von Thomas Häusermann

The Good, The Bad & The Ugly LII

Tages-Anzeiger, 20 Minuten, Blick

The Good – Würdevoller Nachruf

Die Tat sorgt weit über die Grenzen Zürichs hinaus für Entsetzen. Im Kreis 9, in Albisrieden, wurde am frühen Sonntagmorgen ein Obdachloser ermordet. Von einem 20-Jährigen, der die Tat filmte und auf Snapchat stellte. Es fehlen einem schlichtweg die Worte. Der Autor Kevin Brühlmann findet sie dennoch. Mit seinem im Tages-Anzeiger veröffentlichten «Nachruf auf einen Obdachlosen» ist ihm ein ergreifendes Porträt gelungen.

Brühlmann erzählt unaufgeregt die Geschichte von Ruedi, der einst Jura studiert, dann auf einer Bank gearbeitet hatte und schliesslich auf einer Bank schlief. Ruedi lebte nur vermeintlich am Rande der Gesellschaft. Für viele Mitmenschen war er ein wichtiger Pfeiler im Alltag. Eine Konstante, die immer da war, stets ein offenes Ohr hatte. Und am Ende von Brühlmanns exzellentem Werk wird klar, dass Ruedi überhaupt nicht zu den Schwächsten der Gesellschaft gehörte. Ruedi war stark. Er hatte es nicht nötig, sich über andere Menschen zu stellen. Er war bescheiden und gütig. Übernahm Verantwortung für sich und sein Leben. Und behielt dabei stets seine Würde.

The Bad – Clickbaiting in gedruckter Form

«Die Story ist in Tat und Wahrheit gar keine. Sie ist Bullshit; hingekackt, um Aufmerksamkeit zu erhaschen.» Medienwissenschaftler Marko Ković kritisierte in seinem Gastartikel die Medien und insbesondere «20 Minuten» harsch. Der Vorwurf: Den Klicks und der Quote zuliebe würden die Medien die Deutungshoheit im Corona-Diskurs an eine kleine, extremistische Minderheit übergeben, weil solche Geschichten viel Aufmerksamkeit erregten. «Kein Protest zu klein, kein Telegram-Chat zu unbedeutend, um daraus nicht eine Story für die Frontseite zu basteln», schreibt er. In einer Replik nahm darauf hin Chefredaktor Gaudenz Looser Stellung zu den Vorwürfen: «Herr Kovic, um die Klicks müssen wir uns keine Sorgen machen», entgegnet er unter anderem. Die Frontseite der gedruckten Ausgabe am Freitag zeigte denn auch, wieso.

«Ungeimpften droht in Quarantäne Lohnabzug», steht da in grossen Lettern auf der Frontseite. Huch? Werden Ungeimpfte nun von den Arbeitgebern mit Lohnkürzungen bestraft? Bekanntlich lesen viele Menschen nur noch die Titel. Das ist schade, sonst würden sie erfahren, dass nicht von der Schweiz, sondern von Deutschland die Rede ist. Wer in Quarantäne muss, soll dort ab November keine staatlichen Ersatzleistungen mehr erhalten. In der Schweiz steht eine ähnliche Regelung aktuell nicht bevor. Viel Titel-Lärm um nichts also. Oder: Clickbaiting in Papierform.

The Ugly – Anonymisieren für Anfänger

Im aargauischen Brugg kommt ein Gewaltverbrechen gegen ein Kind vor Gericht. «Blick.ch» ruft die 2019 begangene Tat nochmals in Erinnerung: Der «Horror-Vater» habe seine damals vierjährige Tochter «brutal auf den Boden gedonnert». Die Folge: Schädelbruch. Für das heute sechsjährige Mädchen eine einzige Tragödie. Gut, ist zumindest seine Identität durch die «News-Richtlinien» der «Blick»-Gruppe geschützt. Oder? «Punkt 4: Der Schutz der Opfer geniesst höchste Priorität. Wir anonymisieren so, dass niemand durch auf deren Identität schliessen kann.»

Der am 22. September 2021 publizierte Artikel anonymisierte beim Opfer indes nicht viel. Das Mädchen war auf mehreren Bildern unzensiert zu sehen – unter anderem, wie es mit Kopfverband im Spitalbett liegt. Der Artikel nennt zudem den richtigen, einen hierzulande seltenen Vornamen. Eine Testrecherche zeigt: Der mutmassliche Familienname lässt sich damit innert Sekunden ergoogeln.

Ein «Blick»-Sprecher rechtfertigt die Publikation gegenüber der MEDIENWOCHE damit, dass sowohl Mutter wie auch Grossmutter bereits nach dem Vorfall 2019 die Erlaubnis erteilt hätten, das Mädchen unverpixelt zu zeigen und ihren Namen zu nennen. Die Erlaubnis für die erneute Publikation im September 2021 habe man aber nicht eingeholt und deshalb nachträglich entschieden, Fotos und Namen wieder dem bereits veröffentlichten Artikel zu entfernen. Vielleicht wäre es im Sinne der Opfer, diese Überlegungen das nächste Mal bereits vor der Publikation anzustellen.