Mittendrin statt nur dabei – ob ich will oder nicht
Streaming-Dienste wie Periscope oder Facebook Live bringen den Zuschauer mitten ins Geschehen, live und unzensiert. Wie wichtig die Gatekeeper-Funktion von professionellem Journalismus angesichts dieser neuen Konkurrenz ist oder sein müsste, hat unsere Kolumnistin in den letzten Tagen gleich mehrfach erlebt.
Es war der 14. Juli, ein normaler Donnerstagabend, mein Freund und ich lagen auf dem Sofa, assen Chips und schauten uns eine DVD an. Ein Horrorfilm mit allem, was dazu gehört: Spannung, Gänsehaut und ja, auch Leichen und Blut, sehr viel Blut. Dass ich bald vom fiktiven zum realen Horror wechseln würde, hätte ich da noch nicht geahnt.
Als der Abspann des Films lief, schaute ich auf mein Handy. Mehrere Push-Meldungen füllten das Display: irgendwas mit Nizza, einem weissen LKW und Todesopfern. Zwei, drei Daumenwische auf Twitter später erschien ein Video in meinem Feed, das sogleich zu laufen begann. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, was da gezeigt wurde: Die Promenade des Anglais, gesäumt von leblosen Körpern in ihrem eigenen Blut, gefilmt von einem Mann, der von Leiche zu Leiche lief und unentwegt fragte: «C’est quoi ça?» Irgendjemand hatte den Persicope-Live-Stream in meinen Feed geteilt.
Live-Streaming-Dienste wie Periscope oder Facebook Live werden immer beliebter. Gemeinsam erreichen die beiden Kanäle weltweit gegen zwei Milliarden Nutzer. Diese eröffnen mit ihren Streams einen neuen, unmittelbaren Blick auf alles, was in der Welt gerade geschieht. Damit sind jedoch auch Gefahren verbunden, die weit über die Fragen von Daten- und Persönlichkeitsschutz hinausgehen. So werden die Zuschauer immer öfters Zeugen verstörender Szenen (http://www.watson.ch/Digital/Facebook/873692061-Schl%C3%A4ge–Schiessereien–Suizide–Immer-wieder-filmen-Nutzer-bei-Periscope-und-Facebook-verst%C3%B6rende-Ereignisse).
Im professionellen Journalismus hingegen wird traditionsgemäss auf das Zeigen von Bildern mit Leichen oder Gewalt verzichtet. Zwar verletzten redaktionelle Medien diese Regel vermehrt, aber der Nutzer weiss immerhin, von welchen Titeln er solch unethisches Verhalten erwarten muss. Aber auch dahinter steckt meist ein aktiver Entscheid: Ja, wir zeigen es. Der Journalist fungiert dabei als Gatekeeper, als «Schrankenwärter», der entscheiden kann, was er zeigt wird und was nicht.
So auch Richard Gutjahr. Der Deutsche Journalist und Blogger befand sich zur Zeit des Anschlags in Nizza und hielt die Fahrt des weissen LKWs in die Menschenmenge auf seinem Handy fest – noch ohne zu wissen, welches Drama sich da gleich abspielen wird. Das Video zeigt zwar keinen expliziten Inhalt. Trotzdem hat sich Gutjahr dagegen entschieden ((http://www.spiegel.de/politik/ausland/richard-gutjahr-journalist-filmte-den-anschlag-von-nizza-a-1103106.html), das Material bei Twitter oder Facebook zu veröffentlichen. «Stattdessen habe ich alles an die Redaktion des WDR geschickt. Dort entscheiden Profis, was veröffentlicht werden sollte und wie.»
Auch die TV-Stationen, die ich die Nacht hindurch beobachtet habe, verzichteten darauf, solche Bilder zu zeigen. Auf CNN warnte die Sprecherin gar explizit davor, sich diese Videos anzuschauen und bat darum, sie nicht zu teilen – aus Respekt vor den Angehörigen und den Opfern. Denselben Appell hatte zuvor auch die Französische Polizei auf Twitter verbreitet. Tags darauf rief auch SRF3 (https://api.crowdradio.de/cdn/i/1/b/cr-3-p/c/l-srf-srf-3/t/1/f/container/n/7cbc38fb-0bc9-45d6-ae14-eed5a8d627b9/e/html) unter dem Hashtag #caredontshare zu Mitgefühl statt Sensationsgier auf.
Wie vergänglich dieser hehre Vorsatz sein kann, zeigte sich keine 24 Stunden später, am Abend des 15. Juli als ich erneut unverhofft Push-Meldungen auf meinem Handy sah: ein Putschversuch in der Türkei, Tumulte in Istanbul und Ankara. Statt auf Twitter zu klicken, zappte ich diesmal direkt auf CNN. Und konnte meinen Augen kaum glauben: Die TV-Station, die noch am Abend zuvor davor warnte, sich verstörendes Videomaterial anzuschauen, zeigte fast genau so verstörende Live-Bilder von Istanbul. Menschen auf der Bosporus-Brücke, die leblose Körper weg trugen, ein offenbar verletzter Mann, der sich hinter einer Leitplanke in Sicherheit legte, und eine Gruppe von Personen, die einen Panzer belagerten, während in unmittelbarer Nähe Schüsse fielen.
Auch wenn die Bilder aus Istanbul, die CNN sendete, weniger blutig waren, so schockierten sie mich doch mehr als das Video der mit Leichen gesäumten Promenade in Nizza. Bei Letzterem war es ein offenbar geschockter Mann, der – aus welchen Gründen auch immer – das Grauen live gefilmt hat, ohne sich dessen Wirkung bewusst zu sein. Bei den Bildern aus Istanbul hingegen waren es Medienprofis, die sich entschieden haben, solche Livebilder über den Sender laufen zu lassen, unzensiert und kommentiert von Sprechern, die sich genau so erstaunt darüber zeigten, was da gerade live in die Welt hinaus getragen wurde. Gatekeeper: Fehlanzeige.
Das Beispiel zeigt, dass Live-Streaming bei Ereignissen von öffentlichem Interesse wie jenen in Nizza oder in der Türkei auch den Journalismus vor neue Herausforderungen stellt. Noch bevor sich die Journalisten vor Ort ein Bild machen können, kursiert bereits eine Fülle an Videomaterial im Netz. Die Konkurrenz, das sind nun nicht mehr nur die anderen Medien, sondern potenziell alle Personen vor Ort, die als Laien-Reporter schnell eine grosse Reichweite erreichen können.
Es gibt zwei Möglichkeiten für Medienschaffende, auf diese neue Konkurrenz zu reagieren: Entweder sie berufen sich auf ihre Funktion als Gatekeeper wie Gutjahr und Co. und bewahren so ihre Glaubwürdigkeit, indem sie das Geschehene abbilden und gleichzeitig die Opfer und deren Angehörigen schützen. Oder sie wollen mithalten mit dem, was in den Sozialen Medien ungefiltert verbreitet wird. Welche der beiden Wege der Glaubwürdigkeit eines Mediums nützt oder schadet, hängt von dessen ethischen Grundsätze und dem Geschäftsmodell ab. So oder so werden redaktionelle Medien nicht darum herumkommen, eine eigene Live-Video-Strategie auszuarbeiten. Das haben die Vorfälle in Nizza und Istanbul einmal mehr deutlich gemacht.
Roger Doelly 19. Juli 2016, 02:42
Zum Glück ist Carmen Epp Gatekeeperin bei der «Tierwelt» und nicht bei CNN. Angesichts dieser Tragödie in Nizza wirken ihre Befindlichkeiten pietätlos. Sie gehören in ein persönliches Tagebuch. Hier erwarte ich jedoch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema. Apropos:
Schade. Nicht einmal den Mut gehabt, diese Titel zu benennen. Geschweige denn, konkret auf deren Fehlverhalten einzugehen.