stellt: Was zeigt uns das?