von Nick Lüthi

Zeigt her eure Zahlen

Ein Trend geht um: Der Datenjournalismus. Allmählich entdecken Medien die Möglichkeiten der Infografik im Netz. Der Guardian in London, ein Pionier dieser neuen journalistischen Disziplin, beschäftigt ein eigenes Ressort mit der Datenaufbereitung und -darstellung. Auch andernorts setzt man auf animierte Webgrafiken zur Visualisierung zahlenbasierter Zusammenhänge; etwa das ZDF mit dem Arbeitsmarkt Scanner oder die Zeit mit der Visualisierung von Handy-Verbindungsdaten. In der Schweiz hat die NZZ erste Gehversuche unternommen mit einer interaktiven Karte zum Wachstum der Siedlungsfläche im Mittelland.
Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt Joseph Dreier was Datenjournalismus leisten kann und soll und wo seine Grenzen liegen. Dreier arbeitet als Informationsdesigner, er ist Mitglied der Society for News Design und leitet an der Journalistenschule MAZ Kurse in Datenjournalismus und Dataminig.


Medienwoche: Weshalb erlebt der Datenjournalismus ausgerechnet jetzt eine Blüte?
Joseph Dreier: Weil immer mehr Daten zur freien Nutzung und Bearbeitung online zur Verfügung stehen. Genauso wie die dafür erforderliche Software. Aber so neu ist das alles eigentlich gar nicht. Beim Datenjournalismus handelt es sich um die logische Fortsetzung der Infografik im Web. Auch Datamining gibt es schon lange. Bisher war es aber der Wissenschaft – Soziologen, Psychologen, Ökonomen – vorbehalten, grosse Datensätze auszuwerten und zu interpretieren. Allmählich beginnt sich diese Arbeitsmethode auch in den Medien zu etablieren.

Welche Rolle spielten die Veröffentlichungen von Wikileaks für den Datenjournalismus?
Ich würde das nicht überbewerten. Wikileaks trug seinen Teil dazu bei, indem auf einen Schlag grosse Datenmengen öffentlich verfügbar waren, die bearbeitet werden konnten. Wichtiger erscheinen mir die neuerdings verfügbaren umfangreichen Datensätze von Behörden, Universitäten und anderen öffentlichen Institutionen, die gerne unter dem Schlagwort Open Data zusammengefasst werden.

Wo liegen die Anfänge des Datenjournalismus?
Das begann meiner Ansicht nach vor rund zehn Jahren mit der Aufbereitung und Darstellung von Wahlergebnissen. Schon damals haben Medien Karten ins Netz gestellt, wo Resultate interaktiv abgefragt werden konnten. Daher sehe ich den heutigen Datenjournalismus lediglich als einen neuen Begriff für bestimmte Darstellungsformen von Information, die es in ähnlicher Form früher schon gab. Aber auch der gedruckten Infografik liegt letzlich Datenjournalismus zugrunde. Damals wie heute geht es darum, Zahlen und Daten grafisch umzusetzen. Animation und Interaktivität machen den Unterschied zwischen Papier und Web aus. Man kann heute einfach mehr rausholen, weil es im Netz zusätzliche Darstellungsformen gibt.

Datenjournalismus sollte der einfacheren und transparenteren Vermittlung von Fakten dienen. Versteht das Publikum die neue Sprache?
Ich denke sehr wohl, dass damit einem Bedürfnis entsprochen wird. Wenn man sieht, wie unattraktiv früher Daten und Zahlen dargestellt wurden, sei es mit Tabellen oder im Text eingebaut, dann sehen wir heute einen klaren Fortschritt, der vom Publikum honoriert wird.

Das Publikum soll nicht nur bunte Grafiken anschauen, sondern sich selbst einbringen. In welchem Mass ist das sinnvoll?
Das betrachte ich eher als Spielerei. Das Publikum kann sich an der Recherche beteiligen. Das ist interessant, weil eine Redaktion damit das Feld erweitern kann. Bei der Umsetzung und der Darstellung der Ergebnisse sehe ich aber kaum Möglichkeiten, wie sich das Publikum einbringen kann. Es braucht diese redaktionelle Schleuse, wo die Daten zusammengefasst, interpretiert und veranschaulicht werden.

Wie lässt sich das Risiko des Datenpopulismus, der unzulässigen Verkürzung von Fakten, vermeiden?
Wichtigstes Prinzip ist die Transparenz: Wie sind die Zahlen zustande gekommen, aus welchen Quellen stammen sie, wie ist die Darstellung zustande gekommen? Ganz normale journalistische Fragestellungen. Besondere Vorsicht ist angezeigt, wenn es um die Zukunft geht. Da muss man klar kennzeichnen, dass das keine gesicherten Daten sind, sondern Prognosen, Hochrechnungen und manchmal auch nur Mutmassungen.

Der Datenjournalismus im Netz ist ein junges Genre. Was sind die grössten Fehler und Mängel, die Sie beobachten?
Schlechte Darstellungen entstehen oft, wenn Printgrafiken eins zu eins online übernommen werden. Öfters beobachte ich auch, dass Inhalt und grafische Mittel nicht miteinander korrespondieren und die Darstellung dadurch unübersichtlich wird. Sodann halte ich auch Relevanz beim Datenjournalismus für ein entscheidendes Kriterium. Wenig ergiebig war in diesem Zusammenhang jüngst die Behandlung von The Royal Wedding in London. Alles, was man auf vielen Grafiken sah, war die Sitzordnung in der Westminster Abbey; oder der Weg zum Buckingham Palace. Das kann ich auch auf Google Maps nachschauen.

Wie werde ich Datenjournalist?
Den Beruf des Datenjournalisten gibt es nicht. Das ist immer Teamwork. Datenjournalismus erfordert Rechercheure, die eine Geschichte ausgraben. Für das Storytelling braucht es Journalisten. Denn auch am Anfang eines datenjournalistischen Prozesses stehen die Fragen: Welche Geschichte will ich erzählen und welche Aussage will ich mit den Zahlen machen? Bei der Umsetzung kommen dann Grafiker und Webdesigner zum Zug, die ein Auge haben für die visuelle Inszenierung einer Geschichte. Für die Aufbereitung der Daten sind Programmierer und teilweise auch Mathematiker zuständig.

Sie unterrichten Datenjournalismus am MAZ, der Schweizer Journalistenschule. Was kann der Einzelne lernen, wenn Datenjournalismus immer im Team entsteht?
Der schreibende Redaktor soll sich Grundbegriffe der Grafik und des Webdesigns aneignen. Zum anderen müssen Grafiker und Webdesigner journalistische Grundbegriffe lernen, wie man eine Geschichte erzählt und Sachverhalte auf den Punkt bringt. Für beide Seiten ist es sinnvoll und wichtig, sich für den anderen Bereich zu öffnen und zu interessieren. Ich versuche einen Überblick zu geben über gute und schlechte Beispiele aus der aktuellen internationalen Medienlandschaft. Gemeinsam erarbeiten wir Kriterien der Beurteilung und diskutieren verschiedene Webtools und spezielle Software für die Datenaufbereitung und -präsentation. In kleinen Übungen geht es um erste Schritte in der Praxis.

Wie wird sich der Datenjournalismus weiterentwickeln?
Momentan wird noch viel Buntes gezeigt. Mit der Zeit wird sich der Datenjournalismus konsolidieren und zu einer klareren grafischen Sprache finden. Das ging auch bei der gedruckten Infografik so. Im Kern wird es immer darum gehen, wie ich meine Story so erzählen kann, damit sie von den Betrachtern schnell erfasst und verstanden werden kann. Womit auch klar ist, dass der Journalismus nicht ausstirbt. Denn gerade bei der Aufbereitung von riesigen Datenmengen braucht es professionelle Journalisten mehr denn je.