In der Restzeit-Falle
Angehende Journalisten kommen kaum mehr zum Lesen der Zeitung, zeigt eine Befragung von Journalistenschülern auf. Die Printmedien und auch das Fernsehen laufen Gefahr, zu Restzeitmedien zu werden. Ein Ausweg besteht im Wandel des Produkts.
Wer kennt sie nicht, die müden Schweizer Pendlergesichter, die oft mehr gelangweilt als interessiert die Gratiszeitungen durchblättern? Doch nun titelt Newsnet in einem, es sei durchaus zu bemerken, ganz ohne Autorenangaben daherkommenden Artikel: „Warum wir kaum noch Zeitung lesen“. Als Grundlage dafür dienen Aussagen von elf Journalistenschülern der Schule für Angewandte Linguistik (SAL). Liest man sich die einzelnen Statements durch, dann tauchen Printmedien in der Liste des täglichen Medienkonsums durchaus auf. Viele würden sehr gerne journalistisch wertvolle Printprodukte lesen, doch tatsächlich scheinen sie nicht mehr dazu zu kommen, es kaum mehr zu «schaffen». Sind Zeitungen nur noch ein verzichtbarer Luxus? Nur einer gibt an, jeden Morgen die abonnierte NZZ auf Papier zu lesen, Thomas Hügli, 42 Jahre alt. Von den anderen Befragten (22 bis 29 Jahre alt) lesen gerade mal zwei regelmässig Tageszeitungen (kombiniert mit Online-Angeboten).
In einem Vortrag 2012 hat Klaudia Wick das Fernsehen ein «Restzeitmedium» genannt:
Das Fernsehen, einst magischer Anziehungspunkt für unsere kollektive Aufmerksamkeit, ist zu einem Restzeitmedium geworden, das erst eingeschaltet wird, wenn wir für alles andere zu müde, zu zerstreut, zu ausgepowert sind.
In dieser Analyse werden sich einige wiedererkennen. Und auch den Printmedien droht die Veränderung vom Hauptzeitmedium zum Restzeitmedium. Fast jeder kennt Leute, die nicht zur Lektüre von Zeitungen kommen und ihre abonnierten Zeitungen ungelesen ins Altpapier legen.
Beobachte ich meine eigene Veränderung des Mediumkonsums seit Aufkommen des Internets, dann haben Printmedien und Fernsehen mit jedem Jahr weniger Zeit eingenommen. Zeitungen lese ich schon lange nicht mehr, um mich mit Neuigkeiten zu versorgen, sondern um diese einordnen zu können. Fernsehen funktioniert als Live-Medium und, selten, als Berieslungsmedium. Gegenüber früher konsumiere ich heute viel konkreter und gezielter, vor allem aber zeitunabhängig. Nur weil ein Stück oder eine Sendung heute im Programm ist, heisst das ja nicht, dass ich das auch heute konsumieren muss.
Abseits einer grösseren Medienaufmerksamkeit füllen heute viele ihr Medienzeit-Budget mit Fernsehserien, Filmen, Computerspielen, mit Aktionen im Netz – auf Kosten traditioneller Medien. Das Durchschnittsalter bei den Zuschauern des Schweizer Fernsehens war im ersten Quartal 2013 59 Jahre (SRF1) und 52 Jahre (SRF2). Die AG für Werbemedienforschung meldet ein Durchschnittsalter von 45 Jahren bei Zeitungslesern und 46 Jahren bei Zeitschriftenlesern (MACH Basic 2012-2, befragt wurden Personen ab 14 Jahren). Zum Vergleich: der US-Durchschnittsleser soll 55 Jahre alt sein (2008).
Wer sich von einer guten Zeitung zur Lektüre ein langen Stücks verführen lässt, fühlt sich nicht selten für den Zeiteinsatz belohnt. Der Alltag von vielen findet aber heute im Internet statt, sie stossen auf solche Artikel nicht per Zufall auf Seite 41, sondern per Zufall durch einen Link auf Twitter. Ob das Zeitungs-Paket oder das Fernseh-Programm, also die Auswahl durch Journalisten und Programmplaner, eine Zukunft hat, wird sich weisen. Das einzelne Atom, der Artikel, die Sendung, scheint immer wichtiger zu werden. Was geteilt werden kann, wird geteilt. Die Gefahr, dass der Rest irgendwann einfach vergessen wird, ist gross. Zu gross eigentlich, um der Abwanderung einfach nur zuzuschauen.
Ein Teil der Konsumenten wird auch in zehn Jahren Zeitungen auf Papier lesen und Fernsehen nach Programm sehen. Es fragt sich nur, wie gross diese Gruppe dann noch sein wird. Wer definitiv ausschliessen will, dass es seinem Produkt so ergeht wie Kodak mit seinen Rollfilmen, sollte versuchen, es den heutigen Nutzungsbedürfnissen anzupassen.
Bild 1: CC BY 2.0, Flickr/SFB579 🙂
Bild 2: CC BY-ND 2.0 Flickr/drukelly
Fred David 23. April 2013, 11:24
Mein täglicher Lesekonsum deckt sich ziemlich mit den Gewohnheiten und Erfahrungen des Autors, mit der Ausnahme, dass ich bestimmten Printmedien „Zeit“ und/oder „Spiegel“ regelmässig lese (mich auch manchmal dazu zwingen muss), hin und wieder „Economist“ und irgendein exotisches Magazin, das mich gerade reizt. Allerdings lese ich heute noch mehr Bücher als früher, ausschliesslich „auf Holzfaser“.
Ich habe schon früher festgestellt, dass Journalisten kaum Bücher lesen, mit Ausnahme von Klappentexten,was ich immer idiotisch fand.
Ein einziger Gang in einen gut sortierten Buchladen (diese Art, planlosen Schlenderns und Schmökerns geht nicht im Internet) liefert jede Mange Topmaterial für Story-Ideen, Hintergrundgeschichten, Interviews, Faktenmaterial etc. etc.
Man nimmt Kontakt mit Buchautoren auf und stösst dabei meistens auf eine gute Story.
Mir bleibt auch ein Rätsel, warum die unzähligen tollen Bildbände über alle erdenklichen Themen journalistisch völlig ungenutzt in Buchläden herumliegen, obwohl daraus mit relativ wenig Aufwand tollste Magazingeschichten zu produzieren wären.
Das alles natürlich mit Quellenverweis, da fällt keinem Journalisten was aus der nicht vorhandenen Krone. Es müssen dabei nicht mal Neuerscheinungen sein, dem Leser ist das doch wurscht, wenn die Story gut ist.
Lesen (egal ob digital oder Zellulose) schadet der Dummheit.
Matthias Giger 23. April 2013, 13:39
Lieber Ronnie Grob
Ich glaube nicht, dass Verlage nicht versuchen, ihr Produkt den heutigen Nutzungsbedürfnissen anzupassen. Das Problem ist vielmehr, dass heute die Nutzungsbedürfnisse noch zu unterschiedlich sind. Die Printzeitungen sind noch rentabel, Online kann man noch zu wenig Geld verdienen.
Kodak ist genau dies zum Verhängnis geworden, was der Havard-Professor Christensen als Innovator’s Dilemma beschrieb:
http://www.nieman.harvard.edu/assets/ebook/niemanreports/fall2012/NiemanReports-Fall2012CoverStory.pdf
Unter dem Gesichtspunkt hat Tamedia einen grossen Fehler begangen in punkto 20min online und Kannibalisierung der Print-Ausgabe.