von Carmen Epp

Der wertvolle Blick von aussen auf das Lokale

Sie schreibt über den Kanton Uri, wohnt aber in Luzern. Trotz der teilweise kräftezehrenden Pendlerei schätzt unsere Kolumnistin diese Distanz. Denn zu grosse Nähe kann den Blick auf grössere Zusammenhänge verstellen, die mitunter helfen, das Lokale besser zu verstehen.

Die letzten sieben Jahre – mit einem kleinen Unterbruch bei der «Tierwelt» – lag mein Arbeitsmittelpunkt immer im Kanton Uri, meiner Heimat. Die ersten drei Jahre wohnte ich auch noch im Urnerland, bis ich meinen Wohnsitz der Liebe wegen in den Kanton Luzern verlegte. Ich erinnere mich noch an die anfängliche Skepsis von mir und auch meinem damaligen Arbeitgeber: Geht das überhaupt, hier arbeiten und woanders wohnen? Ohne die Antwort darauf zu kennen, beschlossen wir, es zumindest zu probieren. Und es klappte. Ich sehe vieles klarer, als wenn ich die ganze Zeit vor Ort wäre.

Kurze Zeit später erhielt mein Freund, ebenfalls Journalist, ein Stellenangebot der Obwalden-Nidwalden-Zeitung ONZ. Die neu lancierte Lokalzeitung warb mit dem Slogan «Wir von hier» und setzte dies auch bei seinen Angestellten strikt um: So waren die Arbeitsverträge an die Wohnsitzname in einem der beiden Kantone gebunden, so dass wir kurze Zeit später gemeinsam in den Kanton Obwalden umzogen. Hätten wir gewusst, was der ONZ schon bald blühen würde, hätten wir diesen Schritt wohl nicht gemacht. Bereits anderthalb Jahre nach der Gründung vermeldete die ONZ ihr Aus – und wir sassen da, in diesem Obwalden, zu dem wir einzig durch die Arbeitsstelle meines Freundes einen Bezug hatten. Seither haben wir uns geschworen, nie wieder wegen einer Arbeitsstelle den Wohnort zu wechseln, und zogen wieder in den Kanton Luzern.

Klar ist es gerade im Lokaljournalismus von Vorteil, wenn man «eine von hier» ist, sich in der Region auskennt, über die man berichtet. Insofern hatte der Slogan der ONZ und auch die Konsequenz, mit der der Slogan umgesetzt wurde, durchaus seine Berechtigung. Wenn man als Lokaljournalistin dort lebt, wo man auch arbeitet, ist man automatisch näher am Geschehen. Aus der Kombination von Arbeits- und Lebensmittelpunkt entstehen Kontakte, die man beruflich nutzen kann, und man erfährt von Geschichten, die einem aus der Ferne verborgen bleiben.

Das habe ich nach meinem Wegzug aus Uri denn auch schmerzlich erfahren müssen. Während meine Arbeitskollegen nach Feierabend oder am Wochenende im Café in Altdorf noch das eine oder andere für die Zeitung spannende aufgeschnappt haben, war ich nicht mehr in dieses Netzwerk eingebunden. Meine Inputs an den Redaktionssitzungen für mögliche Themen waren nicht mehr dieselben wie zuvor. Es war, als hätte ich den Draht zur Lebenswelt Uri verloren, die sich ausserhalb der Arbeitszeit hier abspielte. Uri war auf einmal nicht mehr so sehr spürbar wie zuvor. Und ich verlor durch die Pendlerei täglich mehr als eine Stunde Freizeit.

Ich habe durch diese räumliche Distanz aber auch dazu gewonnen. Dadurch, dass mein Fokus, der zuvor nur auf Uri lag, ausgeweitet wurde, gewann ich an Gespür für grössere Zusammenhänge und Vergleiche. Themen und Fragen, die in meinem Wohnkanton Obwalden und später Luzern aktuell waren, konnte ich auf Uri anwenden, meinen Heimatkanton so mit anderen Augen kennenlernen. Entsprechend verändert haben sich dann auch meine Inputs an Redaktionssitzungen: von «Ich habe gehört, dass…» zu «Wie ist das eigentlich in Uri mit …?» und «Gibt es hier eigentlich auch …?»

Und schliesslich wandelte sich die anfängliche Befürchtung, am Stammtisch etwas Spannendes zu verpassen, in ein Gefühl der Freiheit, das ich heute nicht mehr missen möchte: die Freiheit, in meinem Lebensumfeld in erster Linie Privatperson zu sein. Wurde ich zuvor, als ich noch in Uri wohnte, ständig und überall auch als Journalistin wahrgenommen, geniesse ich als Exil-Urnerin in meinem Wohnkanton mehr Narrenfreiheit. In Luzern kann ich spazieren gehen, ohne erkannt zu werden, mich im Café an einen Tisch setzen, ohne dass die Tischnachbarn denken, ich würde mithören Die räumliche Trennung von Arbeits- und Lebensmittelpunkt hat also auch eine Nähe aufgebrochen, die gerade im Lokaljournalismus problematisch werden kann – und eine Distanz geschaffen, die ich kreativ nutzen kann.

Leserbeiträge

Erkan Cokicli 23. August 2017, 17:44

Liebe Carmen

Die Vorteile der Distanz und des Perspektivenwechsels, wie auch meines Erachtens der Horizonterweiterung, überwiegen.

Ich wünsche dir bzw. euch alles Gute.

Liebe Grüsse

Erkan