von Nick Lüthi

«Wer nicht dazu steht, hat den Beruf verfehlt»

Mehr als 120 Redaktorinnen und Redaktoren des Tages-Anzeigers unterzeichneten einen Protestbrief an die Tamedia-Unternehmensleitung. Die Namensliste wurde alsbald publik. Zum Unmut einzelner Betroffener. Veröffentlicht hat sie als Erster der preisgekrönte Walliser Journalist Kurt Marti – aus guten Gründen, wie er findet.

Wäre es nach den Organisatoren des Protests gegangen, hätte bis heute niemand erfahren, woran sich der Unmut von Teilen der Tagi-Redaktion entzündet im Zusammenhang mit dem laufenden Konvergenzprozess. Nur so viel waren sie bereit, öffentlich preiszugeben: «Wir haben ein fünfseitiges Papier erstellt mit kritischen Punkten zur Konvergenz. Und 121 Leute haben es unterschrieben.» Es hätte eine redaktions- und verlagsinterne Auseinandersetzung bleiben sollen. Auf die mediale Begleitmusik von Konkurrenz und anderen Beobachtern wollten die Unzufriedenen verzichten. Bekanntlich blieb dies ein frommer Wunsch. Kaum gesagt, leckten die Dokumente auch schon munter aus der Redaktion und auch ausserhalb der Redaktion konnte man sich ein Bild von den Konvergenzwehen beim Tages-Anzeiger machen.

Nun mag man es für reichlich naiv halten, elektronische Dokumente einer breiteren Öffentlichkeit vorenthalten zu wollen, die auf einer Redaktion zwischen mehr als 200 Medienschaffenden zirkulieren; erst recht, wenn nicht alle dahinterstehen, die sie einsehen konnten. Das Leck war also vorprogrammiert. Was zumindest im Fall der Namensliste nicht hätte sein müssen. Auch 2013 lässt sich ein Dokument handschriftlich signieren.

Da lagen also die Liste mit 121 Namen und die Protestnote in ein paar Mailboxen ausserhalb der Tages-Anzeiger-Redaktion. Und allmählich begann der Inhalt durchzusickern. Zuerst wurde auf Twitter daraus zitiert, bis schliesslich die Nachrichtenplattform infosperber.ch und ihr Autor Kurt Marti die beiden Dokumente unter einem Artikel zum Thema integral veröffentlichten. Danach verlinkten etliche andere Medien darauf. (Indirekt auch die MEDIENWOCHE, die prominent auf einen externen Artikel verwiesen hat, der den Link zur Liste enthielt.)

Vereinzelte Redaktorinnen und Redaktoren, die das Protestschreiben unterzeichnet hatten, sahen ihre Namen plötzlich prominent in der Branche herumgereicht – und fanden das gar nicht toll. Sie hielten die Veröffentlichung für «fahrlässig» und für die Berichterstattung «irrelevant». Diese Einschätzung teilten notabene auch Redaktoren, die das Dokument nicht unterschrieben hatten. Ebenso der Journalistenverband impressum, dessen Geschäftsführer es für eine Selbstverständlichkeit hält, die Namensliste nicht publik zu machen.

Wieso also gelangt Kurt Marti, ein Reporter mit einschlägiger Erfahrung im Umgang mit heiklen Informationen, zu einem anderen Schluss und entschied sich für die Veröffentlichung? Auf Anfrage der MEDIENWOCHE begründet Marti den Schritt mit dem Rollenverständnis der Journalisten: «Die Namenliste ist von öffentlichem Interesse, weil JournalistInnen keine gewöhnlichen BürgerInnen sind, sondern im Dienste der Öffentlichkeit stehen.» Und weiter: «Wenn JournalistInnen aus Angst vor Konsequenzen nicht mit ihrem Namen öffentlich zu Ihrer Meinung stehen dürfen, haben sie den Beruf verfehlt. Wer nicht schwindelfrei ist, sollte nicht Felskletterer werden.» Seinen Beitrag als Leaker hält Marti zudem für bescheiden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung habe die Liste längst schon weite Kreise gezogen: «Wer eine Liste geheim halten will, wählt sicher nicht den Weg über ein breit gestreutes Mail.» Die Kritik von Redaktoren an der Veröffentlichung relativiert er mit der Zustimmung anderer Tagi-Mitarbeiter zu einer Publikation. «Die Stimmen halten sich die Waage.»

Bei aller Plausibilität dieses Vorgehens bleibt die Frage nach der Verantwortung, die Kurt Marti auf sich lädt, sollte irgendwann tatsächlich ein Unterzeichner Nachteile erfahren aufgrund seiner Signatur. Marti äussert sich dazu nicht direkt, jedoch sein Redaktionskollege Robert Ruoff, der ihn sekundiert: «Es stellt sich dann, selbstverständlich, die Frage der Solidarität im Fall von repressiven Massnahmen.» Das bleibt vorerst ein hypothetisches Szenario. Im vorliegenden Fall hätte aber Solidarität bedeuten können, auf eine Veröffentlichung der Namen zu verzichten und die Liste nur als Recherchematerial zu benutzen. Denn die Namen tun tatsächlich wenig bis nichts zur Sache, um den Unmut in der Tagi-Redaktion angemessen vermitteln und öffentlich diskutieren zu können. Das hat Marti übrigens in seinem Artikel selbst bewiesen. Ging er doch in seinem Text mit keinem Wort auf die Namen ein.

Leserbeiträge

Robert Ruoff 19. November 2013, 17:22

Lieber Nick,
Du hast meine Aussage zur Solidarität ohne den Zusammenhang zitiert. Das ist soweit ok. Aber vielleicht ist meine ganze Aussage im Mail an Kurt Marti (cc: an Dich) von Interesse. Sie lautet:

Wenn ich mich mit all den aktuellen Fragen der Überwachung und Kontrolle beschäftige, ist eine Schlussfolgerung ganz klar: es gehört zur Sicherung der Freiheit im öffentlichen Raum, dass wir mit unseren Positionen und Überzeugungen auch öffentlich antreten und auftreten. Sonst betreiben wir – mit vorauseilendem Gehorsam sozusagen – das Geschäft derjenigen, die eben diese Freiheit einschränken wollen, aus welchen Gründen auch immer.

Selbstverständlich gilt das nicht für private Angelegenheiten – aber der Disput im Tages-Anzeiger (und anderswo) ist nun gewiss von öffentlichem Interesse. [Wie die Qualität der Medien insgesamt.]

Es stellt sich dann, selbstverständlich, die Frage der Solidarität im Fall von repressiven Massnahmen. Die heutige Schwäche der Position der Journalisten (und ihrer Verbände) ist wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass diese sich seit wohl 20 Jahren (oder mehr?) sehr viel haben gefallen lassen. [Dazu gehört gegenwärtig zum Beispiel der Umgang der Verleger mit impressum – und die Haltung von impressum gegenüber den Verlegern.] Das hat insgesamt zu einem eigentlichen roll back und dem Verlust ehemaliger Errungenschaften (Mitsprache, Mitbestimmung, Redaktionsstatute usf) geführt [zum Beispiel im Tages-Anzeiger].

Ein bisschen Mut darf man, ich würde sogar sagen: muss man erwarten. Sprich: auch öffentlich zu einem berechtigten Anliegen zu stehen, das die Öffentlichkeit notwendigerweise interessiert

Herzlich,

Robert

Nick Lüthi 19. November 2013, 23:11

Im Sinne der vollständigen Transparenz, hier auch noch die komplette Stellungnahme von Kurt Marti:

Die Kritik an der Publikation der Namenliste stammt von einigen, wenigen RedaktorInnen, die sich auf Twitter äusserten. Daneben gibt es auch solche, die die Publikation der Liste befürworten. Die Stimmen halten sich die Waage.

Die Namenliste wurde dem TA-Chefredaktor Res Strehle und dem VR-Präsident Pietro Supino von den UnterzeichnerInnen per Mail übermittelt und folglich war sie der Chefredaktion und dem Verlag bekannt. Zudem ging eine Kopie des Mails mit der Namenliste auch an die TA-Redaktion. Als Infosperber die Liste publizierte, hatte die Liste schon längst weitere Kreise gezogen. Wer eine Liste geheim halten will, wählt sicher nicht den Weg über ein breit gestreutes Mail.

Ich stelle fest, dass der aktuelle Aufmacher der Medienwoche aus der Feder von Medienwoche-Redaktor Ronnie Grob auf die Namenliste auf infosperber.ch verlinkt. Folglich ist auch die Medienwoche der Ansicht, die Liste biete den LeserInnen einen Erkenntnisgewinn. Vom Erkenntnisgewinn durch die Publikation der Namenliste konnte übrigens auch Medienwoche-Redaktor Nick Lüthi profitieren. Sonst hätte er sich nicht auf Twitter angeregt darüber unterhalten können und insbesondere auch nicht folgern können: «Die Liste der Nichtunterzeichner ist lang, sehr lang. Sieht ganz nach einer gespaltenen Redaktion aus.» Die Publikation der Namenliste fördert ganz offensichtlich den öffentlichen Diskurs und führte übrigens auch dazu, dass sich TA-Redaktor Constantin Seibt nachträglich dem Protest anschloss, weil er es vorher verpasst hatte.

Die Namenliste ist von öffentlichem Interesse, weil JournalistInnen keine gewöhnlichen BürgerInnen sind, sondern im Dienste der Öffentlichkeit stehen. Wenn JournalistInnen die Verantwortlichen ihres Medienproduktes kritisieren, dann ist es ein Gebot der Transparenz, wenn die LeserInnen über den Inhalt der Kritik und die Namen der KritikerInnen informiert werden. Wenn nicht durch das betreffende Blatt, so doch durch andere Medien. Die LeserInnen sollen wissen, welche JournalistInnen mit der Strategie der Chefredaktion und des Verlags ihres Blattes nicht einverstanden sind. Wenn JournalistInnen aus Angst vor Konsequenzen nicht mit ihrem Namen öffentlich zu Ihrer Meinung stehen dürfen, haben sie den Beruf verfehlt. Wer nicht schwindelfrei ist, sollte nicht Felskletterer werden.

Frank Hofmann 20. November 2013, 09:01

Diese Namensliste ist keineswegs von öffentlichem Interesse, sondern eine rein interne Angelegenheit. Ob Journalisten „keine gewöhnlichen Bürger“ sind, könnte man ebenfalls in Frage stellen. Die Formulierung ist nicht frei von Überheblichkeit. Ganz abgesehen davon, dass auf der Liste nicht nur Journalisten figurieren oder dann solche, deren politische Einstellung nicht durch ihre Artikel sichtbar wird bzw. werden soll (Sport etc.). Als ehemaliger TA-Leser und früherer -Mitarbeiter ziehe ich immerhin einen Gewinn aus der Veröffentlichung: Man sieht, wer immer noch dort am Werk ist.

F. Perren 24. November 2013, 12:16

Die Liste zeigt nicht, wer da am Werkeln ist, sondern wer als Journalist seiner Berufung folgt, seiner Aufgabe engagiert und mutig nachgeht. Es sind unter anderem genau diese Eigenschaften, die einen guten Journalisten von einem schlechten Bürger unterschieden. Und: Die Liste ist von öffentlichem Interesse, weil es von letzteren immer mehr, von ersteren immer weniger gibt.

Urs Thalmann 21. November 2013, 02:01

Lieber Nick, darf ich präzisieren? Mit dem Sekretär, den Du nennst, meinst Du wohl eigentlich den Geschäftsführer. Und, ja, dieser hält es selbstverständlich, dass der Verband der Journalistinnen – eben impressum – die Namen nicht publik macht. Was andere machen, beurteilen wir damit aber nicht! Die Pulbikation wäre aber nicht unser Job. Wir sind dafür da, die Kolleg(inn)en zu schützen und zu verteidigen. Haben wir die Wahl, entscheiden wir uns darum für den Weg, der sie weniger gefährdet. Das ist unser Job, denn wir sind – im Gegensatz zu Euch – kein Informationsmedium. Jedem Seine Rolle… oder? Herzlicher Gruss, Urs

Erich Schwyn 12. Oktober 2016, 15:24

Die Schweiz im Auverkauf
Was die Altvorderen erkämpft und Gewerbe, Industrie und Dienstleister bis ans Ende der sozialen Marktwirtschaft gestaltet und ausgebaut haben, wird nun offenbar an ausländische Geldherrscher (Plutokraten) verscherbelt. Seit der Neoliberalismus ab Mitte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts sich in der Schweizerischen Wirtschaft pausbäckig breit macht, reden Wirtschaftsführer und Politiker nur noch vom Geld. Und je mehr sie vom Geld reden, desto weniger scheinen sie davon zu haben. Nachdem Finanzdienstleister die Finanzwirtschaft und als Folge davon auch die Realwirtschaft 2007/2008 grossartig an die Wand gefahren haben, scheinen sich viele Firmen davon nur schlecht zu erholen. Ausländische Geldgeber mögen den CEO’s der betreffenden Firmen eine Verschnaufpause bescheren. Dann haben sie zwei Optionen. Entweder wird die Produktion nach einiger Zeit ins Ausland verlegt, oder sie bleibt wirklich in der Schweiz. In unserer Bundespolitik kennen wir den Lobbyismus in jeder Form und vor allem in den Wandelhallen der Bundesparlamente. Unsere Parlamentarier sind Interessenvertreter der Wirtschaft. Es ist nicht verboten, dass Chinesen und Araber in den Wandelhallen lobbyieren, sofern sie gesetzeskonform angemeldet sind. Nur sind das Leute, die von der Kultur der Schweizerischen Direktdemokratie und dem Arbeitsfrieden keine Ahnung haben. So besteht die akute Gefahr, dass die Schweizerische Politik über den Lobbyismus der Wirtschaft demokratiefeindlich und schweizfeindlich beeinflusst wird. Wie weit wir da schon sind zeigt sich darin, ob das Wort noch frei ist, oder ob versucht wird, diese negativen Zustände in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien zu ignorieren.