Gibt es ein Recht auf kritische Berichterstattung?
Wirtschaftlicher Druck stellt die Unabhängigkeit des Journalismus in Frage, Werbekunden werden mit Samthandschuhen angefasst und in der Berichterstattung geschont. Wie können sich Journalistinnen und Journalisten dem Kuschelkurs von Verlegern und Chefredaktoren widersetzen? Ein Blick ins Arbeitsrecht zeigt, dass ein Gesamtarbeitsvertrag, wie es ihn in der Westschweiz und für die SRG gibt, die unabhängige und kritische Berichterstattung stärken kann.
Die Medien geniessen das Privileg der Medien- und Pressefreiheit. Diese Freiheit hat jedoch ihren Preis. Wenn sich der Staat aus den Medien heraushalten soll, dann müssen sie selbst beweisen, dass sie ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllen und sich selbst kontrollieren können. Die jüngste Debatte um den Einfluss von Werbekunden auf die Berichterstattung zeigt, dass die Selbstkontrolle offenbar nicht ausreicht.
Zwar hat der von den Verlegern Markus Somm und Hanspeter Lebrument eingestandene Kuschelkurs mit Werbekunden in der schweizerischen Medienbranche für einige Empörung gesorgt. Doch der Schweizer Pressekodex setzt dem nur sehr wenig entgegen. Zugleich zieht der Kodex in allen Belangen vor allem die Journalistinnen und Journalisten zur Verantwortung. Neben den Pflichten werden ihnen aber kaum Rechte eingeräumt (die MEDIENWOCHE berichtete), etwa ein Recht auf kritische Berichterstattung gegen die wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers. Umso wichtiger sind deshalb die Möglichkeiten, die das Arbeitsrecht bietet. Können Journalistinnen und Journalisten auf Basis des Arbeitsrechts darauf bestehen, einen kritischen Bericht über Werbekunden zu veröffentlichen?
Der Grossteil der Schweizer Journalistinnen und Journalisten untersteht aktuell ausschliesslich dem allgemeinen Arbeitsvertragsrecht, welches im Schweizerischen Obligationenrecht (OR) geregelt ist (Art. 319-362), nicht aber weiteren Regelungen, wie etwa Gesamtarbeitsverträgen. Im OR ist festgelegt, dass Arbeitgeber, hier also Verlegerinnen und Programmdirektoren, «über die Ausführung der Arbeit und das Verhalten der Arbeitnehmer […] allgemeine Anordnungen erlassen und ihnen besondere Weisungen erteilen» können (Art. 321d Abs. 1 OR). Diese sind von den Arbeitnehmerinnen, den Journalistinnen und Journalisten zu befolgen (Art. 321d Abs. 2 OR).
Wie viel Bedeutung Verleger und SRG der Weisungsbefugnis beimessen, zeigt sich auch in den Protokollerklärungen zum Schweizer Pressekodex (betreffend Präambel, Abschnitt 3). Diese weisen explizit auf die zentrale Stellung der «arbeitsrechtlichen Kompetenzordnung» hin. Die im Pressekodex festgehaltene «Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit» (Präambel) wird dadurch deutlich eingeschränkt. Folgt man den Protokollerklärungen und dem derzeitigen Arbeitsrecht, so sind Journalisten und Journalistinnen in erster Linie ihren Arbeitgebern verpflichtet, und erst in zweiter Linie der Öffentlichkeit und deren Anspruch auf eine umfassende und kritische Berichterstattung.
Neben den allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen im OR sind Kollektivarbeitsverträge, sogenannte Gesamtarbeitsverträge (GAV), vorgesehen (Art. 356-358 OR). Solche kollektiven Arbeitsverträge gelten momentan für die Journalistinnen und Journalisten in der Westschweiz (Convention Collective de Travail, CCT) und die Mitarbeitenden der SRG (GAV SRG). Für alle anderen Beschäftigten in der Deutschschweiz und im Tessin wird aktuell um einen neuen GAV gerungen, nachdem der letzte im Jahr 2004 ausgelaufen war und keine Verlängerung erreicht werden konnte.
Gesamtarbeitsverträge regeln zwar in erster Linie tarifrechtliche Fragen, vor allem Löhne, Arbeitszeiten, Kündigungsschutz und Ferienansprüche. Dies sind auch die Hauptziele der derzeitigen Kampagne des Berufsverbandes «Impressum» und der Gewerkschaft «Syndicom». Darüber hinaus können GAV aber «auch andere Bestimmungen enthalten, soweit sie das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern betreffen» (Art. 356 I/1 Absatz 2 OR).
Die Westschweizer CCT macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Neben den tarifrechtlichen Vereinbarungen wird zusätzlich das Urheberrecht von Journalistinnen und Journalisten behandelt. Sie dürfen demnach ihre eigenen Arbeiten zusätzlich auf einer eigenen Website oder einem Blog veröffentlichen (Art. 23 Ziffer 4 CCT). Unserer Befragung zufolge wird diese Möglichkeit bisher aber nur von wenigen Journalistinnen und Journalisten der Westschweizer Privatmedien genutzt. Rund 80 Prozent dieser Befragten sagten, dass sie besonders wichtige Themen, die von der Redaktion abgelehnt wurden, nie oder nur in seltenen Fällen in einem eigenen Blog oder in einem anderen Nachrichtenmedium veröffentlicht haben.
Weiterhin können Journalistinnen und Journalisten die Nutzung eines Beitrags komplett verweigern, wenn Gründe beigebracht werden: «Ein Mitarbeiter kann eine Nutzung ablehnen, von der er glaubhaft macht, dass sie seine Rechte beeinträchtigt, insbesondere wenn sie die Berufsethik betreffen.» (Art. 23 Ziffer 5 CCT) Konkret könnte also ein Journalist die Publikation seines Artikels verweigern, wenn er von Chefredaktion oder Verlag angehalten worden wäre, seine Kritik an einem Werbekunden abzuschwächen oder entsprechende Passagen zu streichen.
Dem Berufsverband «Impressum» sind bisher keine Fälle bekannt, wo diese Regelung zur Anwendung gekommen ist. Journalistinnen und Journalisten der Westschweiz können sich aber auf diesen Artikel berufen und müssen dabei keine Folgen hinsichtlich ihrer Anstellung befürchten. Sollte ein Chefredaktor oder Verleger dennoch durchgreifen oder mit Konsequenzen drohen, würde «Impressum» die Journalistinnen und Journalisten «natürlich unterstützen», so Janine Teissl, Zentralsekretärin des Verbands.
In diesem Zusammenhang ist auch Art. 9 CCT von Bedeutung. Demnach kann ein Journalist «nicht dazu angehalten werden, mit seiner Unterschrift eine Meinung zu publizieren, die seiner Überzeugung widerspricht», womit ein im Pressekodex verankertes Recht bekräftigt wird. Demnach dürfen Journalisten und Journalistinnen «nicht veranlasst werden, beruflich etwas zu tun oder zu äussern, was den Berufsgrundsätzen oder ihrem Gewissen widerspricht» (Rechte, Punkt b).
Dieser «Gesinnungsschutz», wie ihn der Medienrechtler Peter Studer nennt, «scheint sich jedoch bereits aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu ergeben» (in: Freimut Duve, Michael Haller (Hg.) Leitbild Unabhängigkeit). Die Verankerung derartiger Rechte in einem Gesamtarbeitsvertrag ist aber trotzdem sinnvoll. Denn der Presserat hat sich – trotz der im Pressekodex festgehaltenen Rechte – bereits mehrfach für arbeits- und urheberrechtliche Auseinandersetzungen für nicht zuständig erklärt (Stellungnahmen Nr. 50/2010; 51/2011; Nr. 38/2012). In diesen Fällen ging es um die Frage, wie Beiträge von freien Mitarbeitern bezahlt werden und ob ihnen die urheberrechtlichen Nutzungsrechte abgesprochen werden dürfen. Der Presserat machte in allen Fällen klar, dass er «sich nur dann zu redaktionsinternen Vorgängen [äussere], wenn ein direkter Zusammenhang zwischen Beschwerdegegenstand und publizistischer Tätigkeit bestehe» (Nr. 38/2012). Auf Basis der bisherigen Spruchpraxis ist unklar, wann der Presserat einen direkten Zusammenhang mit der publizistischen Tätigkeit erfüllt sieht.
Solange sich der Presserat bei der Durchsetzung der formulierten Rechte zurückhält, ist es umso wichtiger, dass die Gesamtarbeitsverträge neben tarifrechtlichen Regelungen auch weitere Rechte enthalten. Diese Rechte können jedoch nur dann Wirkung entfalten, wenn Journalistinnen und Journalisten sie kennen und in Anspruch nehmen.
Die Verleger haben auf dem letzten Jahreskongress signalisiert, die Verhandlungen zu einem GAV für die gesamte Schweiz wieder aufnehmen zu wollen. Derzeit können Journalistinnen und Journalisten in einer Umfrage von «Impressum» und Syndicom sagen, welche Regelungen in einen künftigen GAV aufgenommen werden sollten. Fragen zur journalistischen Unabhängigkeit und zum Urheberrecht werden hier zwar nur in aller Kürze gestellt. Jedoch können offene Antwortfelder genutzt werden, um auf Probleme und notwendige Regelungen hinzuweisen.
Stephanie Vonarburg 11. Mai 2016, 19:36
Ein GAV enthält tatsächlich auch wichtige Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Redaktion und Verlag. Der GAV 2000 für die Deutschschweiz und das Tessin, der bis 2004 in Kraft war, enthielt bestimmte Rechte, welche die Unabhängigkeit der RedaktorInnen einzeln und der Redaktionen als Kollektiv sicherten: Journalistische Freiheit, Kostendeckung bei Prozessen gegen Medienschaffende, Trennung von redaktionellem und kommerziellem Teil, Entscheid über das Redaktionsstatut, umfassende Informationsrechte der Redaktion usw.
Klar, und das wird im Artikel richtigerweise festgehalten, dass solche Rechte auch in Anspruch genommen werden müssen, damit sie nicht toter Buchstabe werden.
Hans Meier 11. Mai 2016, 19:46
Gibt es ein Recht auf kritische Berichterstattung?
Die Frage kann wohl nur rhetorisch gemeint sein!
Es ist ein Menschenrecht umfassend und wahrheitsgemäß informiert zu werden, alle anderen Aspekte müssen sich dem Menschenrecht unterordnen. Der Mensch steht über dem Staat und den Firmen.
Wahrheit ist Menschenrecht, es ist aber kein Menschenrecht zu Lügen!
Ueli Custer 23. Mai 2016, 16:56
Die Wahrheit ist nicht immer so eindeutig, wie uns das Hans Meier glaubhaft machen will. Das ist nur bei ganz einfachen Sachverhalten klar. Ist die Materie komplex kann es durchaus auch verschiedene Wahrheiten geben. Vielfach ist es auch entscheidend, was man weg lässt und was nicht.