Der Fluch der Verwandtschaft oder befangen als Cou-Cousine
Als gebürtige Urnerin kann unsere Kolumnistin an ihrer Wirkungsstätte auf ein grosses verwandtschaftliches Netzwerk zurückgreifen. Das bringt im Journalismus Vor-, aber auch Nachteile.
Kürzlich habe ich für einen Artikel eine Urner Kulturschaffende kontaktiert. Auf mein «Sehr geehrte Frau …» antwortete Sie per Mail mit «Liebe Carmen» und in Klammern: «Wir sind doch Cou-Cousinen, oder?» Ich war verwirrt. Wenn diese Kulturschaffende, über die in den Urner Medien immer mal wieder berichtet wird, tatsächlich meine Cou-Cousine wäre, würde ich das doch wissen – dachte ich mir. Trotzdem: Unmöglich schien mir das Ganze nicht.
Epp ist ein in Uri häufiges Geschlecht. Gemäss Datenblog des Tagesanzeigers sind 147 Personen im Kanton Uri mit diesem Namen im Telefonbuch eingetragen, die meisten davon in meinem Bürgerort Silenen, wo auch ein Grossteil meiner – mir bewusst bekannten – Verwandtschaft herkommt. Meine Mutter hiess ledig Tresch, ein noch häufigerer Name in Uri. Und meine Pflegefamilie, die ich auch zu meiner Verwandtschaft zähle, trägt gar den zweithäufigsten Urner Familiennamen: Arnold.
Zwar sind nicht alle Epp, Tresch und Arnold im Kanton Uri automatisch miteinander verwandt. Sie stammen von unterschiedlichen Linien ab – in meinem Fall sind es die Epp «vo z’Lochä», die Tresch «vom Steihüüs» und die «Bärcheler»-Arnold. Kommt hinzu, dass durch Anheirat die Familiennamen weitergetragen, die eigene Verwandt- und Anverwandtschaft vergrössert wird. Insofern greift das viel bediente Klischee zu kurz, in Uri seien sowieso alle miteinander verwandt.
So verwundert es nicht, dass sich meine Verwandtschaft auch auf meine Arbeit als Lokaljournalistin auswirkt. Und zwar im positiven, wie auch im negativen Sinn. Je grösser die Verwandtschaft, desto grösser ist auch das Netzwerk, von dem man profitieren kann. So habe ich schon einiges erfahren am Mittagstisch, das mein Pflegevater von seinem Cousin gehört hat, der es wiederum aus sicherer Quelle von dessen Bruder wusste – Informationen also, an die ein Zugezogener ohne verwandtschaftliches Netzwerk wohl so nie gekommen wäre.
Gerade bei heiklen Themen kann aber genau dieses Verwandtschaftsverhältnis meine Arbeit als Lokaljournalistin auch einschränken. Ist mein Bruder, meine Cousine, mein Onkel oder meine Schwägerin in einen Skandal verwickelt, kann und will ich nicht darüber schreiben. Nicht, um meine Verwandtschaft zu schonen, sondern weil mir die nötige journalistische Distanz fehlen würde. Und so muss ich unter Umständen gerade jene heiklen Informationen, zu denen ich nur dank den Epps, Treschs und Arnolds im Hintergrund gelangt bin, an meine Kollegen delegieren.
Problematisch kann das verwandtschaftliche Verhältnis auch dann werden, wenn es Quellen zu schützen gilt. So weiss ich, dass man mir schon bewusst heikle Informationen verschwiegen hat, aus Angst, durch das Verwandtschaftsverhältnis mir gegenüber gleich als Quelle entlarvt zu sein. Wie oft wurde mein inzwischen verstorbener Pflegevater schon fälschlicherweise verdächtigt, ich hätte diese oder jene Information in den Zeitungsspalten nur deshalb ausbreiten können, weil er mir die Information gesteckt habe. Und von meinem Bruder weiss ich, dass ich ihn zu gewissen Themen gar nicht fragen muss, weil er mir nichts Brisantes erzählen würde, aus Angst, sofort als Quelle entlarvt zu sein.
Insofern ist mein Nachname und die damit verbundene Verwandtschaft für meinen Arbeitsalltag Fluch und Segen zugleich. Er bringt mich unter Umständen zu Informationen, an die ich als Müller, Meier oder Gerber zwar nicht gekommen wäre. Je nach Gestalt der Information, kann ich als Epp aber nicht darüber schreiben. Oder er verwehrt mir den Zugang zu Informationen oder erschwert den Quellenschutz ungemein.
Inzwischen hat sich ergeben, dass die Kulturschaffende doch nicht meine Cou-Cousine ist. Ob ich mit der anderen Carmen Epp im Kanton Uri, mit der sie mich verwechselt hatte, verwandt bin, weiss ich allerdings nicht. Ein Glück also, dass die Verwandtschaftsverhältnisse nicht immer auf Anhieb klar sind.
Spooky 01. November 2017, 23:54
Super Artikel! Ich spüre den Filz in deinem Kanton hautnah.