von Silke Fürst

Die Masse als Massstab

Mit der wachsenden Angebotsvielfalt nimmt die Loyalität des Publikums zu einzelnen Medien ab. Um dem Publikum weiterhin ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln und Orientierung zu geben, berichten Medien zunehmend darüber, was bereits auf anderen Kanälen grosse Aufmerksamkeit erhalten hat. Damit etabliert sich ein neues redaktionelles Relevanzkriterium.

Weil sich die Aufmerksamkeit des Publikums immer mehr auf verschiedenste Angebote und Kommunikationskanäle verteilt, wird verstärkt das zum Thema in den Medien, was grosse oder unerwartete Resonanz erhält. So erfahren wir etwa aus dem Tages-Anzeiger, welche Prominenten mit ihren Twitter-Botschaften die meisten Menschen erreichen und wie viel Resonanz und politische Bedeutung die Facebook-Seite des afrikanischen Whistleblowers Baba Jukwa gewonnen hat. Auch über die Popularität von Unterhaltungsangeboten wird laufend berichtet: Angesichts sinkender Einschaltquoten macht Blick bekannt, dass der SRF mit seiner Samstagabendshow «nicht mehr ‚bi de Lüt‘» sei. Dagegen sei der Tatort im Internet «top», wie ein detaillierter Bericht zur Nutzung des zeitversetzen Fernsehens zeigt. Musiker wie Psy werden zu «Youtube Stars», die den «Klick-Rekord auf Youtube» brechen und eine «Milliarde Klicks» erzielen.

Aber auch die Informationssuche auf Internetseiten wird zum Thema gemacht: Blick am Abend listet regelmässig die «Top 3»-Sucheingaben bei Google auf, Spiegel Online informiert über die «Wikipedia-Magneten der Woche». Das Portal lässt uns bezüglich neuer Informationen zur Snowden-Affäre aber auch um die «hektische[n] Szenen am Moskauer Flughafen» wissen, bei denen «hunderte Kamerateams» um die besten Plätze «rangeln». In Ägypten haben die Muslimbrüder – die Resonanz einer Demonstration vorwegnehmend – bereits mehrfach zum «Marsch der Millionen» aufgerufen, was über die Nachrichtenagenturen verbreitet in zahlreichen Medien als dankbare Schlagzeile aufgegriffen wurde.

Orientierung an öffentlicher Aufmerksamkeit
So unterschiedlich diese Berichte auch sind – ihnen gemeinsam ist die Orientierung an öffentlicher Aufmerksamkeit. Sie machen bekannt, dass etwas Bekanntheit erlangt oder verloren hat. Zum Teil nehmen sie auch vorweg, dass etwas Resonanz erhalten und zum wichtigen Gesprächsthema und Geschehen werden wird. Vor dem Hintergrund einer enormen Informations- und Angebotsfülle werden dem Nutzer damit Meta-Informationen an die Hand gegeben, und zwar Informationen zur Publikumsresonanz, zur Medienresonanz und zur Veranstaltungsresonanz.

Bei Publikumsresonanz geht es in der Regel um grosse Publika: Interessant ist, was von vielen Menschen genutzt und wahrgenommen wird. Am Beispiel des Blick-Berichts zum SRF wird aber klar, dass auch vergleichsweise geringe Resonanz berichtenswert wird, und zwar dann, wenn eine grössere Aufmerksamkeit erwartet werden konnte. Meistens werden hierbei genaue oder pauschale Nutzungszahlen («Millionenpublikum») vermittelt. Berichtet wird über Quoten und Reichweiten, Klicks und Rankings, Auflagen und Verkaufszahlen.

Aber auch ohne Zahlen können Journalisten ihren Nutzern das Gefühl geben, dass bestimmte Ereignisse von allen als wichtig genommen werden (z.B. durch Formulierungen wie: «die ganze Welt Nation schaut nach…zu»). Solche Medienberichte bieten Nutzern die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen und deren Nutzungsverhalten in Beziehung zu setzen. Es entstehen Vorstellungen von Nutzungsgemeinschaften, an denen man selbst Teil haben oder von denen man sich distanzieren kann. Dadurch stehen nicht allein die Ereignisse und Angebote im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern die öffentliche Aufmerksamkeit selbst.

Viele Journalisten = wichtig
Im erwähnten Spiegel-Bericht zur Snowden-Äffare geht es nicht direkt um das Publikum, sondern um die Resonanz, die bei den Medien ausgelöst wird. In diesen Fällen wird dargestellt, dass etwas eine übergreifende mediale Berichterstattung erfährt, zum Beispiel dadurch, dass die Anwesenheit von zahllosen Journalisten genannt oder gezeigt wird. Dem Nutzer wird gewissermassen eine kaum zu ermessende Publizität vor Augen geführt. In TV-Nachrichten wird diese Präsenz durch unterschiedliche Mittel in Szene gesetzt: etwa durch den Blick auf eine gedrängte Menge von Kameras und Kamerastativen, durch das Fokussieren auf die Anzahl der Mikrofone, in die eine Person spricht, oder durch Bilder, in denen regelrechte «Blitzlichtgewitter» zu erkennen sind.

Aber auch sprachliche Verallgemeinerungen wie «in den Medien heisst es» vermitteln dem Zuschauer, Hörer und Leser die Vorstellung, dass ein Thema starke und kaum zu umgehende öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Nutzer weiss in diesen Fällen nicht nur, dass etwas stattfindet, sondern bekommt zugleich den Eindruck vermittelt, dass dies auch alle anderen Menschen vermittelt bekommen («es ist in aller Munde»).

Und schliesslich machen uns auch Teilnehmerzahlen von lokalen Veranstaltungen darauf aufmerksam, dass etwas die Aufmerksamkeit vieler Menschen an sich zieht. Die Zahl derer, die an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, an politischen wie kulturellen, gilt gemeinhin als Massstab für die Bedeutung dieser Veranstaltung. Deshalb streiten sich bei Demonstrationen auch regelmässig Veranstalter, Polizei und Behörden darüber, welche Teilnehmerzahlen an die Presse weitergegeben werden. Häufig wird nur über jene Veranstaltungen berichtet, die mit eindrücklichen Zahlen und Bildern zur erzeugten Resonanz belegt werden. Mit den Worten des renommierten Soziologen Dieter Rucht: «Wenn Menschenmassen zusammenkommen, rückt dieser Vorgang unweigerlich in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit.» Eine Demonstration als «Marsch der Millionen» anzukündigen, ist daher Strategie: Sie erscheint bereits als gewichtig, noch ehe sie stattgefunden hat.

Kein gänzlich neues Phänomen
Solche Formen der Aufmerksamkeitserzeugung haben offenkundig zugenommen, wenngleich es sich nicht um ein gänzlich neues Phänomen handelt. Je knapper Aufmerksamkeit wird, desto mehr Meta-Informationen werden generiert und als Orientierungsmöglichkeit angeboten. Beispielsweise sind mit der Expansion des Buchmarktes mehr und mehr Bestsellerlisten entstanden, die das ungeheure Angebotsspektrum überschaubar machen und aufzeigen, was man derzeit liest.

Innerhalb der letzten 30 Jahre hat eine enorme Vervielfältigung von Medienangeboten aller Art stattgefunden. Die Entstehung zahlreicher Special-Interest-Angebote, die Etablierung sozialer Netzwerke und die Möglichkeit zu flexibler und zeitversetzter Nutzung haben zur Individualisierung der Mediennutzung beigetragen. Vorbei sind damit die Zeiten, in denen sich die Mehrzahl der Menschen wie selbstverständlich häufig zeitgleich dasselbe anschaute.

Gemeinsame Gesprächsthemen
Angesichts dieser Entwicklungen befürchteten Kommunikationswissenschaftler bereits vor vielen Jahren, dass gemeinsame Gesprächsthemen und die Bündelung von gesellschaftlicher Aufmerksamkeit schwieriger werden würden. Eine Antwort auf den Medienwandel ist aber offenkundig die Konzentration auf jenes Geschehen, das öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt hat. Es stehen, wie die obigen Beispiele zeigen, immer mehr Daten und Zahlen zur Verfügung, die uns zeigen, was starkes Interesse auslöst. Journalisten greifen solche Daten auf, unterstreichen damit die Relevanz ihrer Themen und tragen zur Verstärkung von Aufmerksamkeit bei.

Das Internet spielt dabei eine besondere Rolle. Es verfügt über vielfältige Formen der Nutzertransparenz. Dazu zählen etwa die aktuelle Anzahl von Nutzungszugriffen und die Auflistung meistgenutzter Angebote. Mit diesen Informationen lässt sich schnell ein Überblick darüber gewinnen, was gerade angesagt ist und das Interesse und die Gemüter bewegt. Von solchen Daten können sich Journalisten in ihrer Auswahl von relevanten Themen leiten lassen. Und ihren Nutzern zugleich vor Augen führen, warum das Thema so wichtig ist.

Positiv gewendet, tragen Journalisten mit solchen Informationen und Themen zur Orientierung ihrer Nutzer bei und erleichtern gemeinsame Gesprächsthemen. Aber wird unser Blick damit immer auf die wirklich wichtigen Themen gelenkt? Geht es um Fakten, oder werden nicht auch Hypes beflügelt oder gar erst ausgelöst? Gerade die an Medienangeboten und Veranstaltungen beteiligten Organisationen und Personen haben ein grosses Interesse daran, die Resonanz als möglichst gross auszugeben. So wird den Medien häufig schon vorab mitgeteilt, dass etwas grosses Interesse finden wird. Dahinter steht das Kalkül der selbsterfüllenden Prophezeiung: Von wem geglaubt wird, dass er grosse Aufmerksamkeit auf sich zieht, der wird auch grosse Aufmerksamkeit erhalten.

Millionen, Milliarden
Die ganz grossen Medienereignisse zeigen, dass diese Strategie lebt und funktioniert. Eurovision Song ContestFussball-Weltmeisterschaften oder königliche Hochzeiten: Immer berichten die Medien schon vorab, wie viele Millionen und Milliarden Menschen in Europa und auf der ganzen Welt an diesen Ereignissen teilhaben werden. Eine aktuelle Studie zur jüngsten Hochzeit im britischen Königshaus zeigt, dass die Medien schon Monate im Voraus über die Resonanz des Ereignisses berichteten.

Noch vor der Hochzeit erfuhren wir aus Boulevardmedien und überregionalen Qualitätszeitungen, dass William und Kates Vermählung von Milliarden Zuschauern auf der ganzen Welt vor den Bildschirmen verfolgt werden würde. Auch wurde vielfach angekündigt, dass mehr als 8000 Journalisten die Bilder in die ganze Welt tragen und hunderttausende Menschen das Ereignis vor Ort sehen würden. Die prophezeite Publikums-, Medien- und Veranstaltungsresonanz kulminierte dann in Charakterisierungen wie «die Jahrhunderthochzeit» und «die grösste Show der Welt».

Wer nun nach den Grundlagen dieser Erwartungen fragt, wird sich enttäuscht und getäuscht sehen. Die Medien haben weitgehend unkritisch das als Fakt genommen, was das britische Staatssekretariat für Kultur, das britische Fremdenverkehrsamt und das Londoner Stadtmarketing als absehbare (für sie wünschenswerte) Resonanz postuliert hatten. Messungen und Hochrechnungen von tatsächlichen Zuschauerzahlen waren auch nach dem Ereignis Mangelware. Stattdessen wurden danach jene Zahlen weiterverbreitet, die bereits vorher die Agenda bestimmt hatten.

Erwartete Resonanz wird vorab Thema
Die Tagesschau wusste noch am gleichen Abend von der «Märchenhochzeit vor Milliarden Zuschauern» zu berichten, die NZZ am Sonntag stimmte in den von zwei Milliarden Menschen gefeierten «Globalen Liebesrausch» ein. Inzwischen hat sich mit der Geburt von Prinz George das nächste royale Medienereignis eingestellt, bei dem nicht nur wochenlang viele Details berichtet wurden, sondern auch hier die Resonanz selbst zum Thema wurde. So weiss Spiegel Online bereits vor der Geburt des neuen «Werbeträgers der Monarchie»: «Das Baby löst nun die nächste Welle der Monarchiebegeisterung aus – zumindest in Presse und Fernsehen.» Und Bild.de behauptet: «Alle warten auf das Royal Baby.»

Der Angebots- und Informationsvielfalt und der sich verteilenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zum Trotz: Hochburgen der Aufmerksamkeit gibt es also noch immer. Und sie entstehen besonders dadurch, dass einmal hergestellte oder vorhergesagte Aufmerksamkeit für weitere Aufmerksamkeit sorgt und sich zunehmend als redaktionelles Relevanzkriterium etabliert. Gerade weil diese selbstverstärkende Wirkung von Organisationen und Unternehmen einkalkuliert wird, zeichnet sich guter Journalismus durch den bedachten Umgang mit PR-Informationen aus. Angaben und Voraussagen zu hoher Resonanz bringen zwar gute Schlagzeilen, aber nicht immer die wichtigsten Themen und Perspektiven.