von Nick Lüthi

Neues Berner Modell: künstliche Vielfalt nach dem unsichtbaren Abbau

Seit bald einem halben Jahr beschäftigt Tamedia in Bern nur noch eine einzige Redaktion für ihre beiden lokalen Tageszeitungen. Und die setzt alles daran, dass die Leserschaft vom Abbau nichts merkt. Das gelingt bisher ganz gut.

Die Aufregung hat sich längst wieder gelegt, deklarierte Protestkündigungen liessen sich an einer Hand abzählen. Im vergangenen Oktober hatte Tamedia die Lokalredaktionen seiner Berner Tageszeitungen «Bund» und «Berner Zeitung» zusammengelegt. Die übrigen Inhalte stammten bereits davor aus der gleichen Küche. Kritische Stimmen sprachen von «Einheitsbrei», der nun serviert würde.

Der Stammgast soll nicht merken, dass die gleiche Küche mal das eine und dann wieder das andere Restaurant beliefert.

Seit bald einem halben Jahr lässt sich tagtäglich auf Papier und Minute für Minute online beurteilen, wie das neue lokale Medienangebot aus dem Hause Tamedia schmeckt. Um es vorweg zu nehmen: Einheitsbrei ist es nicht. Man könnte von einer grossen Produktionsküche sprechen, die zwei unterschiedlich positionierte, aber beides gutbürgerliche Restaurants im gleichen Preissegment beliefert. Der Stammgast soll nicht merken, dass die gleiche Küche mal das eine und dann wieder das andere Restaurant beliefert. Um den Schein der Unabhängigkeit zu wahren, steht den beiden Etablissements je ein Wirt, respektive eine Wirtin vor.

Genauso läuft es bei «Bund» und «Berner Zeitung» BZ. Wer die gedruckten Ausgaben der beiden Zeitungen nebeneinander legt, sieht in der Regel zwei grundverschiedene Titelseiten, die sich an der DNA der beiden Blätter orientieren. «Das Lokale zuerst» gilt bei der BZ, internationales und nationales Geschehen dominiert die Front beim «Bund». Auch das Blattinnere unterscheidet sich entlang dieser Maximen – zumindest auf den ersten Blick. Der zweite Blick zeigt dann aber die grosse Anzahl identischer Artikel, der Unterschied liegt vor allem in der Anordnung.

Als Abonnent von einem der beiden Titel kriegt man davon nichts mit. Das Leibblatt kommt weitgehend unverändert daher, seit Tamedia am 20. Oktober 2021 die Redaktionen zusammengelegt hat. Das war auch das Ziel der Sparmassnahme: Der Abbau sollte möglichst unsichtbar erfolgen. Entsprechend zurückhaltend informierte der Verlag. Nur keine unnötige Aufregung. Natürlich gibt es keinen Abbau ohne Verlust. Den bemerken aber nur die Doppelleser:innen, von denen es sowieso fast keine mehr gibt, weil «Bund» und BZ schon bisher über weite Strecken das Gleiche angeboten und sich nur noch in der Lokalberichterstattung unterschieden hatten.

«Wir versuchen aus der gleichen Redaktion heraus unterschiedliche Kanalfeelings auszuspielen.»
Simon Bärtschi, Chefredaktor BZ/«Bund»

Damit die bisherigen Leserschaften der beiden Zeitungen bei der Stange gehalten und neue Abonnent:innen gewonnen werden können, investiert die neue Einheitsredaktion viel in die Pflege der beiden Medienmarken. «Wir versuchen aus der gleichen Redaktion heraus unterschiedliche Kanalfeelings auszuspielen», sagt Chefredaktor Simon Bärtschi im Gespräch mit der MEDIENWOCHE.

Neben der unterschiedlichen Priorisierung und Positionierung identischer Artikel platziert die Redaktion weiterhin exklusive Inhalte in den beiden Titeln. So führt die BZ ein Ressort für den Regionalsport, das nur bei ihr erscheint. Der «Bund» seinerseits greift in der Auslandberichterstattung regelmässig auf Artikel aus der «Süddeutschen Zeitung» zurück, die nicht in der BZ zu lesen sind. Auch ihre Kolumnen führen die Zeitungen weiterhin je separat. Ausserdem schreibt Chefredaktor Simon Bärtschi, der vor der Fusion bereits die BZ geleitet hatte, weiterhin exklusiv für die BZ. Und wenn im Sommer Isabelle Jacobi, die jetzt noch für Radio SRF aus den USA berichtet, die Stelle als «Bund»-Chefredaktorin antritt, wird auch sie ausschliesslich für ihr Blatt schreiben.

Auch auf der Redaktion gelangt man zur Einschätzung, dass die Fusion für die Leserschaft insgesamt ein Gewinn sei.

Das Bemühen, trotz Einheitsredaktion die Identität der beiden Titel zu erhalten, zahlt sich aus. Die Qualität der Berichterstattung hat nicht gelitten. Im Gegenteil. BZ-Abonnent:innen können nun auch ehemalige «Bund»-Autor:innen lesen – und umgekehrt. «Bund»-Abonnent:innen profitieren zudem von der regional breiteren Berichterstattung der früheren BZ-Ressorts, die nun auch für das ehemalige Konkurrenzblatt berichten. Selbst kritischen Beobachter:innen fällt auf Anhieb nichts Negatives ein zur neuen Tamedia-Formel auf dem Platz Bern. Und auch auf der Redaktion gelangt man zur Einschätzung, dass die Fusion für die Leserschaft insgesamt ein Gewinn sei.

Defizite sieht Bärtschi bei der Abdeckung gewisser Gemeinden in der weiteren Agglomeration Bern. «Da müssen wir noch stärker werden, weil das auch von uns erwartet wird», sagt der Chefredaktor von «Bund» und BZ. Die Herausforderung für die Redaktion besteht darin, weiterhin möglichst viele Gemeinden in der Berichterstattung zu berücksichtigen, auch wenn Gemeindeversammlungen und Ladeneröffnungen allein keinen unmittelbaren Anlass für einen Artikel geben. «Unser Ansatz ist es, beispielhaft über Vorgänge zu berichten, die nicht nur eine einzelne Gemeinde betreffen», erklärt Bärtschi.

Dieses Prinzip gilt generell für die lokale und regionale Berichterstattung von «Bund» und BZ. Für manche Redaktor:innen bedeutet das eine Umstellung. Sie müssen sich zuerst an das langsamere Tempo gewöhnen. Sie können nicht mehr jede News «raushauen», die sie gerade aufgeschnappt haben.

Diese Annäherung an den Magazinjournalismus bietet auch den Vorteil, dass die Redaktion vermehrt eigene Schwerpunkte setzen kann, weil sie nicht mehr Termine aus der Agenda abarbeiten muss. «Wir schaffen es, auch kurzfristig Ressourcen freizuspielen für etwas aufwändigere Recherchen», weiss Chefredaktor Bärtschi. So wie kürzlich, als bekannt wurde, dass die bernischen Behörden die Wohnung eines in der EU sanktionieren russischen Oligarchen blockierten. Da schickte die Redaktion einen Reporter ins Berner Oberland, der dann vor Ort einen Tag lang dem Thema nachgehen konnte.

Auch wenn sich der Abbau gut kaschieren lässt, bleibt er eben ein Abbau.

In der Zürcher Tamedia-Zentrale zeigt man sich angetan vom neuen Berner Modell. Co-Chef Marco Boselli sagte dazu anlässlich der Bilanzmedienkonferenz vom 10. März 2022: «Gerade in Bern zeigen wir, dass wir eben auch mit einer einheitlichen Redaktion die journalistische Schlagkraft erhöhen konnten.» Der Preis, den die Öffentlichkeit dafür zahlt, erwähnte Boselli natürlich nicht. Die neue «Schlagkraft» gibt es nur auf Kosten der Meinungsvielfalt, mit der die vormals getrennten Lokalredaktionen von «Bund» und BZ («Berner Modell») die politische Diskussion in der Bundesstadt bereichert hatten. Auch wenn sich der Abbau gut kaschieren lässt, bleibt er eben ein Abbau.

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Geschäftlich scheint die Rechnung aufzugehen. «Wir wachsen digital und ich gehe davon aus, dass die Abos aus allen Ecken des Kantons stammen», sagt Simon Bärtschi. «Beim Print können wir auf eine treue Leserschaft zählen, die wir möglichst zu halten versuchen.» Für das vergangene Jahr vermeldet Tamedia einen deutlichen Anstieg auf inzwischen 147’000 Digitalabos. Das seien alles «neue Kunden, nicht irgendwelche Print-Abonnenten», betonte Tamedia-Co-Chef Marco Boselli an der Bilanzmedienkonferenz. Die Zahlen von «Bund» und BZ veröffentlicht Tamedia nicht.

Wie lange sich die neue Einheitsredaktion in ihrer gegenwärtigen Struktur halten kann, weiss niemand. Mit 50 Vollzeitstellen, verteilt auf 70 Personen, besteht auch für die Zukunft Abbaupotenzial. Zum aktuellen Tamedia-Sparprogramm habe Bern mit der Redaktionsfusion seinen Teil beigetragen. Obwohl erst 40 Prozent der angestrebten 70 Millionen Franken eingespart wurden, blieben «Bund» und BZ von weiteren Eingriffen verschont, versicherten die Verantwortlichen kürzlich dem Personal.